Askese-Ikone-Mystik
II. Geistige Wurzeln und Spiritualität des altrussischen Mönchtums
1. Überwindung des “Eigenwillens” - Askese - Abgeschiedenheit
Die geistigen Wurzeln des russischen Mönchtums reichen weit über seine griechische Herkunft hinaus bis zu den frühchristlichen Eremiten des 3. Jh. im Vorderen Orient (Ägypten, Palästina, Syrien). Diese Eremiten lebten in der eschatologischen Vorstellung, dass das Ende der Welt und mit ihm das Jüngste Gericht nahe wären. Deswegen müsse die Zeit genutzt werden, um durch harte Askese das Böse im Menschen zu überwinden. Wahrscheinlich unter dem Einfluß des Neuplatonismus kam es in der frühchristlichen Kirche zu der Auffassung, das Böse sei die Abkehr des geschöpflichen Willens vom göttlichen Willen, also der Eigenwille.1 “Der Eigenwille”, so meinte im 6. Jh. der Abt Dorotheus, “ist die eherne Mauer, die zwischen Gott und dem Menschen steht.”2 Damit war zugleich der zu Gott führende Heilsweg gewiesen, denn, wie der Abt Poemen sagte, “indem der Mensch seinen Willen aufgibt, vermag er diese Mauer zu überwinden.3
Die Überwindung des Eigenwillens ist nur möglich durch Verzicht auf alles, was dieser Wille begehrt, also durch Askese. Verzicht bedeutet Entsagung, die in der strengen Askese bis zur Weltentsagung gehen kann. Voraussetzung hierfür ist Abgeschiedenheit vom Weltlichen, “das Alleinsein mit Gott”, worauf schon die Bezeichnung “Mönch” (von griech. monos = allein) hinweist. Deshalb lebten die urchristlichen Eremiten allein in abgelegenen Gebieten. Doch sie blieben nicht allein, weil sich im Laufe der Zeit immer mehr dieser Einsiedler zusammenfanden, was dann zu den ersten Formen von Gemeinschaftsleben führte. Aus dem Koinobitentum (von griech. koinos bios = gemeinsames Leben) entwickelte sich das Klosterwesen, vor allem nachdem der Kirchenlehrer Basilios d. Gr. Mönchsregeln verfaßte und in seinen Schriften das Mönchtum theologisch begründete.
Aber auch als sich das Klosterwesen mehr und mehr in organisierten Gemeinschaften entfaltete, sonderten sich immer wieder einzelne Mönche zu strenger Askese in Einsamkeit ab. So gab es in Russland während des 12. Jhs. Einsiedler, die als Abgeschiedene (“Zatvorniki”) streng asketisch nach dem Muster ägyptisch-syrischer Vorbilder lebten. Die Nestorchronik berichtet 4, dass Antonij, der Gründer des Höhlenklosters, sich in eine Höhle zurückzog und diese nicht mehr verließ, bis er dort nach vierzig Jahren starb.
2. Fasten - Enthaltsamkeit- Armut - Leidenschaftslosigkeit
Besonders in der Fastenzeit suchen die Mönche die Abgeschiedenheit. Hierzu erzählt die Nestor-Chronik 5, dass der hl. Feodosij aus dem Kloster ging, um einsam in einer Höhle die Fastenzeit mit Gebeten zu verbringen. Das Fasten ist ein sehr wichtiger Teil des Mönchslebens. Es dient, wie es in der Nestor-Chronik 6 heißt, “zur Reinigung der Seele ... Die Fastenzeit nämlich reinigt des Menschen Sinn.” Aber auch sonst soll der Mönch Enthaltsamkeit üben, “denn aus reichlichem Essen und unmäßigem Trinken wachsen arge Gedanken auf, und wenn die Gedanken aufgewachsen sind, entsteht die Sünde.”7 Deshalb bestand das Klosterleben aus einfachster vegetarischer Ernährung, wobei manche Mönche nur noch Brot und Wasser zu sich nahmen.8
Das Ziel des Mönchslebens ist, wie oben begründet, die Überwindung des Eigenwillens, was auch bedeutet, nichts als eigen haben zu wollen. Die Mönche sollen daher in Armut leben. Die bereits erwähnte Tatsache, dass im 12. Jh. dennoch einige Mönche in russischen Klöstern nicht unerheblichen Privatbesitz hatten, war ein deutliches Zeichen sittlichen Verfalls. Um so eindrucksvoller ist das Beispiel des Fürsten Svjatoslav Davidovic von Cernigov, eines Urenkels des Kiewer Fürsten Jaroslav, der 1106 sein ganzes fürstliches Vermögen den Armen gab und in das Kiewer Höhlenkloster als einfacher Novize eintrat. Dort verrichtete er in einer Mönchskutte aus besonders grobem Stoff viele Jahre untergeordnete Tätigkeiten.9 Insgesamt lebte er 36 Jahre bis zu seinem Tode asketisch in diesem Kloster.
