Nestorchronik-Höhlenkloster

I. Entwicklung

1. Nestorchronik - Gründung des Kiewer Höhlenklosters

Die wohl wichtigste und älteste Quelle für die Geschichte Russlands und besonders des altrussischen Mönchtums ist die sogenannte " Nestorchronik ", die wahrscheinlich um 1038 entstand. Im Jahr 1113 wurde sie vom Mönch Nestor im Kiewer Höhlenkloster nach vorhandenen Aufzeichnungen neu bearbeitet und später erneut umgeschrieben. Jedoch die älteste erhaltene Handschrift der Nestorchronik, wie sie später genannt wurde, stammt erst aus dem Jahr 1377 von dem Mönch Lavrentij.1

Da erst vom 12. Jh. an schriftliche Quellen in Form von Chroniken, Lebensbeschreibungen der Mönche und "Väterbüchern" ( Pateriks ) der Klöster überliefert sind, liegt der Anfang des russischen Mönchtums weitgehend im historischen Dunkel. Fest steht, dass die russisch-orthodoxe Kirche und ihr Mönchtum von Beginn an nach griechischem Muster geprägt wurden, und zwar durch die von Byzanz ausgehende Missionierung des Kiewer Reiches ( = " Rus "2 ). So ist bekannt, dass während des ersten Bilderstreits (8. Jh.) viele Mönche aus Byzanz in das nördliche Schwarzmeergebiet flüchteten, wo sie missionierten und die Ikonenverehrung verbreiteten. Daher ist anzunehmen, dass bereits lange Zeit vor der offiziellen Einführung des Christentums Mönche im Kiewer Reich lebten.

Die Nestorchronik berichtet erst unter dem Jahr 1037 von Mönchen und Klöstern im Kiewer Reich. Außerdem erzählt die Chronik, dass im gleichen Jahr vom Fürsten Jaroslav zwei Klöster gegründet wurden. Da diese Klöster durch Stiftungen entstanden, werden sie “Ktitor”- oder Stifterklöster genannt. Fast alle Gründungen waren in Russland bis zur Mitte des 13. Jhs. derartige Fürsten- oder Ktitorklöster.

Anders hingegen erfolgte die Gründung des Kiewer Höhlenklosters (> Bild), worüber die Chronik unter dem Jahr 1051 eine Darstellung enthält. Hiernach hatte ein Priester namens Ilarion auf einem Hügel am Ufer des Dnepr eine Höhle gegraben, in welcher er abgeschieden von der Welt seine Gebete verrichtete. Als Ilarion, er wird in der Chronik als “ein trefflicher und gelehrter Mann und strenger Faster”3 bezeichnet, vom Fürsten Jaroslav zum Metropoliten ernannt wurde, fand er vermutlich kaum noch Gelegenheit, seine Höhle aufzusuchen. Nach einiger Zeit zog in die von Ilarion verlassene Höhle ein Einsiedler. Er hatte vorher auf dem Athos, dessen Klöster dem altrussischen Mönchtum Vorbild waren, den Mönchnamen Antonij erhalten. Später kamen noch andere Mönche hinzu, um mit Antonij in der Höhle zu leben. Als ihre Zahl immer mehr zunahm, wurden Gebäude mit Zellen für die Mönche errichtet. So unterschied sich das Kiewer Höhlenkloster schon durch seine Entstehungsgeschichte deutlich von den Stifterklöstern, worauf die Nestorchronik mit den Worten hinweist: “Viele Klöster nämlich sind von Königen und von Bojaren und mit Reichtum errichtet, aber sie sind nicht wie die, welche gegründet sind mit Tränen und Fasten und Beten und Wachen. Antonij nämlich besaß weder Gold noch Silber, sondern er vollbrachte es durch Tränen und Fasten...”4


2. Kiewer Höhlenkloster - Weitere Klostergründungen

Das Kiewer Höhlenkloster wurde zu einem Beispiel christlichen Gemeinschaftslebens, an dem sich andere russische Klöster orientierten. Hierzu trug vor allem der hl. Feodosij bei, der auf Empfehlung Antonijs von den Mönchen im Jahre 1062 zum Abt gewählt wurde. Auch daran zeigte sich der Unterschied zu den Stifterklöstern, bei denen der Abt von dem jeweiligen Stifter bzw. seinem Rechtsnachfolger ohne Zustimmung der Mönche ernannt oder abgesetzt werden konnte.

Feodosij war seinen Mönchen nicht nur persönlich ein leuchtendes Beispiel für ein Leben in Enthalt- samkeit, Fasten und Gebeten, sondern er gab dem Höhlenkloster auch eine organisatorische Grundlage durch die Übernahme der Regeln des Studitenklosters von Konstantinopel. Diese Regeln wurden später in anderen russischen Klöstern eingeführt. Sie beinhalten Vorschriften für das Gemeinschaftsleben der Mönche, so z. B. für den Gottesdienst und das Fasten. Neben diesen rein religiösen Betätigungen verrichten die Mönche jedoch auch Handarbeit (u. a. Flechten, Getreidemahlen, Brotbacken, Gartenarbeit).

