aus einzelnen Zyklen
Wer fand in einem doppelten Kegel sein Asyl?
Oben schützt ihn der Helm vor den Dämonen.
Er suchte nach der Wahrheit, die hell und dunkel ist.
Not des Lebens fand in dem Tod die Grenze.
Vergangenheit atlantisch, und jetzt am Mittelmeer,
In der Urne begegnen sich die Zeiten.
Die feurige Verwandlung, ein Männlein jung geglüht,
Aufgerichtet im Kreis der weißen Steine.
Ein Feuerrad, die Funken entfliehen, und sie sind
Eingeritzt in die Wand eines Gefäßes.
Was nach der Flamme kommt, ist vergessen, doch du weißt:
Bleiben wird, was in eine Urne eingeht.
(aus: „Etruskisches Tarot“, 1997)
Mit schön gezeichnetem Kleide zeigt sie
Sich dir vom Rasen, dann vom Baumstumpf,
Huscht bald wieder ins Unsichtbare.
Auf ihrer Haut lese ich die Zeichen.
Sie trägt Verborgenes vor Augen,
Sieht auch aus – wie von andern Welten.
Nun will ich nicht nur die Rätsel lösen.
Ich wünschte, auf die Haut zu schreiben,
Botschaften für entrückte Reiche.
Doch wenn es kalt wird, erstarrt die Echse,
Nur tote Buchstaben zu lesen
Wie in Büchern, für Geld geschrieben.
(aus: „Am Kap des Palinuro“, 2001)
Den schützenden Wall verläßt
Das Heer der Slawen, das frohgemute
Begleitet Schalmei und Pauke.
Geschmiedet die Schwerter, ach,
Den Acker nicht, ihres Feindes Völker
Gedenken sie umzupflügen.
Verlörn sie des Tags die Schlacht,
Perun gewänn sie bei Nacht, das Pferd noch
Am Ort, von der See umschlungen,
Darüber die Brücke führt,
Entgegen zög er auf weißem Tiere
Dem Gotte des Christenheeres.
(aus: „Slawische Tänze“, 1987)
Du darfst dein Tuschebild beginnen,
Wenn jede Wendung dieses Baumes
Zum Ereignis in dir geworden.
Mit Weidenkohle vorgezeichnet
Der Stamm, von seinen Knoten wachsen,
Zart nur deute sie an, die Zweige.
Die Blätter, feine Pinselstriche,
Mit einem Schwung sind sie beschrieben,
Doch die Seiten des Stamms gerade.
Die Schrift von Blättern, dünn und kräftig,
Der Zweige in verschiedner Richtung
Spricht von deiner verborgnen Freude.
(aus: „Die Orchidee. Bilder aus dem China der Sung-Dynastie“, 1987)
Es fehlen ihr die grünen Blätter,
Und in der Farbe ihres Fleisches
Blüht im Grase sie unbekümmert.
Sie fände auch in diesem Herbste,
Das höre ich die Freundin sagen,
Keine Zeit mehr für ihre Früchte.
Wer ihrem Reize nicht erlegen,
Erhielte von der Zauberischen
Einen giftigen Trank bereitet.
Dafür erhellte sie des Morgens
Ihm, der zum Abend sie besuchte,
Noch die Wegstrecke nach Atlantis.
(aus: „Die Wanderung“, 1988)
Geträumt hatte ich als Kind
Von einem Helden, der, kampfesmüde
Dem Hünen begegnend, siegte.
Er sandte uns dies Geschenk,
Und wenn die Äste dereinst es rührten,
Erklang es wie eine Glocke.
Du sprachst mir vom Spangenhelm,
Sein Stirnband glänzte, den Weinstock führend,
Woran sich die Vögel laben.
Mit dem wir verwandt nun sind,
Wenn Dietrich aber erzürnte, schoß ihm
Der Feuerstrahl aus dem Munde.
(aus: „Die Rabenfibel“, 1985)
aus dem Chinesischen („Die Reise nach Südost“, 1988/1989)
Am Abend legt ich mich leeren Magens nieder,
Morgens stehe ich auf und habe Hunger.
Die arme Küche, was hat sie mir zu bieten?
Reis und herbstliche Malven kann ich finden.
Die roten duftigen Körner muß man sieden,
Gelbe Blüten, die glatten und die dicken.
Der Hunger kommt und verliert sich nach dem Essen,
Ich bin satt und ich kann jetzt wieder denken,
An Jahre, da ich dem Blühenden zugegen,
Bis zum Tage, da müd ich mich entfernte.
Ich litt seither nicht an Frost, noch sollt ich hungern,
Überflüssiges hab ich nie besessen.
Im Mund verringerte nimmer sich die Speise,
Und am Leibe behielt ich meine Kleidung.
Ich leg die Hand an das Herz und frag mich selber,
Was bedeuten mir Aufblühn und Vergehen?
Ich lernte nie, das gewohnte Maß zu legen.
Feiner wäge ich zwischen Recht und Unrecht.
