Im Rückblick hätte ich gedacht, es wäre länger her, aber vor ziemlich genau einem Jahr hat mir mein Bruder Josef eine Nachricht geschickt – ob wir nicht einen Wettbewerb im Namen unseres Vaters ausschreiben sollen. Ich war zwar überrascht, fand die Idee aber gar nicht so schlecht.

 

Von da an ist alles recht schnell gegangen. Josef hat sich um Sponsoren und mögliche Rahmenbedingungen gekümmert, wir haben überlegt, in welche Richtung ein solcher Wettbewerb gehen soll. Ein paar Tage später, Anfang Mai, war die Grundidee formuliert und ein erstes Konzept fertig. Es ist dabei sehr hilfreich, dass wir zwei uns in Sachen Kunst ganz gut verstehen und gar nicht viel reden brauchen. An diesem Konzept hat sich dann auch nicht mehr viel geändert, wir haben es nur noch ein bisschen geschliffen.

Was für uns beide aber logisch ist und zwischen uns eigentlich gar nicht argumentiert und diskutiert werden muss, braucht für Außenstehende vielleicht schon Erklärungen. Deswegen versuche ich, unsere Grundgedanken ein bisschen abzustecken:

 

Warum macht man so einen Preis?

Ein Grund: Indem man fördert was man gut findet, muss man sich weniger mit dem auseinandersetzen, was man schlecht findet. Das ist einmal ein ganz egoistischer Grund.

Natürlich geht es bei solchen Preisen aber auch immer um das Andenken. Man will einen Künstler und sein Werk im Gedächtnis und in der Diskussion halten – weil man der Meinung ist, dass es das wert ist. Ein solcher Preis ist eine Ehrung – nicht im Sinne einer Verehrung, sondern einfach im Sinn von Respekt erweisen. Ehrungen werden normalerweise gerne nach hinten projiziert, sie werden historisch gesehen – wie eine Art Denkmal.

So was denkmalhaftes wollten wir eigentlich nicht machen, Denkmale haben oft etwas Totes an sich, etwas Endgültiges. Wir wollen ja schon eher etwas lebendig halten.

Deswegen eben die Entscheidung, einen Anerkennungspreis in der Form zu machen – und nicht zum Beispiel einen Förderpreis.

Mit dem Preis, wie wir ihn uns vorstellen, erwarten wir uns eine Anerkennung in zwei Richtungen. Einmal ehrt man den Namensgeber des Preises und man ehrt den Preisträger. Man erkennt die Leistungen beider an und verbindet diese beiden dadurch auch miteinander – man stellt sie auf eine Stufe.

Dadurch löst man idealerwiese eine Auseinandersetzung zwischen zwei Positionen aus – und da wird es spannend, da wird es lebendig. Das ist aus unserer Sicht viel wertvoller als einfach ein Statement zu machen.

Inhaltlich mach das Ganze aber nur dann Sinn, wenn es aus künstlerischer Sicht zwischen den Positionen erkennbare Verbindung gibt. Ansonsten wird’s banal und kriegt eine Beliebigkeit, die keiner will.

 

Für die Konzeption eines Preises hat diese Vorstellung natürlich Konsequenzen.

Für uns hat es bedeutet, dass wir zuerst einmal den Succus, das Wesen der Kunst unseres Vaters prägnant benennen können müssen. Wir müssen also sagen können: Das ist der Kern, mit dem dann die Auseinandersetzung stattfinden soll. Darauf aufbauend können wir dann Grundlinien und Kriterien für den Preises definieren.

Im Endeffekt spiegeln sich diese Grundlinien schon im Titel KUNST und RAUM. 

In der Ausschreibung haben wir das so formuliert: In der Form ist Martin Rainers künstlerisches Gestalten von einem architektonischen Körper-Raum-Verständnis bestimmt, im Ausdruck von einer lyrisch erzählerischen Grundhaltung.

 

Was wir damit sagen wollen, ist – ganz verkürzt – dass es bei Martin Rainer in der inhaltlichen Aussage wie auch der formalen Gestaltung um Wechselspiele und Beziehungen geht. Es geht um ein Abwägen, Ausloten, auch um ein Überwinden von Statischem – und auch von Statuarischem (=er machte fast nie Statuen).

Es ging ihm – vor allem in der späteren Schaffenszeit – vermehrt um das Verständnis der Zwischenräume.

Interessant war für ihn, was zwischen Körpern passiert, was sich zwischen dem Körper und dem Raum abspielt. Beschäftigt hat ihn die Komposition von Linie, Volumen und Leere/Zwischenraum. Das inhaltliche Thema war dabei oft nur der Ausganspunkt, die Projektionsfläche, auf der das ganze erprobt wird.