Im Höhlenkloster lebten noch andere für die altrussische Kirchengeschichte bedeutsame Persönlich-keiten, wie z. B. der Mönch Nikon, der 1077/1078 zum Abt gewählt wurde. Von ihm vermutet Smolitsch 5, dass er vorher unter dem Namen Ilarion der schon erwähnte Metropolit von Kiew gewesen war. Für diese Annahme spricht, dass der Metropolit Ilarion, welcher russischer Herkunft war, auf Verlangen von Konstantinopel um 1055 durch einen Griechen ersetzt werden musste. Nikon wirkte maßgeblich mit bei der Überarbeitung und Fortführung der altrussischen Chronik, in welcher ähnlich wie in den altrussischen Predikten des Ilarion national-russische Tendenzen erkennbar sind.

Nach dem Tode Feodosijs war jedoch das russische Mönchtum noch nicht hinreichend gefestigt, so dass es zwischen strengster Askese und Verweltlichung schwankte. Manche Klöster ließen zu, daß einige Mönche nicht unerheblichen Privatbesitz hatten, wodurch sich eine Trennung von “armen” und “reichen” Mönchen herausbildete. Auch kamen viele Klöster, insbesondere die, welche von reichen Stiftern gegründet worden waren, zu beträchtlichem Reichtum.

Ammann 6 meint zwar, daß infolge des sittlichen Niedergangs im 12. Jh. auch das Ansehen des Kiewer Höhlenklosters gesunken wäre, doch deutet der Brief eines Bischofs aus dem Ende des 12. Jhs. wohl eher auf das Gegenteil hin. Dieser Bischof, der früher selbst Mönch des Höhlenklosters gewesen war und nun umfangreichen Kirchenbesitz zu verwalten hatte, schrieb darin, dass er “diesen Ruhm und diese Ehre für Mist halte, und lieber Holzspalter vor dem Höhlenkloster bleiben möchte oder als von menschlichen Füßen zertretener Schutt im Kloster oder auch als einer von jenen Armen, die um ein Almosen vor dem Tore der heiligen Laura bitten ...”7

Während im 12. Jh. das russische Klosterwesen Verfallserscheinungen zeigte, entstanden zur gleichen Zeit, vor allem im Raum Wladimir-Suzdal und Nowgorod, zahlreiche neue Klöster. So gab es in Russland zur Mitte des 13. Jhs. insgesamt etwa 70 Klöster, davon jeweils 17 in Kiew und Nowgorod.8 Nach dem Zerfall des Kiewer Reiches und der mongolischen Invasion verlagerte sich im 13. Jh. der Schwerpunkt des russischen Mönchtums nach Norden, wo sich in den Kolonisationsgebieten entsprechend den veränderten geographischen Bedingungen auch andere Formen des Mönchslebens - wie etwa das Waldeinsiedlertum - stärker entfalten konnten.

Die Entwicklung des altrussischen Mönchtums, der Inhalt und Sinn seiner Lebensform sind durch eine bloße Aufzählung historischer Daten und Fakten nicht zu verstehen. Hierzu ist auch eine zumindest kurze Erläuterung der geistigen Wurzeln und spirituellen Grundlagen, auf denen dieses Mönchtum beruht, erforderlich.

hb


Anmerkungen:

1 - Zur Nestorchronik s. Günther Stökl, Russische Geschichte, 3. erw. Aufl., Stuttgart 1973, S. 42 und Werner Scheck, Geschichte Russlands, München 1975, S. 25.

Obwohl es im Hinblick auf die Entstehungsgeschichte dieser Chronik zutreffender sein dürfte, sie nicht allein mit dem Namen des Mönches Nestor zu verbinden und deshalb eher ihre korrektere Bezeichnung "Erzählung der vergangenen Jahre" (Povest´vremmenich let) angebracht wäre, erscheint es hier zweckmäßig, im folgenden ihren bekannteren Namen "Nestorchronik" zu verwenden.

Die folgenden Zitate sind aus: Povest´vremmenich let. Dt. Übers. v. Reinhold Trautmann, Die altrusssische Nestorchronik, Leipzig 1931.

2 - S. > Karte .

3 - Ebd., S. 111 f.

4 - Ebd., S. 114.

5 - Igor Smolitsch, Russisches Mönchtum. Entstehung, Entwicklung und Wesen 988-1917, Würzburg 1953, S. 57.

6 - A. M. Ammann, Die ostslawische Kirche im jurisdiktionellen Verband der byzantinischen Großkirche (988-1459) , Würzburg 1955, S. 99.

7 - Smolitsch, a. a. O., S. 66.

8 - Ebd., S. 59.

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