Ruht sich die Seele während des Schlafes gleich dem Leibe aus?
Nein, der Geist ist nie untätig. Während des Schlafes werden die Bande, die ihn an den Leib fesseln, lockerer. Da der Leib jetzt des Geistes nicht bedarf, durchzieht er den Weltraum und tritt in unmittelbare Beziehung zu den andern Geistern.
Wie können wir uns über die Freiheit des Geistes während des Schlafes ein Urteil bilden?
Durch die Träume. Wenn der Leib ruht, besitzt der Geist mehr Fähigkeiten als während des Wachens. Er besitzt Erinnerung an das Vergangene und hat zuweilen auch den Blick in die Zukunft. Er kann mit anderen Geistern, sei es auf dieser oder in der anderen Welt, in Verbindung treten. Oft sagst du: ich hatte einen wunderlichen, einen schrecklichen, einen unwahrscheinlichen Traum. Und doch ist es oft eine Erinnerung an Orte und Dinge, die du gesehen hast oder sehen wirst zu seiner Zeit. Wenn der Leib erschlafft daliegt. sucht der Geist seine Ketten zu brechen, indem er Vergangenes und Künftiges aufsucht.
Der Schlaf befreit die Seele teilweise vom Leibe, man ist vorübergehend in dem Zustande, in dem man sich nach dem Tode bleibend befindet. Die höheren Geister, die bei ihrem Tode bald vom Stoffe befreit sind, suchen im Schlafe die Gesellschaft der anderen höheren Wesen wieder auf. Sie reisen, unterhalten und belehren sich mit ihnen, ja, sie arbeiten an Werken, die sie dann bei ihrem Tode fertig vorfinden. Aber die größere Menge der Geister, die beim Tode lange Stunden in jener Verwirrung bleiben müssen, gehen im Schlafe teils auf noch niedrigere Welten als die eurige, wohin alte Neigungen sie rufen, teils suchen sie noch niedrigere Vergnügungen auf, als ihre irdischen waren. Was auf Erden die Sympathie erzeugt, ist nur die Tatsache, dass man sich beim Erwachen zu denen hingezogen fühlt, mit denen man acht oder neun Stunden des Glückes und der Freude verbracht hat. Unüberwindliche Antipathien werden dadurch erklärt, dass man ja im Grunde seines Herzens weiß, dass jene Menschen ein anderes Gewissen als wir haben, man erkennt sie, ohne sie je mit leiblichen Augen gesehen zu haben. Und Gleichgültigkeit erklärt sich dadurch, dass einem nichts an neuen Freunden liegt, weil wir genügend besitzen, denen wir lieb und teuer sind. Kurz gesagt, der Schlaf hat auf euer Leben größeren Einfluss als ihr meint.
Im Schlafe stehen die inkarnierten Geister fortwährend in Verbindung mit der Geisterwelt, und darum sind höhere Geister ohne großes Widerstreben bereit, sich unter euch zu inkarnieren. Gott hat es so gewollt, dass sie während ihrer Berührung mit dem Laster wieder in den Urquell des Guten eintauchen können, um sich nicht selbst zu verfehlen.
Träume sind die Erinnerung am das, was euer Geist im Schlafe gesehen hat. Oft ist es aber nur die Erinnerung an die Verwirrung, die euer Austritt oder eure Wiederkehr begleitet, verbunden mit dem, was ihr getan oder gesehen habt. Wie wolltet ihr auch sonst jene zusammenhanglosen Träume erklären, die wohl alle Menschen haben? Auch böse Geister bedienen sich der Träume, um schwache und kleinmütige Seelen zu quälen.
Übrigens werdet ihr bald eine andere, im Entstehen begriffene Gattung von Träumen kennenlernen. Sie ist uralt, aber euch noch unbekannt. Der Traum Johannas, der Traum Jakobs, die Träume der jüdischen Propheten und einiger indischer Weiser und Wahrsager: Solche Träume sind Erinnerungen der ganz vom Leibe gelösten Seele, Erinnerungen an jenes zweite Leben, von denen ich eben vorhin gesprochen.
Warum erinnert man sich nicht immer an seine Träume?
Was du den Schlaf nennst, ist nur die Ruhe des Leibes, der Geist ist ständig in Bewegung. Er erlangt im Schlafe einen Teil seiner Freiheit wieder und verkehrt mit seinen Lieben in dieser oder der jenseitigen Welt. Da der Leib aber schwerer, grober Stoff ist, behält er nur mit viel Mühe die Eindrücke, die der Geist empfangen, weil sie ihm nicht durch Organe des Leibes übermittelt wurden.
Was ist von Bedeutungen zu halten, die man Träumen beimisst?