Das heißt nicht, dass der Inhalt unwichtig wäre. Martin Rainer gehört einfach zu der Art Künstler, die zuerst die Melodie haben und dann den Text dazu machen.

(im Sinn von Monteverdis “prima pratica”)

Wir finden die Zwischenräume aber auch im Inhaltlichen: Da könnten wir von einer Beschäftigung mit dem Dazwischen in zeitlicher Hinsicht sprechen.

 

Ich will das kurz erklären: Vor allem in seiner späten Zeit und in den freien Arbeiten stellt er das noch nicht ganz Seienden oder das fast nicht mehr Seiende dar – auch das Flüchtige dar. Er beschäftigt sich mit den Dingen an den Grenzen, an den Übergängen. Die fertigen Plastiken zeigen dies in ganz kurzen Momentaufnahmen. Sie zeigen einen kurzen Augenblick, der nicht Ausgangspunkt und nicht Endpunkt ist und der vor allem nicht in sich abgeschlossen ist – fast wie ein Schnappschuss oder ein Videostill.

Auf diese Weise lassen uns diese Plastiken überlegen, was vorher war und was noch kommen wird. Die Arbeiten sind nie im Gleichgewicht, nie angekommen, sie sind immer im Übergang – inhaltlich wie formal.

 

So etwas haben wir gesucht, Künstler, die in diesem Verständnis arbeiten; die sich mit diesen Zwischenräumen beschäftigen, deren Kunstwerke nicht unbewegliche Statements sind, sondern ein Vorher, ein Jetzt und ein Nachher haben. Künstler, die ihre Vorstellungen in den Raum einbinden und sie in der Form idealerweise über das gestaltete Volumen hinausreichen lassen.

 

Wenn man sich jetzt das, was wir als Succus verstehen, genau und ehrlich anschaut, muss man zum Schluss kommen, dass das keine rein bildhauerischen Fragestellungen sind. Mit ähnlichen Prinzipien arbeiten andere Kunstformen genauso. Ob es nun Architekten, Theatermacher, Musiker, Tänzer sind, in allen Kunstformen gibt es die Auseinandersetzung mit diesen Prinzipien; der Zwischenraum, das Dazwischen-Sein kann in allen Kunstformen eine Rolle spielen. Denken wir nur an die Musik – da ist die Pause auch wichtiger als der Ton. Es muss aber auch aufeinander abgestimmt sein, sonst hast du immer den gleichen Ton (Zitat Martin Rainer).

 

Daraus muss sich für uns wieder ableiten, dass wir keinen Bildhauerpreis machen können, sondern einen Preis, der auch ganz bewusst die Spartengrenzen überschreiten will.

Das hat nun wieder etwas zur Folge – sie merken schon, es entwickelt sich eigentlich immer alles ganz harmonisch und logisch aus dem Vorhergehenden.

Die ideale Folge daraus wäre jedenfalls, dass man im Entdecken von Ähnlichem im Unterschiedlichen das Wesen von dem, was ähnlich ist, klarer erfassen kann.

 

Also: In der Konfrontation, in der Gegenüberstellung wird man idealerweise Aspekte erkennen, die man sonst vielleicht nicht wahrgenommen hätte. Und das gilt für beide sich gegenüberstehenden Dinge oder Phänomene.

 

Das ist an sich nichts neues, es ist ein bekannter Vermittlungsgedanke, den ich sehr gerne mag. Er soll den Rezipienten, den der Kunst Begegnenden in die Lage versetzen, von sich aus, mit eigener Überlegung und Wahrnehmung die Phänomene zu ordnen, sie in sein eigenes Koordinatensystem einzubinden und sie sich auf diese Weise anzueignen. Also sie sich aktiv zu eigen zu machen. Das ist ein Gedanke, der mir sehr gut gefällt, auch im Sinn der Rezeptionsästhetik. Die ja sagt, dass das Kunstwerk erst im Kopf des Betrachters vollendet wird.

 

Was bedeutet das für den heutigen Abend?

Wir rechnen damit, dass Sie sich als neugierige Beschauer, als Begegnende mit der Kunst, überlegen, warum wir – als Jury – gerade diesen Künstler ausgesucht haben, warum wir gerade diese Arbeiten einander gegenüberstellen.

Und wir rechnen damit, dass sie allein dadurch, dass Sie sich diese Fragen stellen, sich selbst die Möglichkeit geben, die Antworten darauf zu finden – aus sich selbst heraus.

