Ein wichtiges Element oder Charakteristikum des Martin Rainer Preises ist, dass wir jede Ausgabe unter ein neues Motto stellen. Wir suchen also im Vorfeld nach Dingen, die dem Wesen des Kunstschaffens unseres Vaters eigen sind. Diese Dinge, diese Eigenschaften wollen wir dann in weiterer Folge in den Einreichungen der Bewerberinnen und Bewerber wiederfinden.
Mit der Auseinandersetzung mit Raum war es in der ersten Ausgabe ein stark formales, bildhauerisch-architektonisches Kriterium.
Heuer haben wir den Übergang ins Zentrum gestellt und betonen damit stärker eine zeitliche Komponente. Als Übergang haben wir den Moment gesehen, der zwischen zwei Zuständen steht; der Moment, der nicht mehr das eine und noch nicht das andere ist. Dieser Moment hat mit Unbestimmtheit zu tun, auch mit Unentschlossenheit – Unentschlossenheit aber nicht im negativen, sondern im wörtlichen Sinn: Es ist noch nicht entschlossen, was als nächstes passieren wird.
In der Kunst Martin Rainers finden wir solche Momente immer wieder, vor allem in seinen späteren Arbeiten. Ich denke da an den Fliegenden von 2003, den Geraden von 2006, Regina von 2007 oder dem Mann mit Stock von 2010.
Bei all diesen Figuren ist ein Moment eingefangen, bei dem ungewiss ist, was vorher war und was nachher kommen wird.
Wenn wir die Arbeiten anschauen, meinen wir zwar, dass etwas passieren wird; wir ahnen, dass schon etwas war; wir können aber beides – das Vorher und das Nachher – nicht wirklich erkennen. Und die Figuren selber scheinen in einem Zwischenstadium, in einem Schwebezustand zu sein.
Das liegt vielleicht auch daran, dass diese Figuren auf formaler Ebene etwas sehr Eigenartiges machen: sie bewegen sich gleichzeitig in mehrere Richtungen, sowohl räumlich als auch zeitlich. Je nachdem, worauf man gerade seinen Blick richtet.
Der Fliegende ist in einer bizarren Drehbewegung festgehalten. Kopf, Oberkörper, Beine und Füße, alles will in eine andere Richtung. Man weiß auch nicht genau, ob er sich vom Boden abheben will oder doch lieber fest verankert bleiben wird.
Wenn man den Geraden länger anschaut, hat man einen ähnlichen Eindruck, wenn auch auf andere Weise. Mit ganz kleinen Gesten – erzählerisch und formal – baut er eine unheimliche Spannung auf. Diese Spannung sieht man ihm an. Man hat das Gefühl, es sammelt sich gerade etwas, es passiert gleich was; er hat tief Luft geholt, hält die Luft an, bevor es weitergeht. Man schaut ihn an und will selber die Luft anhalten.
Regina tastet sich blind in die Dunkelheit. Wir ahnen die Unsicherheit des nächsten Schrittes; wissen aber gar nicht, ob sie diesen machen wird oder nicht. Und wenn sie ihn macht, wissen wir nicht wohin. Es schaut so aus, als wären noch alle Richtungen möglich, als hätten sich viele Körperteile – jedes für sich – schon entschieden, die Gesamtheit aber noch nicht. Als wären sich Geist und Körper noch uneinig.
Das sind alles Momente, in denen sich das Kommende noch nicht manifestiert (oder materialisiert) hat, das Gewesene aber noch spürbar oder erahnbar ist.
Solange diese Momente nur Teil unserer faktischen Welt sind, sind sie meistens von ganz kurzer Dauer. Ein Ictum. Trotzdem empfinden wir sie manchmal als gar nicht so kurz oder flüchtig. Manchmal haben wir den Eindruck, dass sich dieses Ictum ausdehnt. Und wenn dieser Augenblick dann noch Teil der Kunst und somit gewissermaßen Teil einer eigenen Welt wird, kann er auch lang und zeitlich unabgeschlossen werden.
