Kaiserslautern. Ein Bedarfshalt

Der spitze Schatten im letzten Drittel der Bahn muss von einem Nadelbaum geworfen werden. Kurz einatmen, langsam ausatmen. Die Bedeutung dieser mechanischen Anweisung hat sich zum Glück gewandelt. Als leidendes Kind in Weimar zu oft gehört. Jetzt nur noch ein Takt und später eine Medizin. Es muss lang her sein, als das Becken leer war, denn damals besaß ich noch so etwas wie einen besten Freund und wir liefen über ein nahe gelegenes Feld, auf das der Herbst einen Sandteufel gezaubert hatte. Mehr Gedankentiefe lässt sich nicht aufbringen ohne aus dem Rhythmus zu kommen. Ich kann nur abwarten, ehe ich sicher weiß, ob ich die Frau mit den kurzen Haaren und breitem Lächeln wirklich kenne. Die Szene kommt mir jetzt schon wie Scrooge und Goldie vor. Insbesondere, weil ich seit letztem Winter überwiegend in Isolation lebe. Meine Krankheit hatte mich an einem November-Wochenende auf Dienstreise eingeholt. Prioritäten haben sich verschoben. Aber ich habe mich mit dem einzeiligen Wunschzettel erstaunlich arrangiert. Als Ypsiloner darf, nein, muss man sich auch noch mit 30 verändern. Das Verständnis von Introversion hat mich zuletzt am meisten geprägt. Es gibt weniger zu sagen, weil man endlich sicher ist, dass die Zeit alle Emotionen bügelt. Irgendwann schwinden auch die letzten Baustellen verunglückter Liebe. Jede tiefsinnige Konversation löst sich auf, sobald Rechthaben wollen einen nichts mehr bedeutet. Jeder Kuss reiht sich ein. Glück ist Scheinglück und Scheinglück ist Glück. Einatmen, Brille absetzen. Goldie schwimmt.


Flashbacks dieser Art mogeln sich ab und an in die Meditation. Der Sommer ist jetzt so fern, dass ich gar nicht mehr weiß, wie sich barfuß anfühlt. Das achtsame Atmen hat mich inzwischen geheilt und es wurde Zeit das Paradies gegen eine halbe Keksrolle einzutauschen. Ein künstlicher Mangel wie Veganismus, der hilfreich ist, wenn man im Überfluss aufwuchs. Der Berg ist nämlich immer nur so hoch, wie das Tal tief war. Das reduziert mich nun auf meine wissenschaftliche Arbeit, die in weiten Teilen von Exaktheit lebt. Ich verunmenschliche, weil doch der Fehler das menschlichste aller Merkmale ist. Empathie entbehrt Logik. Schon als Jugendlicher hat mich dieses Stereotyp der Mathematik rebellieren lassen. Ich habe Matheolympiaden gecancelt und die Einladung ins Spezialinternat ausgeschlagen. Gerade noch rechtzeitig, bevor ich mich zum ersten Mal verliebte. Ich habe mich vor Konfirmation, Jugendweihe und dergleichen gedrückt. Musste lügen, um dabei nicht aufzufallen. Ich habe ein gesellschaftlich angesehenes Hobby zu Gunsten einer zehn Jahre währenden Sucht nach Skateboard aufgegeben. Das kreative Streben nach Balance hat mich nie losgelassen. Ich glaubte nicht eher an die Wahrheit, bis ich alle Fehler selbst begangen hatte. Der Beginn des Informatikstudiums war einer davon. Ich wollte nie irgendwas werden, sondern immer nur sein. Es ist ein steiniger Weg, ehe man fürs Anderssein bezahlt wird. Wenn es etwas gibt, was ich wirklich im Leben erreicht habe, dann ist es reale Freiheit. Thron über Konvention.

(Oktober 2015)