Sie sind keineswegs im Sinne der Wahrsager und Traumdeuter als wahr anzunehmen, es ist eine einfältige Meinung, dass Träume etwas Bestimmtes ankündigen. Wahr sind Träume nur in dem Sinne, dass sie dem Geiste wirkliche Bilder darbieten, die aber oft keinerlei Beziehungen zu den Begebnissen des leiblichen Lebens haben. Oft sind sie Erinnerungen, wenn Gott es gestattet, können es auch Ahnungen von künftigen Dingen sein. Oft sieht die Seele, was sich an einem anderen Ort ereignet, an dem sie sich gerade befindet. Viele Beispiele haben wir, wo Personen ihren Verwandten und Freunden im Träume erscheinen und ankündigen oder warnen. Diese Erscheinungen sind nichts anderes, als die Seele oder der Geist jener Personen, die mit dem eurigen in Verbindung treten.
Oft sieht man im Träume Dinge, die Vorahnungen sein können, sich aber doch nicht erfüllen. Woher kommt das?
Wenn schon nicht für den Leib, so können sie sich doch für dem Geist erfüllen, er sieht, was er wünscht, weil er es finden wird. Da d' die Seele während des Schlafes stets mehr oder weniger unter dem Einfluss des Stoffes steht, ist sie nie ganz von irdischen Vorstellungen befreit. Womit man sich am Tage besonders beschäftigte, das kann als Eindruck zurückgeblieben sein und steigt nun auf. Man könnte glauben, Herbeigewünschtes oder Gefürchtetes kündigt sich an, doch ist es nur die Einbildungskraft des Menschen."
Wenn wir im Träume lebende Bekannte oder Freunde sehen, die etwas tun, an das sie irdisch in keiner Weise denken, ist das nicht reine Wirkung der Einbildungskraft?
Woher weißt du, dass sie es in keiner Weise denken? Ihr Geist kann zu deinem auf Besuch kommen, so wie dein Geist den ihrigen besuchen kann, und du weißt, nicht immer, woran er denkt. Auch übertragt Ihr oft das, was in anderen Existenzen geschehen ist, je nach euren Wünschen auf bekannte Personen.
Ist der vollständige Schlaf zur Befreiung des Geistes notwendig?
Nein, er empfängt schon seine Freiheit wieder, sobald die Sinne ermatten. Sowie die Lebenskräfte sinken, macht sich der Geist los und je schwächer der Leib ist, desto stärker erhebt er sich.
(So bietet der Halbschlaf oder eine einfache Erschlaffung des Sinnenlebens oft die gleichen Bilder dar wie der Traum.)
Oft sehen wir in einem Zustand, der noch kein Halbschlaf ist, mit geschlossenen Augen deutliche Bilder und Figuren, sogar in ihren kleinsten Einzelheiten. Ist dies Einbildungskraft oder die Wirkung einer Vision?
Wenn der Leib erschlafft ist, sucht der Geist seine Ketten zu brechen: Er zieht aus und schaut. Wäre der Schlaf vollständig, so wäre dies ein Traum.
Man hat zuweilen im Schlafe oder im Halbschlaf Gedanken, die sehr gut scheinen, die aber trotz aller Mühe nicht zurückkehren und aus der Erinnerung schwinden. Woher kommen diese?
Sie sind das Ergebnis der Freiheit des Geistes, der sich entfesselt und während dieser Zeit über größere Kräfte verfügt. Oft sind es auch Ratschläge, die uns andere Geister geben.
Und wozu nützen diese, da man sie doch wieder vergisst?
Diese Gedanken gehören zuweilen mehr der Geisterwelt als der irdischen an. Vergisst der Geist einmal seinen Leib, kehrt der Gedanke im rechten Augenblick wie eine Eingebung wieder.
Kennt der inkarnierte Geist in den Momenten, wo er vom Stoffe frei ist und sich ganz als Geist fühlt, die Stunde seines Todes?
Oft ahnt er ihn, zuweilen ist er sich desselben ganz deutlich bewusst. Dies gibt ihm dann im wachen Zustande ein dunkles Gefühl davon. Daher kommt es, dass manche Menschen ihren Tod zuweilen mit großer Genauigkeit vorauswissen."
Kann die Tätigkeit des Geistes während der Ruhe oder des Schlafes seines Körpers den Körper auch ermüden?
Ja, der Geist ist gewissermaßen am Leibe befestigt wie der angebundene Luftballon an seinem Pfahle, daher wirkt der Geist erschütternd auf den Leib zurück und kann ihn schließlich ermüden.
Quelle:
Das Buch der Geister – Allan Kardec