Seit über 75 Jahren profitiert die Stadt Gelnhausen von der Entjudung durch die Nazis:
Die Vertreibung und Enteignung des Ludwig Scheuer
Im Jahr 1935 wurde der Kaufmann Ludwig Scheuer aus der Burgstrasse 34 in Gelnhausen schwer misshandelt. Der 35-jährige Jude wurde dreihundert Meter vor seinem Haus von zwei Nazis zusammengeschlagen. Er konnte sich kaum nach Hause schleppen. "Durch diese schweren Verletzungen verlor ich soviel Blut, dass, wie ich später erfuhr, der Weg von der Überfallstelle bis zu meiner Wohnung mit Blut gezeichnet war", erinnert er sich.
Etwa eine halbe Stunde nach diesem Überfall drang eine Rotte von fünfzig SA-Leuten in sein Haus ein. Ludwig Scheuer versteckte sich in der Dachkammer, wurde aber schliesslich gefunden. Eine Zeugin erinnert sich 1947 an den Vorfall:
"Er [Scheuer] wurde an den Beinen gefasst und so umhergezerrt, dass er die Treppe abglitt und sich so blutende Wunden am Kopf zuzog. Bei dieser Aktion hatte der damalige SA-Sturmführer Dudene die Befehlsgewalt, und er war es, der die Tätlichkeiten gegen den Juden Scheuer ohne weiteres einstellen konnte bzw. nicht dulden brauchte. Er war aber mehr oder weniger mit dem Tun seiner Männer voll und ganz einverstanden, und die Handlungsweise, mit der der Jude Scheuer behandelt wurde, fand voll und ganz seine Billigung."
Ludwig Scheuer ist für immer gezeichnet. Gehen kann er nicht mehr, so schleift man ihn ins Gelnhäuser Gefängnis. "Mein Körper und Gesicht waren eine blutige Masse", schreibt er später.
Der Gefängnisaufseher Hasenauer und seine Frau nehmen sich seiner an und versuchen, ihm so weit wie möglich zu helfen; auch ein Arzt wird hinzugezogen. Nach etwa drei Wochen im Gefängnis wird Ludwig Scheuer entlassen mit der Auflage, Gelnhausen noch am gleichen Tag zu verlassen und das Stadtgebiet nie wieder zu betreten.
Er zieht nach Frankfurt, muss, um operiert werden zu können, in ein künstliches Koma versetzt werden und bleibt lange Zeit in chirurgischer und zahnärztlicher Behandlung.
Was hatte die beiden Männer dazu veranlasst, Ludwig Scheuer zu überfallen? War es allgemeiner Hass auf jüdische Bürger, hatte Ludwig Scheuer eine unbedachte Äusserung getan, handelte es sich um ein geplantes Vorgehen der NS-Organisationen oder was sonst? Wir wissen es nicht.
Die Familie Scheuer lebte schon lange in Gelnhausen. Der Vater Samuel Scheuer betrieb im Anwesen Burgstrasse 34 eine Alteisen-, Häute- und Fellehandlung. Die Kinder besuchten Gelnhäuser Schulen.
Ludwig wurde, nachdem er die Realschule beendet hatte, nach Frankfurt in die Lehre geschickt. Hier machte er eine kaufmännische Ausbildung. Danach ruft ihn das Vaterland zu den Fahnen: Der Erste Weltkrieg war schon fast verloren, da wird der 18jährige Ludwig Scheuer noch eingezogen, die angeblich bedrohte Heimat zu verteidigen, – in Belgien und Frankreich. Das Vaterland hat ihm seinen Einsatz schlecht gedankt.