Es ist ein bisschen Arbeit für sie, aber sie kriegen die Möglichkeit, in der Auseinandersetzung Qualitäten zu sehen, die Ihnen bisher vielleicht entgangen sind. Das ist viel wertvoller, als wenn man alles auf Punkt und Beistrich erklärt bekommt. Insofern können Sie sich schon freuen auf die Ausstellung im Freskensaal – und ihre eigenen Erlebnisse, die sie damit haben werden (sie sind die Experten!).

 

Ich bin mir ziemlich sicher, dass diese Idee funktioniert, weil es mir selber auch so gegangen ist – nämlich in der Auseinandersetzung mit den Einreichungen und in der Vorbereitung auf die Jurysitzung. Und damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet (man denkt man ist lange genug im Geschäft und erwartet nicht unbedingt Überraschungen).

 

Es gab durchaus eine Reihe von Einreichungen, die mich direkt berührt haben. Oft wusste ich im ersten Moment gar nicht warum. Insgesamt war auch die Art und Weise berührend, wie sich die teilnehmenden KünstlerInnen mit dem Werk und dem Kunstverständnis Martin Rainers, mit seinen Auffassungen und Ergebnissen auseinandergesetzt haben – zumindest die meisten.

 

Meine Beschäftigung mit diesen Einreichungen aber und der Versuch, die eingereichten Kunstwerke zu verstehen, haben bei mir wiederum dazu geführt, dass ich gewisse Qualitäten in der Kunst unseres Vaters besser verstanden habe. 

Bestimmte Übereinstimmungen und Gemeinsamkeiten, die manche KünstlerInnen zwischen ihren Werken oder Auffassungen zu Martin Rainer gesehen haben, waren mir bisher entgangen; in manchen Fällen wäre ich aber auch nie auf die Idee gekommen, an solche Überschneidungen zu denken; aber es gab sie. Umso besser und klarer sind sie jetzt sichtbar.

Allein schon dafür bedanken wir uns bei allen Teilnehmern, jeder und jede einzelne war eine große Bereicherung.

 

Ehrlich gesagt hätten wir allein aus diesen Einreichungen schon genug würdige Preisträger für die nächsten fünf Auflagen herausfiltern können. Aber das ist ja nicht Sinn und Zweck. Deswegen haben wir zumindest den Kreis der Prämiierten um zwei lobende Erwähnungen erweitert – das war so nicht geplant, sondern einfach dem geschuldet, dass so viele gute Beiträge dabei waren.

 

Unsere Hoffnung ist es aber schon auch, dass es für die, die diesmal leer ausgehen, nicht ganz umsonst war.

Immerhin haben wir von Rückmeldungen einzelner Künstler gehört, dass es ihnen ähnlich ging wie mir. Dass sie erst in der jetzigen, anlassbezogenen Auseinandersetzung mit Werken Martin Rainers Schnittmengen zu ihrer eigenen Kunst gesehen haben, an die sie vorher selbst nicht gedacht hätten.

 

Das ist ja immerhin etwas, was man als Künstler mitnehmen kann, was einen vielleicht auch selbst etwas bringt

 

– hab ich mir zumindest zuerst gedacht. Dann hab ich mir aber gedacht, dass es eigentlich überhaupt nicht tröstlich ist. Erstens will jeder gewinnen – logisch, deswegen macht man ja mit. Und zweitens kann es einem gehen wie Ed Rusha, an den ich denken hab müssen.

Mir ist nämlich eine Ausstellung von Ed Rusha eingefallen, die bei uns Museum vor ein paar Jahren stattfand. Er hat sich sehr intensiv mit unseren historischen Kunstbeständen auseinandergesetzt und ist – jedes Mal, wenn er ins Depot kam – immer leiser und ruhiger geworden. Ich hab mich nicht ausgekannt, hab gemeint, etwas falsch gemacht zu haben. Es hat sich aber herausgestellt, dass er in der Auseinandersetzung mit der alten Kunst für sich festgestellt hat, dass alle Fragen, die er sich als Künstler stellt, schon beantwortet sind.

Der Titel der Ausstellung hieß dann: The Ancient Stole all our Great Ideas – ein Mark Twain Zitat, übersetzet heißt es ungefähr: die Alten haben alle unsere guten Ideen gestohlen. Das ist ein Zitat mit Augenzwinkern, es zeigt aber, dass alte Kunst genauso bewegend, berührend, genauso gegenwärtig sein kann, wie aktuell entstehende Kunst.

Es hat dann nichts mit der Zeit oder dem Ort zu tun, in und an dem Kunst entsteht, es hat vielleicht auch weniger mit der Biographie des Künstlers zu tun, wie es Kunsthistoriker und Kritiker oft denken wollen.

