Ein reicher Bauer und seine Frau konnten nicht richtig glücklich werden da sie erst keine Kinder bekamen. Doch dann bekamen sie einen Sohn, den sie Jörg nannten und sie verwöhnten ihn viel zu sehr. Kein Wunsch wurde ihm abgeschlagen, keinerlei Arbeit musste er verrichten, sogar in Milch wurde er gebadet. Schon als Bub machte es ihm Spass, Tiere zu quälen. Später übertrug sich diese Lust auf die Menschen. Kein Knecht und keine Magd war vor seinen Attacken sicher. Er jagte seine Mutter aus dem Haus, damit er mit seiner Braut Kathi ungestört sein konnte. Als er Kathi vom Tal auf die Alp holte, liess er ihr eine Treppe bauen, die aus Eichenholz gemacht war. Die Wege liess er aus Käse pflastern. Seine Lieblingstiere, die Kuh Brändi und der Hund Ryn, wurden mit Leckereien gefüttert, während die Bediensteten nur schlechte Milch bekamen. Seine Mutter musste im Tal hungern und erkrankte schwer. Als sie auf die Blüemlisalp zurückkehrte, um ihrem Sohn um Hilfe zu bitten, war er besonders grob zu ihr. Zu trinken reichte er seiner Mutter nicht etwa frische Milch, sondern einen Eimer mit minderwertiger Schotte. Das Brot bestrich er ihr mit Mist, während er Butter in den Ofen warf, damit das Feuer besser brannte. Schweigend verliess die Mutter die Alp, beschämt und zum Sterben bereit. Vorher aber verfluchte sie ihren Sohn noch. Sie hatte die Worte noch nicht beendet, da zogen bereits finstere Wolken am Himmel zusammen. Peitschende Winde stürzten herab und rüttelten an den Felsen. Hagel fiel vom Himmel. Die Berge konnten dem Sturm nicht standhalten. Sie brachen ein und begruben die Blüemlisalp unter einem Meer von Stein und Eis. Von Jörg und Kathi sahen und hörten die Menschen nie mehr.
Die bekannte Sage wird in ähnlicher Form mit dem entsprechenden Lokalkolorit im ganzen Alpenraum erzählt. Wunderbare Alpen werden als Strafe für frevlerisches, verschwenderisches und gotteslästerliches Verhalten der Besitzer/innen verflucht und in eine Stein- und Eiswüste verwandelt. Der bekannte Sagen- und Märchenforscher Max Lüthi charakterisierte die Geschichte als Warn- und Kontrastsage.
Sie warnt vor Hartherzigkeit, Hochmut und verschwenderischem Reichtum. Kontrastsagen zeigen Schlag- und Gegenschlag; idyllische Zustände verwandeln sich in Verwüstung durch Fels und Eis.
Dem Eis der Herzen folgt die Vereisung der Landschaft – eine archetypische Geschichte der Vertreibung des Menschen aus dem Paradies.
Wie weit darf der Mensch in seinem Tun gehen? Eine ethische Frage, die in der Menschheitsgeschichte immer wieder auftauchte, sei es im Bereich der Technik, der Forschung, der Medizin, der Politik, im nahen Umfeld… Welchen Preis zahlen wir Menschen dafür, welche Opfer hinterlassen wir in unserem Tun?
Was sind die Folgen?
Oft wurden in früheren Zeiten Naturkatastrophen, Krankheiten (Epidemien) als Zeichen der Strafe für menschliches Fehlverhalten gedeutet, viele Sagen finden ihre Wurzeln darin. Nach einer Wärmeperiode im Frühmittelalter setzte ab dem 15. Jahrhundert auf der Nordhalbkugel die Kleine Eiszeit ein.
Das Gletscherwachstum während dieser Klimaperiode war das stärkste seit der langandauernden Vereisung der letzten Eiszeit. Gletscher drangen zwischenzeitlich tief in Täler vor, zerstörten zum Teil Höfe und Dörfer; ein bedrohliches Szenario für die Menschen in den Alpen.
Sagenforscher ordnen deshalb die Blüemlisalp Sage in diesen in diesen Kontext ein.
Heute erleben wir das Gegenteil: die Klimaerwärmung lässt Gletscher bedrohlich schmelzen, der Meeresspiegel steigt an, Lebensräume sind bedroht. Der Mensch sieht sich in der Verantwortung, stösst an Grenzen, die technische Entwicklung hat weitreichende Spuren hinterlassen. Und die Thematik von Macht, Habgier und Unterdrückung, wie sie in der Sage auftaucht, hat nichts an Aktualität eingebüsst.