Was ist das ganz besondere Zeichen der Unvollkommenheit?
„Es ist das persönliche Interesse. Ein Mensch kann Eigenschaften haben, die ihn für die Welt zum rechtschaffenen Menschen stempeln. Aber wenn diese auch ein Fortschritt sind, so vertragen sie nicht immer gewisse Prüfungen. Die wahre Selbstlosigkeit ist auf der Erde eine so seltene Sache, dass man sie wie ein Phänomen bewundert, wenn sie sich einmal zeigt."
Was ist die Wurzel alles Bösen?
Wir sagten es schon oft: die Selbstsucht. Aus ihr stammt alles Böse. Durchsuchet alle Erscheinungen des Bösen und ihr werdet finden, dass ihnen allen die Selbstsucht zugrunde liegt. Wer immer schon in diesem Leben sich der sittlichen Vollendung nähern will, muss alle Selbstsucht aus dem Herzen reißen, denn sie verträgt sich nicht mit Gerechtigkeit und Menschenliebe.
Der Mensch will glücklich werden, und dieses Gefühl liegt in seiner Natur. Deswegen arbeitet er ohne Unterbrechung, um seine Situation auf der Erde zu verbessern, und er sucht ständig die Ursache seiner Übel, um sie zu beseitigen. Wenn er verstehen kann, dass der Egoismus eine dieser Ursachen ist, wird er auch verstehen, dass er gegen sein Glück wirkt. Denn der Egoismus bringt den Stolz, die Ergeiz, den Neid, den Hass, die Gier, von welchen er immer ein Opfer sein wird. Sie stören seine gesellschaftlichen Beziehungen, verursachen Misstimmungen, zerstören das Vertrauen, zwingen ihm eine Verteidigungshaltung gegenüber seinen Mitmenschen einzunehmen und dabei aus einem Freund einen Feind macht. Man würde sagen, der Egoismus ist nicht nur unvereinbar mit seinem Glück, sondern auch mit seiner Sicherheit. So betrachtet, je mehr der Mensch leidet, desto mehr wird er den Egoismus bekämpfen, sowie er die Pest, die gefährlichen Tiere und alle anderen Geißeln bekämpft. Sein eigenes Interesse verlangt dies.
Die Selbstsucht ist die Quelle allen Übels und aller Fehler und Laster auf Erden, so wie die Menschenliebe die Quelle aller Tugenden ist. Die eine auszurotten, die andere zu entwickeln, muss das Ziel aller Anstrengungen des Menschen sein, wenn er sich sein Glück sowohl auf Erden als auch in der künftigen Welt sichern will.
Die Legende der Löffel
Die jüdische Legende der Löffel wird im Buch „Lieben ist notwendig“ der Psychologin Maria Helena Matarazzo erzählt.
„Es wurde einem Rabbiner erlaubt, die Hölle zu besuchen.
Dort sah er einen ernormen Kessel mit einer dämpfenden appetitlichen Suppe.
Um den Kessel herum saßen viele Menschen. Sie waren verzweifelt, denn jeder hielt einen Löffel in der Hand, der einen sehr langen Stiel hatte. Der Stiel war so lang, dass sie den Kessel nicht erreichen konnten. Sie waren sehr hungrig, sahen die Suppe und litten, weil sie sie nicht essen konnten.
Der Rabbiner begab sich zum Himmel.
Auch dort stand ein großer Kessel voll Suppe. Die Menschen saßen auch um ihn herum und hatten dieselbe Art von Löffeln in den Hände. Der Unterschied war aber, dass sie alle satt und glücklich aussahen.
Der Rabbiner erstaunte:
- Ich verstehe nicht. Warum zeigen sich die Leute hier so gelassen und in der Hölle sind sie so bedrückt, wo doch alles eigentlich gleich ist?
Und Jemand antwortete:
- Bemerkst du nicht? Sie haben hier das Geheimnis der Löffeln entdeckt. Sie geben einander das Essen in den Mund...“
Die Kraft der Barmherzlichkeit
Unter den menschlichen Gefühlen gibt es diejenigen, die den Menschen am meisten erheben. Es sind diejenigen, die den Mensch dazu bringen, seinem Nächsten zu helfen.
Die Barmherzigkeit ist das erste von ihnen: diese wunderbare innere Kraft macht dass der Mensch vor der Not seines Nächsten den großen Wunsch empfindet, zu helfen.
Größer als die Barmherzigkeit ist die Brüderlichkeit. Sie ist mehr als eine innere Kraft. Sie ist ein Gefühl, das denjenigen, der es pflegt stärkt und ihm inneren Frieden bringt.
Aber noch größer als die Barmherzigkeit und die Brüderlichkeit ist die Nächstenliebe.
Die wahre Nächstenliebe ist anonym und unpersönlich. Sie erwartet keine Anerkennung, sie ist nicht berechnend und sie konzentriert sich nicht nur auf die materielle Not. Sie berücksichtigt die Worte und die Gefühle. Sie beurteilt nicht, sie setzt keine Bedingungen, sie steht zur Verfügung.
Das Mitleid, wenn es tief empfunden wird, ist Liebe, die Liebe ist Hingabe, die Hingabe ist Selbstverleugnung. Wie Jesus es praktiziert hat.
Quelle:
Allan Kardec – Das Buch der Geister
Ranieri/Vladimir Ávila – Unterschiede trennen nicht (aus dem brasilianischen „Diferencas nao separam“)
Simonetti, Richard – Zeit zu erwecken (aus dem brasilianischen „Tempo de despertar“)