Die Sängerinnen beenden ihre Lieder,
Rote Ärmel enthalten sich des Tanzes.
Der alte Tschao ergreift die Fünfsaitige,
Hält sie dicht an die Brust, beginnt zu spielen.
Die großen Töne, die gröberen, zerstreun sich,
Winde sausen, vermischen sich mit Regen.
Die kleinen Töne, die feineren, verhallen,
Von Dämonen gedrängte Flüsterworte.
Als ob die Elster vorauseilte der Freude,
Unheil höre ich aus dem Schrei des Affen.
Bei keiner Tonart verweilten seine Finger,
Kung- und Yü-Klänge folgen aufeinander.
Es hörn im Hause die Gäste diese Töne,
Sind, an Leib und an Geist, wie Herrenlose.
Es hörn die wandelnden Gäste diese Töne,
Still der Fuß, den sie nicht mehr heben können.
Das Ohr gewöhnlicher Menschen aber liebt nur
Gegenwärtiges, schätzt nicht mehr das Alte.
Des Fensters Harfe, des grünen, wächst hingegen
Tag für Tag aus dem Staube dieser Erde.
(aus: „Das Kupferbergwerk“, Fragmente 1977 bis 1989)
Selig sind die Zeiten, in denen sich Gott und Mensch paarten, Objektives und Subjektives noch zueinander fanden, da wenige Blicke genügten, um die Welt in ihrer Ganzheit zu erfassen. Das gegenwärtige Zeitalter aber ist in die Nacht getaucht, und es bedarf schon des Wahnsinns eines Narren, um sie gelegentlich zu erleuchten. Der Funke seines Witzes springt von der einen Seite hin zu der anderen, von innen nach außen, erhellt die Welt für einen Augenblick. So verbinden sich die Hälften noch einmal, finden sie ihre Einheit wieder. Der Humorist bejaht seine Gegenwart, dazu gehört - wir ahnen es - sehr viel Humor. Hat der Redner aber ein Gesetz gefunden, nach dem die Welt zu besprechen wäre, die Teile vernichtend, um etwas ganz Neues zu schaffen, ein eigenes Reich, so darf er mit Recht den königlichen, den Titel eines Poeten tragen.
Wird die gegenwärtige Gesellschaft, wenn sie in diesem Tempo voranschreitet, bald wieder die Steinzeit erreichen?
Der Mensch der klassischen Eiszeit lebte noch im Zusammenhang mit der ihn umgebenden Natur. Der Mensch der Jungsteinzeit schafft dann die Antithese. Durch feste Wohnorte, durch Hütten, also durch den Innenraum, durch seine Gedanken setzt er sich der Außenwelt entgegen, die ihm seitdem feindlich gesinnt erscheint.
Diese Gegenüberstellung nimmt in unserer Zeit tendenziell ab. Die Feindlichkeit der Außenwelt und damit ihr Gegenüber-Sein wird aufgehoben durch eine umfassende Urbanisierung der Welt. Alles wird zum „Innenraum”, alles wird menschlich geprägt.
Damit beginnt die herkömmliche Trennung Innen-Außen unwirklich zu werden. Der moderne Mensch, der über die Kräfte seines Zeitalters verfügt, gleicht wieder einem eiszeitlichen Zauberer. Allerdings sind beide in ähnlicher Weise gefährdet. Die Gefahr ist gefaßt im Bild des Eises.
Ich höre auf einem DDR-Sender das Lied von Bob Dylan. Vor knapp einer Stunde brachte der Westrundfunk die Meldung, Ungarn öffne nach Österreich die Grenze für DDR-Bürger. Ein Abkommen aus dem Jahre 1969 würde damit außer Kraft gesetzt. Ich höre dies mit einem lachenden und einem weinenden Auge, aber der Bann ist gebrochen.
In der DDR ist man gewillt, eine sozialdemokratische Partei zu formieren. Jetzt wird die schöne Zeitlosigkeit bald vorbei sein. Die sich bisher entgegen den Zeittendenzen behauptende Insel wird bald vom Ozean des 20. Jahrhunderts überrollt werden. Man ahnt mit Goethe wieder einmal die Heraufkunft eines poesiefeindlichen Geschlechts. - Oder sollten die Tendenzen in Richtung postindustrieller Gesellschaft eine Aufnahme des Ariadne-Fadens gestatten? (10. September 1989)
Heiner Müller sagte auf der großen Berliner Demonstration am 2. November 1989 seinen Zuhörern, daß der DDR Arbeitslosigkeit und Preiserhöhungen bevorstehen würden. Er ist damit dem Laokoon zu vergleichen, der seinem Troja den Untergang für den Fall prophezeite, daß es das hölzerne Pferd in die Burg einlassen würde. Eine Schlange erdrosselte ihn und seine Söhne.
Nun wurde Müller nicht erdrosselt, sondern nur ausgepfiffen. Die DDR ist freilich auch nicht Troja zu vergleichen und Herr Krenz ist kein Hektor. Seit dem Jahr 1945 sind die Mythen auf deutschem Boden nur noch halb so viel wert.