Wenn man eine Plattitüde bemühen möchte, könnten man sagen, es sind auch Momente, in denen die Zeit stehen geblieben ist. Ich persönlich bin kein Freund von diesem Stehenbleiben von Zeit. Mir gefällt der Gedanke besser, dass es in diesen Momenten gar keine Zeit gibt. Und scheinbar auch keine Gesetze der Physik.
Dieses Denken trifft sich in gewissem Sinn mit einer eschatologischen Vorstellung von Zeitlichkeit. Klingt kompliziert, ist aber ganz einfach. Es geht ein bisschen um die theologische Vorstellung, dass die Zeit aus der Ewigkeit kommt und zu ihr in einem linearen Fluss hinstrebt. Also in eine Richtung nach vorne voranschreitet, um letztendlich wieder in der Ewigkeit aufzugehen. In der Ewigkeit selber gibt es dann aber keine Zeit-Richtung mehr. Vielleicht auch keine Zeit mehr. Hier sind alle Varianten, alle Richtungen möglich.
Das hat sehr viel mit unserem Motto, dem Übergang zu tun. Und – sie erinnern sich – es sind Positionen, die in Werken Martin Rainers ablesbar sein können. Das Uneindeutige, Unentschlossene und das Zeit-Negierende.
Hier kann man nicht anders, als auf einen Theologen und Religionsphilosophen hinzuweisen, der sich intensiv mit der Kunst seiner Zeit auseinandergesetzt hat: Romano Guardini. Unser Vater hat diesen Denker sehr geschätzt. Er hat seine Vorlesungen besucht und jede seiner Veröffentlichungen gesammelt.
Für diesen Romano Guardini hat jedes echte Kunstwerk immer einen religiösen Charakter; und das auch unter dem Gesichtspunkt der Zeitlichkeit. Er meint das in dem Sinn, dass das Kunstwerk eine Brücke zur Ewigkeit schlägt. Es (also das Kunstwerk) verweist – ich zitiere – auf die Zukunft; auf jene schlechthinnige (absolute) ‚Zukunft‘ die nicht mehr von dieser Welt her begründet werden kann. Jedes echte Kunstwerk ist seinem Wesen nach ‚eschatologisch‘ und bezieht die Welt über sie hinaus auf ein Kommendes.“
Damit ist ein komplexer Gedanke auf den Punkt gebracht. Echte Kunst schlägt die Brücke zur Ewigkeit.
Mehr bräuchte man eigentlich nicht mehr sagen, ich machen aber noch einen kurzen Exkurs.
Der Zusammenhang mit unserem Preis ist vielleicht im ersten Moment nicht gleich ersichtlich, aber wir werden schon sehen.
Kurz nachdem wir – wir sind in diesem Fall Josef, Beatrix, Barbara und ich – das Motto für die aktuelle Ausgabe grob umrissen hatten, habe ich in St. Gallen eine tolle Ausstellung gesehen. Im Ankündigungstext war von poetischen Zwischentönen die Rede, die für den Künstler, um den es bei der Ausstellung gegangen ist, entscheidend wären. Diese Zwischentöne kommen als Wort in unserem Ausschreibungstext auch vor. Ganze dreimal. Vom Dazwischen reden wir fünfmal.
Wenn ich Ihnen jetzt sage, dass es sich bei dem St. Galler Künstler um Roman Signer handelte, setze ich mich vielleicht dem Verdacht aus, Birnen mit Äpfeln zu vergleichen. Wenn ich also Roman Signer mit Martin Rainer in Zusammenhang bringe.
Aber lassen Sie mich eine Arbeit vorstellen, die in St. Gallen zu sehen war: der Große Tropfen aus dem Jahr 1973. Es ist ein Gebilde, in das oben in ein Stahlgerüst eine Gummimembran eingespannt ist. In diese wird kontinuierlich Wasser eingefüllt, insgesamt 25 Liter. Die Membran weitet sich und nimmt immer mehr die Form eines einzigen großen Wassertropfens an. Irgendwann wird dieser Tropfen zu schwer, die Membran bricht und es kommt zu diesem ganz kurzen Moment, in dem sich alles auflöst.
