Treffpunkt Buch plus | Frühjahr 2017
Spannende Forschung
Gianfranco D’Anna lehrt Physik und ist gleichzeitig Schriftsteller – eher eine cosa rara in der Welt der Wissenschaft. Dieses Bändchen ist ein flotter, kleiner Roman. Er erzählt die Geschichte von der Bestimmung der Elementarladung des Elektrons anfangs des letzten Jahrhunderts sowie die Rolle der beteiligten Personen im Kontext der Zeit. Neben Ludwig Boltzmann, Albert Einstein und Felix Ehrenhaft treten Ernst Mach, Robert Millikan und seine zwei Doktoranden Louis Begemann und Harvey Fletcher auf. Die Bühne der Handlung ist das I. Physikalische Institut in Wien und die University of Chicago. Wesentliche Requisiten sind Metallpulver, Nebelkammern, Wasser- und Öltröpfchen.
Im Vordergrund erzählt D’Anna die Geschichte und die Umstände, die zur Erkenntnis und Bestimmung der Einheit der kleinsten elektrischen Ladung führten. Im Hintergrund sind mit spitzer Feder der Zeitgeist in der Forschung, der damalige Wissenschaftsbetrieb sowie die Charaktere der oft kantigen Physiker gezeichnet. Man liest über Sympathien, Antipathien, gesellschaftliche Zwänge, kulturelle Besonderheiten, Irrwege, Tricks sowie kleine Versäumnisse mit großen Folgen.
Für Studenten ist heute der Millikan-Versuch mit seinen geladenen Öltröpfchen oft ein unproblematischer Praktikumsversuch. Damals war es keineswegs so. Wissenschaftshistoriker gehen inzwischen davon aus, dass Millikan zunächst unsauber mit seinen Messwerten umgegangen ist und die Beiträge seiner beiden Doktoranden vorsätzlich verschwieg – was wissenschaftlich und menschlich einen Schatten auf den Nobelpreisträger von 1923 fallen lässt. Wo sind die Grenzen der Ethik? Von der Darstellung dieses Spannungsfeldes lebt das Buch.
Es gibt keine Anachronismen oder physikalische Ungenauigkeiten. Alles ist schlüssig – bis auf eine ärgerliche kleine Irreführung des Verlags, ausgerechnet auf dem Buchdeckel, die Einsteins Theorie zur Brownschen Molekularbewegung fälschlicherweise auf „die Existenz des Elektrons“ bezieht. Gianfranco D’Anna gibt sehr menschlich und differenziert die Charaktere und Stimmungen um 1910 wider. und nur Idealisten mögen glauben, dass im heutigen Wissenschaftsbetrieb oder in der industriellen Forschung alles anders sei. Eine gelungene Kombination aus spannender Geschichte, Menschenkenntnis und Fachwissen.
Das geteilte Elektron, Gianfranco D’Anna, 224 S., Verlag Die Brotsuppe, Biel 2016, ISBN: 978-3-90568977-8.
Ulrich Finkenzeller, Plankstadt