In den zwanziger Jahren arbeitet Ludwig Scheuer im Geschäft seines Vaters mit, das er 1929 übernimmt. Aber – die Zeiten sind schlecht. Die Weltwirtschaftskrise 1929 ruiniert in der Folgezeit viele klein- und mittelständische Unternehmen; auch mit dem Geschäft Scheuers geht es bergab. Mehrere Hypotheken müssen aufgenommen werden und im Dezember 1931 ist es dann schliesslich soweit: Die Dresdner Bank erwirkt ein Versäumnisurteil gegen Ludwig Scheuer. Sie könnte nun das Anwesen, das direkt an der alten Kaiserpfalz liegt, versteigern, aber sie lässt sich Zeit. Sie macht vorläufig gar nichts, denn sie weiss, die Zeit läuft für sie. Es laufen Zinsen und Unkosten auf und irgendwann wird schon ein günstiger Zeitpunkt für eine Zwangsversteigerung kommen. Und er kommt. Denn gut ein Jahr später sind die Nazis an der Macht und damit wird die jüdische Bevölkerung zunehmend rechtlos. Erst 1939(!) entschliesst sich die Dresdner Bank zur Zwangsversteigerung des Hauses Burgstrasse 34.
Was war inzwischen geschehen?
Die Dresdner Bank war in den Jahren des Dritten Reiches zu einer beherrschenden Wirtschaftsmacht aufgestiegen. Sie hatte frühzeitig von der "Arisierungspolitik" der Nationalsozialisten profitiert und war zur führenden Geschäftsbank der SS geworden. Und: Die Nazis sorgten dafür, dass jüdisches Eigentum reichsweit unter Preis verkauft wurde. Extra eingerichtete Gauwirtschaftsstellen wachten darüber, dass jüdischer Besitz zu Billigpreisen von "Ariern" erworben wurde. Im Februar 1939 ersteigerte die Stadt Gelnhausen das Haus Scheuer für 5.000 Reichsmark. Dem gegenüber standen die Hypotheken-Schulden aus den Anfängen der Dreißiger Jahre, die im Grundbuch eingetragen waren: 8.863 Reichsmark. Dazu kam im Lauf der Jahre ein Berg von Zinsen, Steuern und anderen nicht nachvollziehbaren Kosten.
Zum Zeitpunkt der Zwangsversteigerung 1939 hatte Ludwig Scheuer Deutschland bereits den Rücken gekehrt. Als die Stadt Gelnhausen das Anwesen Burgstrasse 34 1939 ersteigerte und in Besitz nahm, sei es ausgeräumt gewesen, beteuert 1950 der Anwalt der Stadt Dr. Becker-Schaffner, ein unter dem Nazi-Regime amtierender Amtsgerichtsrat. Wer hatte das Haus ausgeräumt? Möbel, Hausrat und ein Kassenschrank mit Wertpapieren im Wert von etwa 2.500 Reichsmark befanden sich noch dort, als man Scheuer verjagte. Wer hatte es an sich genommen? War das Haus geplündert worden? Oder hatten die Behörden es räumen lassen? Ludwig Scheuer – seit seinem traumatischen Erlebnis 1935 in Frankfurt am Main – heiratet 1938 und reist mit seiner Frau noch im gleichen Jahr nach Argentinien aus.
Die nationalsozialistische Stadt- und Kreisverwaltung wird gut mit der Filiale der Dresdner Bank zusammengearbeitet haben, denn alle leitenden Positionen bei Behörden und Banken waren mit Parteigenossen besetzt. Wenn Ludwig Scheuers Schulden den Wert seines Hauses überstiegen hätten, – wie der Anwalt der Stadt Gelnhausen 1950 den Eindruck zu erwecken versucht – hätte man Scheuer nicht ausreisen lassen. Zudem wurden alle ausreisenden Juden mit einer "Reichsfluchtsteuer", einer "Auswanderungsabgabe" und sonstigen Gebühren ausgeplündert.
Die Sache entwickelt sich zu einer unendlichen Geschichte. Die Scheuers hatten es schwer, sich in Argentinien eine neue Existenz aufzubauen. Ludwig Scheuer ist seit 1935 ein kranker Mann. Als die Nazis endlich den Krieg verloren hatten, drängten die Siegermächte auf die Rückerstattung von "arisiertem" Vermögen. Nach dem Gesetz Nr. 59 von 1947 konnten ehemalige jüdische Eigentümer die Rückgabe ihres Besitzes beantragen. Die Schnäppchenjäger und Leichenfledderer der "Endjudung" wurden nun zur Kasse gebeten; die deutsche Beutegemeinschaft, die sich in jeder Region Deutschlands bereichert hatte, sollte endlich zur Ader gelassen werden.