Wie könnte es sonst sein, dass Künstler mit so unterschiedlichen Biographien, aus so unterschiedlichen Zeiten, ähnliche Fragen stellen und zu ähnlichen Lösungen kommen.

In diesem Zusammenhang sollte man vielleicht nicht ganz vergessen, dass Martin Rainer gestern vor 99 Jahren geboren wurde. Im hinteren Schnalstal, von dem der Vinschgau als Seitental wegführt. Aufgewachsen am Bauernhof, in der Zeit des Faschismus, ohne deutsche Schulbildung. Als Jugendlicher mit der Option konfrontiert, als Dableiber in der Minderheit und als Walscher verschimpft. Danach im Krieg, dann in Kriegsgefangenschaft; danach zwei Jahre Knecht, um sich die Kunstschule in Gröden leisten zu können; erst danach ging es nach München auf die Kunstakademie.

Wie anders wachsen heutige Künstler auf! Das soll nicht heißen, dass sie keine Sorgen und Probleme haben, aber eben andere.

Wenn wir aber – und darauf will ich hinaus – aus der Biographie Martin Rainers sein Werk und seine Kunst erklären möchten, kämen wir nicht weiter. Würden wir in seinen Arbeiten eine Auseinandersetzung mit dem Faschismus finden? Oder eine Aufarbeitung von Kriegserlebnissen, der Optionszeit, traumatischer Erfahrungen? Nein – (vielleicht höchstens in seiner letzten Arbeit).

Warum finden wir das nicht? Vielleicht weil das alles nur anekdotisch wäre, es wären nur zeitbezogene Kommentare. Es würde nicht weit genug in die Tiefe gehen, und nicht versuchen, zum Wesen der Dinge zu kommen. Es ging Martin Rainer schon immer darum, allgemeingültig zu bleiben, Kunstwerke zu schaffen, in denen – um es mit Romano Guardini zu sagen „der Ton des Alls, [der Ton des Daseins] klingt.“

 

Wir haben den Eindruck, dass Michael Fliri diesen Ton auch in seiner Kunst sucht. Und dies eben trotz so unterschiedlicher Zeiten und trotz so unterschiedlicher Biographien. Beide, Martin Rainer wie Michael Fliri, machen starke Kunst, erzählen sie aber leise. Mit milder Empathie wie Luigi Fassi über die Arbeitsweise Rainers geschrieben hat.

Ich hab‘ mich gefragt, wie es zu diesem Gleichklang kommen kann? Eine mögliche Erklärung wäre die, dass uns die Alten in Wirklichkeit gar keine Ideen gestohlen haben. Weil sie diese gar nicht stehlen können.

Weil, wie schon der alte Platon gewusst hat, die Ideen unveränderlich sind. Veränderlich sind nur die Phänomene, die Abbilder der Ideen.

Und die zeitlose Kunst schaut genau dazwischen, zwischen die Welt der Ideen und die Welt der Phänomene.

 

Wenn es uns in diesem Sinn gelingen sollte, mit diesem Preis anzudeuten, dass es in der Kunst Dinge gibt, die unveränderlich sind, Fragen die uns gestern wie heute wie morgen beschäftigen … wenn wir echte Kunst in dem Sinn in ihrer Zeitlosigkeit verstehen wollen (ein echtes Kunstwerk bleibt für unseren Verstand immer unendlich, sagt Goethe) … und wenn es dazu noch gelungen sein sollten, mit dem Preis eine Plattform für unerwartete Erkenntnisse zu schaffen …, dann haben wir aus unserer Sicht nicht alles falsch gemacht.

fertig

 

 

Ich möchte mich aber auch noch bedanken – in erster Linie beim Künstlerbund; vielen Dank für die tolle und sehr professionelle Arbeit und Unterstützung; Dank an die Jury – Lisa, Josef, Alexander, Luigi. Es war eine sehr angenehme Jury, in der große Einigkeit und Übereinstimmung geherrscht hat. Hat Spaß gemacht. Bedanken will ich mich auch bei Trixi und Barbara –die beiden haben auch einen großen Anteil an der Preiskonzeption; sie haben Josef und mich schon oft auf die richtige Spur gebracht.

Und vor allem bedanken wir uns bei den Künstlerinnen und Künstlern, die teilgenommen haben. Ihnen verdanken wir alle schließlich diese heutige Veranstaltung. Ich habs bereits gesagt, aber ich möchte mich auch ausdrücklich für die Auseinandersetzungen der Künstler bedanken. Das allein schon können wir eigentlich gar nicht hoch genug schätzen. Die heute anwesenden Künstler müssen dabei den Dank für alle anderen stellvertretend mit entgegennehmen.