Vorwort von Roshi Marcel Geisser

Liebe Online-Studierende,

lieber Online-Studierender!

Ich freue mich sehr darüber, dass du dich für diesen Lehrgang interessierst! Der Buddha lehrte 45 Jahre lang unermüdlich. In den darauf folgenden Jahrhunderten wurden viele seiner Lehrreden auswendig gelernt und mündlich überliefert. Mit der Zeit überwogen die intellektuellen Erörterungen und die Mönche verloren sich oft in zeitraubenden Diskussionen. In der Zeit, als der Buddhismus nach China kam, wurden daher von etlichen Meistern die Meditation und die direkte Erfahrung wieder ins Zentrum ihres Lehrens gestellt. So ist es heute nicht weiter verwunderlich, dass insbesondere in vielen Zen-Schulen geradezu eine gewisse Abneigung gegen jede intellektuelle Annäherung vorherrscht. Dies wird oft untermauert mit Gedichten der alten Meister wie folgendes von Daio Kokushi:

In der Absicht, Blinde anzuziehen,

liess Buddha seinem goldenen Munde

spielerische Worte entspringen;

seitdem sind Himmel und Erde

überwuchert mit dichtem Dornengebüsch.

Bereits im 7. - 8. Jh. wurde diese Einstellung durch eine Hagiographie über das Leben des 6. Patriarchen Hui-neng idealisiert; darin wird er gar als ein Analphabet verherrlicht und Hui-neng soll einzig aus spontaner Einsicht erleuchtet worden sein. Diese Version wird heute noch von vielen Zenlehrern unhinterfragt übernommen, obwohl uns die moderne Forschung ein ganz anderes Bild von Hui-neng zeigt. Er war kein Sohn einer armen Mutter, der Feuerholz sammeln musste, sondern ein Kind aus gutem Hause und darum auch, wie in diesen Kreisen üblich, gut belesen und als junger Mönch geschult in den buddhistischen Schriften. Dennoch gibt dieses Bild einen wichtigen Hinweis: Da der Intellekt dualistisch arbeitet, hat er weder die Aufgabe noch die Kraft, uns die alles entscheidende Erfahrung zu vermitteln, unsere wahre Natur zu sehen und uns damit grundlegend vom Anhaften zu befreien. Dies ist Sache der stillen, meditativen Praxis.

Dennoch sollten wir den Intellekt nicht verwerfen, sondern ihn dort einsetzen, wo er uns in unserem ganzen Bestreben nach Befreiung unterstützt. Aus diesem Grund hat mich Thich Nhat Hanh 1992 aufgefordert, ein buddhistisches Institut für "Higher Buddhist Studies" zu gründen. Dieses Ziel schien mir damals zu weit gegriffen und somit initiierte ich ein "Buddhismus-Seminar", das ich 9 Jahre lang anbot und von dem viele Menschen profitierten. Bald einmal bemerkte ich, dass die Teilnehmer und Teilnehmerinnen mehr und mehr eine Art "Textgier" entwickelten und die Umsetzung im täglichen Leben immer mehr in den Hintergrund rückte. Auf der Suche nach einem Ausgleich entstand das "Vertiefende Training", wie wir es heute im Haus Tao kennen. Hier werden Studium, Dharmagespräche, formelle Meditation und Praxis im Alltag in ausgewogener Weise kombiniert.

Da wir in den letzten drei Jahrzehnten im Haus Tao eine fundierte und bewährte Praxis erarbeitet haben, scheint es mir an der Zeit, ein fundiertes vertiefendes Studium anzubieten, das nicht aus dogmatischen Texten besteht, sondern den Sati-Zen-Geist widerspiegelt: alltagsnah, praktisch umsetzbar, zeitgemäss und kritisch. Auf diese Weise wird das intellektuelle Verständnis nicht überbetont, sondern wirkt klärend und inspirierend. Relativ bald, nachdem wir die ersten Module erarbeitet hatten, erkannten wir, dass die Arbeit so wertvoll ist, dass sie nicht in unserem begrenzten Freundeskreis zurückgehalten werden sollte.

Möge jede und jeder Studierende dieselbe Begeisterung verspüren, wie ich sie auch nach 50 Jahren Buddhismus noch verspüre!

Marcel Geisser, Meditationszentrum Haus Tao

www.haustao.ch