III. Bedeutung des altrussischen Mönchtums
In der Mystik ist der Blick nach innen und nicht nach außen, auf das Weltliche, gerichtet. Deshalb ist der Gedanke naheliegend, dass das altrussische Mönchtum seine Augen vor den Nöten der Umwelt verschlossen hätte. Eine solche Vorstellung wäre jedoch unberechtigt, wie das Beispiel zahlreicher russischer Mönche und Einsiedler beweist. So wird vom hl. Feodosij berichtet, dass er - vergleichbar den frühchristlichen Eremiten - Helfer der Armen, Kranken, Witwen und Waisen gewesen sei. Die Lebensbeschreibung (Vita) Feodosijs und das Väterbuch (Paterik) des Kiewer Höhlenklosters bezeugen die umfangreiche karitative Tätigkeit dieses Klosters. Obwohl genauere Angaben fehlen, kann angenommen werden, daß die Wohlfahrtsarbeit der russischen Klöster im 11. / 12. Jh. erhebliche Bedeutung hatte, zumal die Klöster nicht nur Askese lehrten, sondern zugleich den Geist christlicher Nächstenliebe in Wort und Tat zu vermitteln suchten. Die religiöse Motivierung für solches soziales Engagement kommt in der “Belehrung” (Poucenie) des Kiewer Fürsten Wladimir Monomach zum Ausdruck. Darin ermahnte er seine Söhne, nicht die Armen, Witwen und Waisen zu vergessen, denn “weder Einsiedlertum, noch Mönchtum, noch Fasten” 1 würden Gottes Gnade bewirken, sondern gute Werke.
Die erfolgreiche Christianisierung des Kiewer Reiches ist durch die vom Fürsten Wladimir befohlene Massentaufe allein nicht zu erklären. Vielmehr war es die Arbeit der Mönche und ihr asketisches Leben als Vorbild christlicher Frömmigkeit, welche dem Volke das Christentum innerlich nahebrachten. Ohne dafür besondere Orden wie in der römisch-katholischen Kirche zu gründen, nahm so das russische Mönchtum wichtige soziale und missionarische Aufgaben wahr.
Der Einfluß der russischen Mönche ging weit über den religiösen Bereich hinaus, weil nur sie das Amt des Beichtvaters ausüben konnten. Da im alten Russland der Beichtvater bei vielen Fürsten und reichen Leuten an der Testamentserrichtung mitwirkte und als Lebensberater bei weltlichen Fragen diente, konnten die Mönche auch oft in sozialer und politischer Hinsicht erhebliche Bedeutung gewinnen.
Besonders wichtig waren die Klöster, vor allem das Kiewer Höhlenkloster, für die Entwicklung der russischen Kultur. So wurde das Schrifttum im alten Russland von Mönchen verfaßt. Obwohl es mehr oder weniger religiösen Inhalt hatte, zeigten sich in ihm schon frühzeitig national-russische Tendenzen, wie die altrussischen Predigten und Chroniken bezeugen. Durch ihre in national-russischer Gesinnung geschriebenen Werke trugen die Mönche entscheidend zum Entstehen eines nationalen Selbstbewußtseins im russischen Volke bei. Zugleich schufen sie damit die ersten geistigen Voraussetzungen für die spätere Selbständigkeit (Autokephalie) der russisch-orthodoxen Kirche.
Weitreichende Folgen hatte die Tatsache, dass Russland von Byzanz zu einer Zeit missioniert wurde, als nach dem Bilderstreit die Mönche dort außerordentlich an Einfluß gewonnen hatten. Das ist einer der Gründe, warum dem russischen Mönchtum innerhalb seiner Kirche von Anfang an eine zentrale Rolle zukam. Äußerlich ist das schon daran zu erkennen, dass in der russischen Kirche nur Mönche Bischöfe werden können. Entsprechend seiner starken Stellung wirkten sich Askese und Mystik des russischen Mönchtums auch auf seine Kirche aus. Je mehr aber eine religiöse Gemeinschaft von Askese und Mystik beherrscht wird, desto weniger ist sie an Theologie interessiert. Denn Mystik ist ausgerichtet auf unmittelbares “Schauen” des Göttlichen,2 das sich als “Unbegreifliches” jeder Begriffsbildung und damit logischem Denken entzieht. Hieraus erklärt sich u. a., warum die russische Kirche keine Theologie und mithin auch keine Scholastik vergleichbar der römisch-katholischen Kirche herausgebildet hat. Deshalb fehlte im alten Russland eine wesentliche Voraussetzung für das Entstehen von Klosterschulen.3
Durch die Gründung des Kiewer Höhlenklosters einerseits und der Stifterklöster andererseits entwickelten sich zwei verschiedene Typen des russischen Klosterwesens. Da die Einsiedlermönche zu weltlichen Fragen (Klosterbesitz, Verhältnis zum Staat u. ä.) eine grundsätzlich andere Einstellung hatten als die Fürstenklöster, mußte das im Zuge der allgemeinen politischen Entwicklung zu Konflikten führen. Einsiedlermönche und staatskirchliches Mönchtum waren Gegensätze. Sie verkörperten das unauflösbare Spannungsverhältnis zwischen asketisch-mystischer Lebensführung und Weltlichkeit.
Im altrussischen Mönchtum liegen die Anfänge des Starzentums. Bereits der Gründer des Kiewer Höhlenklosters, Antonij, wird in der Nestorchronik “ Starez ” genannt.4 Starez ist eine ehrfurchtsvolle Bezeichnung für einen Mönch, “der einen schweren Weg entsagungsvoller Selbsterziehung hinter sich hat und junge Mönche wie auch Laien in seine geistige Schulung nimmt.”5 Die Geschichte des russischen Mönchtums und vor allem seiner Starzen zeigt, dass Askese und Mystik Quellen der Spiritualität waren, die auf weite Bereiche des religiösen und geistigen Lebens Russlands ausstrahlten. Im Jahre 1911 wurden auf einer Zusammenkunft von Mönchen aus verschiedenen russischen Klöstern die Aufrechterhaltung des Starzentums, seine Schulung der jungen Mönche und die Fortsetzung der alten asketischen Tradition als die wichtigsten Aufgaben des Klosterlebens bezeichnet.6 Hieran wird deutlich, wie sehr das altrussische Mönchtum über viele Jahrhunderte hinweg Vorbild geblieben war.
Anm.:
1 - Nestorchronik, a. a. O., S. 197.
2 - Zum "mystischen Schauen" s. Smolitsch, a. a. O., S.475 und Benz, a. a. O., S. 87.
Zum grundsätzlichen Verständnis s. auch > Meditation - Kontemplation - Versenkung.
3 - Zur Frage, ob und inwieweit trotzdem "Schulunterricht" in den Klöstern stattfand, s. Leopold Karl Goetz,
Das Kiewer Höhlenkloster als Kulturzentrum des vormongolischen Russlands, Passau 1904, S. 164.
4 - Nestorchronik, a. a. O., S. 114.
5 - Smolitsch, Starzen, a. a. O., S. 21.
6 - Smolitsch, Russisches Mönchtum, a. a. O., S. 529.