In diesem Moment hat man hat das Gefühl, dass es weder Zeit noch die Gesetze der Physik gibt: die Membran ist geplatzt, 25 Liter Wasser stehen – in Form eines einzigen großen Wassertropfens – für kurze Zeit in der Luft, bevor dieser Tropfen zerspringt und das Wasser auf den Boden klatscht. Es ist ein kleiner Moment, der uns aber in dem Moment, in dem wir ihn sehen, viel länger erscheint als er ist. Ein kurzes Zwischenstadium, in dem sogar noch alles möglich scheint.
Natürlich lässt sich das alles trocken physikalisch erklären; es hat einfach mit dem Trägheitsgesetz und der Oberflächenspannung des Wassers zu tun.
In der Kunst hat es aber eine andere – und ich meine viel interessantere – Bedeutung. Mit dieser Arbeit zeigt uns der Künstler genau diesen kurzen Moment des Dazwischens. Die ganze Arbeit ist auf diesen einen Augenblick ausgelegt, auf dieses Ictum, in der das Wasser den Naturgesetzen trotzt und einen einzigen, schwebenden Tropfen bildet. Um diesen Moment sichtbar zu machen, hat Signer in den 70er Jahren ein Zeitlupenvideo machen lassen, in dem man das ganze nachvollziehen kann.
Mit solchen künstlerischen Mitteln hat Martin Rainer nie gearbeitet. Er hat flüchtige Momente im wörtlichen Sinne festgegossen; in Bronze, dem Material des Ewigen, dem Material in dem auch Denkmäler gefertigt werden. Die Motivation, das künstlerische Wollen war aber vielleicht vergleichbar mit dem, das in Signers Arbeit steckt.
Darum geht es uns letztlich auch beim Martin-Rainer-Preis. Um die Suche nach dem künstlerische Wollen. Die künstlerischen Mittel sind für uns nebensächlich, sie müssen nur dem künstlerischen Wollen entsprechen. (Nur Wollen reicht natürlich auch nicht, man muss das Wollen schon auch können.)
In diesem Sinn vergleichen wir sehr gerne Birnen mit Äpfeln. Das sollte man eigentlich öfter tun. Erst im Vergleichen von Unterschiedlichem erkennt man das Gemeinsame.
Das machen wir letztendlich auch in der Gegenüberstellung im Freskenraum. Wenn Sie sie schon gesehen haben, wissen Sie, dass dort verschiedene künstlerische Ausdrucksformen aufeinandertreffen. Dreidimensionales trifft auf Zweidimensionales. Beides ist aber in sich vieldimensional und dabei vieldimensional miteinander verbunden.
Der Mann mit Stock von 2010 steht einer Arbeit von 2023 aus der Werkreihe „Talking rooms“ der aktuellen, bzw. noch nicht offiziellen Trägerin des Martin Rainer Preises gegenüber.
Der Mann mit Stock wartet auf etwas; er hat für sich vielleicht schon überlegt, was er tun wird oder tun muss, ist aber doch noch unentschlossen. Bewegung und Zeitlichkeit scheinen unscharf. (Sie wissen in der Zwischenzeit genau was ich meine).
Mit dieser zeitmäßigen Unschärfe trifft er auf die Darstellung eines Raumes, der zwischen Präsenz und Abwesenheit, Licht und Schatten, Kontur und Auflösung changiert. Ausgangspunkt für die Arbeiten dieser Serie waren Fotografien der Wohn- und Arbeitsräume Sigmund Freuds, die wenige Tage vor seiner Emigration, -- Vertreibung durch die Nazis -- gemacht wurden. In der künstlerischen Umsetzung lassen diese Arbeiten die Anwesenheit von Verlorenem spüren, sie erzählen von einer Zwischenwelt, die auch formal im Auflösen begriffen ist. Ob der Mann mit Stock diese Zwischenwelt betreten wird, ob er in sie eintauchen will, ob er nur von außen zuschaut oder schon wieder im Gehen ist – wer kann das schon sagen. Wenn sie gerne wollen, sind sie natürlich herzlich dazu eingeladen, sich darüber selber Gedanken zu machen.
Gedanken machen können sich auch die Unterstützerinnen und Unterstützer, ohne die wir diesen Preis nicht machen könnten.