Eine weitere wichtige Form der Askese ist die sexuelle Enthaltsamkeit, wobei jedoch das Zölibat in der Ostkirche nur für Mönche, nicht für “weltliche” Geistliche gilt. Sexuelle und andere sittliche Begierden sind Äußerungen des Eigenwillens, die der Mönch in sich bekämpfen muß. Nur so kann er zu jener Leidenschaftslosigkeit (“Bezstrastie”) kommen, die der Bischof Dionisij von Suzdal im Jahre 1382 in einem Schreiben an das Kloster von Snetigorsk als höchsten geistigen Zustand des Mönchslebens bezeichnet
hatte. 10
3. Lobpreisung - Ikone als “Urbild” - Gebet - Mystik
Die Abkehr vom Eigenwillen durch Askese ist nur eine, die verneinde Seite des Mönchtums, die andere, die bejahende, ist die Hinwendung zu Gott. Sie kommt in der “Lobpreisung” zum Ausdruck. Der zentrale Begriff in der (russischen) orthodoxen Kirche “Pravoslavie” wird zwar oft als “Rechtgläubigkeit” übersetzt, ist aber seinem tieferen Sinne nach als “rechte Lobpreisung” zu verstehen.11
Die Lobpreisung Gottes und der Heiligen ist ein wesentlicher Teil der orthodoxen Liturgie. Hierbei hat besonders in der russischen Kirche die Ikonenverehrung außerordentliche Bedeutung. Das hängt wahrscheinlich u. a. damit zusammen, dass, wie schon erwähnt, als Folge des byzantinischen Bilderstreites viele Mönche in das nördliche Schwarzmeergebiet kamen, welche die überzeugtesten Bilderverehrer waren. Eine tiefere Begründung gibt die Nestorchronik, indem sie Basilios d. Gr. mit den Worten zitiert: “Die Ikona geht auf das Urbild zurück.”12 Dieses Zitat entspricht der von neuplatonischen Vorstellungen beeinflußten orthodoxen Auffassung, wonach sich in den Ikonen die Urbilder (Archetypen) der Heiligen und ihrer himmlischen Welt widerspiegeln.13 Deshalb wird nicht das Bild als solches angebetet, sondern das Urbild, welches in ihm “erscheint “. Der Mönch, der sich in kontemplativer Betrachtung in das Heiligenbild versenkt, bis er sich gleichsam in ihm “verliert”, nimmt immer weniger den Unterschied wahr, der zwischen ihm und dem Inhalt des Bildes, des Heiligen, besteht, wodurch er schließlich die Einheit zwischen sich und dem im Bild dargestellten Heiligen als innere Erfahrung erlebt.
Eine ähnliche Wirkung hat das Gebet, denn in ihm vollzieht sich, wie im 6. Jh. der Kirchenlehrer Johannes Klimakos sagte, “die Vereinigung der Seele mit Gott.”14 Das wird nur möglich, weil das Gebet “nicht ein bloßes Denken an Gott (ist), sondern das Sichunterwerfen des menschlichen Willens unter den göttlichen Willen.”15 So wird im Gebet der von Gott trennende Eigenwille geistig überwunden, während die Askese, wie oben dargelegt, die äußere Zurückdrängung des Eigenwillens ist. Deshalb bestimmten Gebete und Askese den Alltag altrussischer Mönche.
Wenn in der Andacht die Worte immer mehr meditativem Schweigen weichen, dann nähert sich der Mönch dem “Geistigen Gebet”, dem Höhepunkt ostchristlicher Mystik.16 Mystik (von griech. myein, Augen oder Lippen schließen) ist ein Verschließen der Sinne vor allen äußeren Eindrücken, um sich in innerer Sammlung allein Gott zuzuwenden und am Ende in Gott oder im Göttlichen aufzugehen (unio mystica).17 Das ist Ziel und Sinn des Mönchtums in der Ostkirche und erklärt den asketisch-mystischen Geist, in welchem viele der altrussischen Mönche lebten.
Anm.:
1 - Nach Plotinos, dem wohl bedeutendsten Philosophen des Neuplatonismus, war der "Anfang des Unheils ... der Wille, sich selber anzugehören." (Enneaden V, 1, 1. Zit. nach Paul Deussen, Allgemeine Geschichte der Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der Religionen; Bd. II, 1. Abt., 2. Aufl., Leipzig 1919, S. 490.)
Zur entsprechenden christlichen Auffassung s. Friedrich Heiler, Die Religionen der Menschheit, 3. Aufl., Stuttgart 1980, 32.
2 - Zit. nach Igor Smolitsch, Leben und Lehre der Starzen, Wien 1936, S. 31.
3 - Zit. nach Nikolaus von Arseniew, Das Mönchtum und der asketisch-mystische Weg in der Ostkirche, besonders in Rußland, o. J., S. 162.
4 - Nestorchronik, a. a. O., S. 113.
5 - Ebd., S. 133.
6 - Ebd., S. 133.
7 - Ebd., S. 132.
8 - Das ist ein Beispiel für frühen Vegetarismus in Europa, s. dazu > Geschichte des Vegetarismus.
9 - Das Dienen in Demut und Gehorsam hat für die Mönche tiefere Bedeutung. Nach dem Worten Johannes Klimakos ist der Gehorsam "ein Begräbnis des Willens". (Zit. nach Smolitsch, Russisches Mönchtum, a. a. O., S. 474.)
10 - Ammann, a. a. O., S. 211.
11 - In diesem Sinne auch Heiler, a. a. O., S. 469.
12 - Nestorchronik, a. a. O., S. 81 f.
13 - Vgl. hierzu Ernst Benz, Geist und Leben der Ostkirche, Hamburg 1957, S. 7 ff.
14 - Zit. nach Smolitsch, Starzen, a. a. O., S. 36.
15 - Alfred Bertholet, Wörterbuch der Religionen, 3. Aufl., Stuttgart 1976, S. 192.
16 - S. hierzu Smolitsch, Starzen, a. a. O., S. 41 und Russisches Mönchtum, a. a. O., S. 473 ff.
17 - Vgl. dazu auch >Mystik und deren philosophische Erklärung durch Schopenhauer.