In vielen Fällen hatten die alten Eigentümer allerdings den Holocaust nicht überlebt. Damit kamen zahlreiche Besitzstücke gar nicht erst zur Verhandlung. Aber in diesem Fall hatte die Stadt Gelnhausen Pech; denn: Ludwig Scheuer lebt noch.
Er beantragt 1948 die Rückgabe seines Anwesens sowie die entgangenen Mieteinnahmen. Die Stadt Gelnhausen aber denkt nicht daran, die Burgstrasse 34 zurückzugeben. Der ehemalige Amtsgerichtsrat von Nazis Gnaden Dr. Becker-Schaffner zieht im Auftrag der Stadt alle Register. Ludwig Scheuer muss sich einen Rechtsanwalt in Deutschland nehmen. Er beauftragt Dr. Werner Höhne aus Schwelm in Westfalen. Diesen ermächtigt er, auch etwaig zu schließende Vergleiche vorzunehmen. Aber das Verfahren zieht sich hin. Ein Brief von Argentinien nach Deutschland brauchte damals mehrere Wochen. Um selbst seine Interessen in die Hand zu nehmen, müsste Ludwig Scheuer herkommen, – in das Land, das ihn vertrieben und schändlich behandelt hatte. Das kostet viel Geld und die Strapazen einer Reise kann er nicht mehr auf sich nehmen. Die Familie ist bitterarm. Ein Jahr nach dem anderen vergeht. Die Stadt Gelnhausen spielt auf Zeit. Die Rückgabe des Hauses wird immer unwahrscheinlicher. Dann – 1952 endlich – schließt der Anwalt Dr. Höhne einen Vergleich ab: Die Stadt Gelnhausen behält ihr auf übelste Art und Weise erworbenes Eigentum am Haus Scheuer. Ludwig Scheuer erhält die lächerliche Summe von 2.150 DM zugesprochen. Der Betrag geht auf das Treuhandkonto von Dr. Höhne. Ob Ludwig Scheuer das Geld je erhalten hat, bleibt bis heute äußerst zweifelhaft. Der Weg von Deutschland nach Argentinien ist weit und Ludwig Scheuer ist tot. Er starb 1967 im Exil.
Die Stadt Gelnhausen aber profitierte von der Entjudungs-Politik der Nazis: Bis heute ist das Anwesen Burgstraße 34 in ihrem Besitz.
2003 stellte die Fraktion der Grünen im Stadtparlament Gelnhausen den Antrag auf Rückgabe des Hauses. Dieser wurde von der konservativen Mehrheit abgelehnt. Stattdessen verschob man das Problem in eine ″Ethik-Kommission″, die über über eine ″Geste der Wiedergutmachung″ nachdenken sollte. Dabei kam nichts heraus.
Ludwig Scheuers Tochter, Ana Stern, geborene Scheuer, hat ihren Kampf um ihr Haus nie aufgegeben. Sie starb darüber 2008. Der Urenkel des SA-Sturmführers Heinrich Dudene, der 1935 den Überfall auf Scheuers Haus leitete, wurde 2007 Bürgermeister von Gelnhausen. Er heißt Thorsten Stolz und gehört der SPD an. Auf einen offenen Brief im Jahr 2008 mit der Aufforderung, das Anwesen Burgstraße 34 zurückzugeben, reagierte er mit Ignoranz. Das hat ihm nicht geschadet. Im Gegenteil. Sein Bürgermeisteramt hat er längst aufgegeben. Er ist heute Landrat des Main-Kinzig-Kreises. Das jämmerliche Stück Burgstraße 34 ist seit langem in den Katakomben des Schweigens verschwunden.
Die Ereignisse sind näher beschrieben in:
Christine Wittrock:
Kaisertreu und führergläubig. Impressionen aus dem Altkreis Gelnhausen 1918 – 1950, CoCon-Verlag Hanau 2006, 204 S., ISBN 978-3-937774-27-5, 16,80 €