Der > Arthur - Schopenhauer - Studienkreis , für den ich hier dieses Vorwort schreibe, hält das Thema "altrussisches Mönchtum" schon deshalb für interessant, weil das spirituelle Leben im altrussischen Mönchtum wohl noch enger als im westlichen Christentum mit Askese und Mystik verbunden war. Askese und Mystik sind aber auch in der Philosophie Arthur Schopenhauers von erheblicher Bedeutung.
Eine der geistigen Wurzeln der christlichen Theologie ist die griechische Philosophie. Im westlichen Christentum war besonders Aristoteles, im östlichen (orthodoxen) Christentum hingegen vor allem Platon und der Neuplatonismus bedeutsam. Bereits darin zeigt sich eine Gemeinsamkeit mit Schopenhauer, denn dessen Philosophie beruht - wie Schopenhauer selbst bekundete - im wesentlichen Maße auf Platon.
Das orthodoxe Christentum hatte Russland fast ein Jahrtausend tief geprägt. Vielleicht ist das eine Erklärung dafür, warum gerade Russland bis zur Oktoberrevolution 1917 für Schopenhauers Philosophie besonders aufgeschlossen war. So fand Schopenhauer auch in Russland zahlreiche Anhänger. Ein Beispiel hierfür ist Lev Tolstoj, der in einem Brief schrieb:
"Wissen Sie, wie es mir in diesem Sommer erging? Ein unaufhörliches Entzücken über Schopenhauer und eine Reihe von geistigen Genüssen, wie ich sie nie gekostet habe. Ich habe mir all seine Werke kommen lassen, und las und lese ... Ich weiß nicht, ob ich nicht einmal meine Anschauung ändern werde, aber jetzt bin ich überzeugt, daß Schopenhauer der genialste Mensch ist ... Ich habe angefangen, ihn zu übersetzen." 2
Wladimir Solowjow (1853-1900) ist ein weiteres Beispiel für die Wirksamkeit der Schopenhauerschen Philosophie in Russland. Solowjow neigte in seiner Jugendzeit dem Materialismus zu, fand dann aber unter dem Einfluß von Schopenhauer und Spinoza zu einer philosophisch orientierten Religiosität, wobei er später zu einem der bedeutendsten russischen Religionsphilosophen wurde.
Die Machtergreifung durch die Bolschewisten 1917 verhinderte die weitere Verbreitung der Philosophie Schopenhauers in Russland. Der Marxismus, der im Gegensatz zu Schopenhauers Philosophie und auch zum Buddhismus steht, wurde gleichsam zur Staatsreligion der Sowjetunion. Die Furcht vor den Wahrheiten und Wirkungen der Schopenhauerschen Philosophie war offensichtlich derart groß, daß die Werke Schopenhauers dort noch zu Lebzeiten Lenins verboten wurden. 3
Der Umschwung in der Sowjetunion nach 1990 brachte nicht nur das Ende der kommunistischen Alleinherrschaft, sondern damit verbunden eine fast an Wunder grenzende Renaissance der Philosophie Schopenhauers in Russland. Wie das alte, tief im orthodoxen Christentum wurzelnde geistige Erbe, so erhielt auch die Philosophie Schopenhauers nun Möglichkeiten, sich zu entfalten.
Zu den kulturellen Anfängen Russlands gehörte in besonderem Maße das ostchristliche Mönchtum, das in manchen seiner spirituellen Erscheinungsformen an Entsprechungen im indischen Religionskreis erinnert. Auch für die, welche sich in erster Linie an Schopenhauer oder den Buddhismus orientieren, dürften die Parallelen zu den spirituellen und asketischen Praktiken im frühen russischen Mönchtum von Interesse sein. Jedenfalls ist der Verfasser dieser Zeilen während seiner Vorträge zu diesem Thema im “Buddhistischen Haus” in Berlin-Frohnau bei seinen Zuhörern durchaus auf Interesse gestoßen.
Wie kaum ein anderer bedeutender Philosoph hatte sich Schopenhauer über das Klosterleben und das Mönchtum mit bissiger Kritik, aber auch mit Bewunderung geäußert (siehe obiges Zitat). “Ein Kloster” - so Schopenhauer - “ist ein Zusammentreten von Menschen, die Armut, Keuschheit, Gehorsam (d. i. Entsagung dem Eigenwillen) gelobt haben und sich durch das Zusammenleben die Existenz ... zu erleichtern suchen.” Hier weist Schopenhauer auf etwas hin, worauf es - wie im folgenden noch dargelegt wird - auch im Leben der altrussischen Mönche letztlich ankam, nämlich der Überwindung des “Eigenwillens”. 4
Die Heiligenlegenden sind Idealbilder, die bestenfalls nur annähernd die Wirklichkeit widerspiegeln. Auch für das altrussische Mönchtum dürfte wohl das Urteil Schopenhauers zutreffen, daß “bei keiner Sache die Praxis so selten der Theorie (entspricht) wie beim Mönchsthum, eben weil der Grundgedanke desselben so erhaben ist”.
Herbert Becker
( Arthur-Schopenhauer-Studienkreis )
Anm. zum Vorwort:
1 - Zu diesem Zitat und den folgenden Schopenhauer-Zitaten: Arthur Schopenhauer, Parerga und Paralipomena II, § 168 (Zürcher Ausgabe, Band IX, Diogenes TB 140/9).
2 - Brief an Fet vom 30. August 1869. Zit. nach: Über Schopenhauer, hrsg. v. Gerd Haffmanns, 3. Aufl. 1991 (Diogenes TB).
3 - Außer Schopenhauer traf das Verbot auch Platon, Kant und Nietzsche. S. Heinz Brahm, Der Weltgeist, der nicht in Zentimetern zu fassen war. Über die Langlebigkeit des Mythos Lenin. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. April 2000, S. 10.