Postscriptum der Autorin

Helene Krulich im Juli 2012

Ich bin mir sicher, dass sich die Leser meines Buches ein anderes Ende meiner Erzählung gewünscht hätten. Dasselbe gilt für mich. Ich wäre gerne in der Lage gewesen zu versichern, dass Österreich, ein demokratischer Staat, in seiner Politik Gerechtigkeit übte und alle Menschen gleich behandelte. Ich wäre froh gewesen, den Lesern zu demonstrieren, dass unsere „Freie Welt“ mutig den Drohungen eines terroristischen Staates trotzte, dass die Demokratie sich nicht vor wirtschaftlichen Einbußen fürchtete – die zudem nur vorübergehend gewesen wären, während der moralische Schaden auf lange Zeit nachwirkt. Trotzdem sind das nur fromme Wünsche an eine unvollkommene Demokratie. Es sind nur Hoffnungen im Bezug auf das Justizwesen in unseren freien Staaten, deren Rechtssprechung in den Verfassungen als unabhängig festgeschrieben ist, sich in der Praxis aber der „Staatsraison“ nicht entziehen kann. Dennoch weisen meine Wünsche klar auf den Grund hin, warum es mir nicht gelungen ist, den Institutionen der Regierung Gerechtigkeit für die in Wien im Jahr 1989 ermordeten kurdischen Opfer abzuringen. Daran änderte es auch nichts, dass dieser Fall im Hinblick auf die Auftraggeber und die Ausführenden so offensichtlich war. Aber die in unserer Welt herrschende Hierarchie im Umgang mit den Übeln dieser Welt wurde beibehalten: Man kümmert sich um sie, wenn sich das Risiko in Grenzen hält, man hält sich heraus, wenn es gefährlich wird.

Der Mordfall in einer Wiener Privatwohnung war heikel. Er löste in Österreichs Hauptstadt Bestürzung aus. Von allen Seiten eilten österreichische und ausländische Journalisten hierher, um über das Geschehene zu berichten. Die Angelegenheit erregte international Aufsehen. Abdul Rahman Ghassemlou war eben hier ermordet worden. Er war der Anführer einer Bewegung und einer Partei gewesen, die jahrelang mit ihren Peschmergas den Mut gehabt hatte, gegen die militärischen Angriffe und die Bomben der Regierung der Islamischen Republik Iran Widerstand zu leisten. Schon seit langem und noch zu Lebzeiten Khomeinis hatten die iranischen Machthaber die Eliminierung des Generalsekretärs der DPKI geplant. Zweimal war es ihnen in Kurdistan misslungen, ihn zu töten. In Wien war es ihnen nun gelungen. Und sie ließen die Verantwortlichen in der österreichischen Regierung zweifellos auf diplomatischem Wege wissen, was angezeigt war: Die beiden als Profikiller verdächtigen und von der Polizei kurz angehaltenen, iranischen Staatsbürger freizulassen und die Ermittlungen zu diesem Mordfall in eine andere Richtung zu lenken. Sollte dies nicht geschehen und sich damit zeigen, dass die Österreicher außerstande seien, auf ihrem Territorium iranische Staatsangehörige (auch die ermordeten Kurden waren ja solche) zu schützen, wäre auch der Iran nicht länger für die Sicherheit österreichischer Staatsbürger auf seinem Gebiet verantwortlich. Das war geschliffene Diplomatie ohne jeden Skrupel, eine teuflische Drohung – ein Fach, in dem die mächtigen Mullahs Meister sind. Allerdings waren es nicht nur die Drohungen, die unseren Fall so schwierig machten.

Zu jener Zeit hatten im Gefolge der (letztlich mit der Feilassung der Opfer beendeten) Geiselnahme der Angehörigen der Botschaft der USA in Teheran viele Staaten ihre diplomatischen sowie auch Handels-Beziehungen mit dem Iran abgebrochen. Eben war man im Begriff, diese Kontakte wieder herzustellen. Zu akzeptieren, dass die Ermordung der Kurden in Wien diese Annäherung behindern könnte, war unerwünscht, weil diesen Plänen nicht zuträglich. Angesichts dieser Gefahren für die internationalen Bestrebungen gab die österreichische Regierung nach: Die Mörder wurden freigelassen und auf die Untersuchung des Verbrechens verzichtet. Die Staatsräson dominierte.

Als ich jung war, bedeutete Demokratie für mich auch die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz, die Schaffung einer aktiven und gerechten Gesinnungsgemeinschaft von Handelnden und staatlicher Justiz. Ich glaube immer noch, dass die Demokratie dem Respekt vor diesen Werten verpflichtet ist, aber mein Glaube daran hat durch die Erfahrungen in meinem Leben gelitten.

Es heißt auch, dass die Vergangenheit in der Versenkung verschwinden soll und dass nur die Zukunft zählt. Was für eine schöne Idee! Aber es zeigt sich, dass sich diese Vergangenheit so früher oder später auflöst, dass sie ihre Flügel verliert und von ihr nichts als Leere zurückbleibt – oft eine gefährliche Leere (soll sie schlechtes Gewissen beruhigen?). Die Erinnerung des Menschen und die der Welt ist für uns jener Wert, der die Vergangenheit an die Gegenwart heranbringt und sie mit der Zukunft verbindet, die so zum Erben der gelebten, menschlichen Erfahrungen wird. Unser Gedächtnis ist die Speicherung einer Vergangenheit, die das verdient, und bestimmt zugleich den Wert unserer vorübergehenden Anwesenheit hier.

Auch sollte nicht übersehen werden, dass das menschliche Wesen wissen will, ja sogar darauf drängt zu begreifen, was ihm widerfährt. Wenn das nicht so wäre, würde den Menschen Leere umgeben – und ich selbst konnte nur einen winzigen Rand jenes Vorhangs zur Seite schieben, hinter dem sich die ganze Wahrheit als Ursache meines gescheiterten Bemühens verbirgt, der Gerechtigkeit zum Durchbruch zu verhelfen. Unsere Demokratien praktizieren eine Justiz, die zugleich durch Staatsgrenzen, durch die Regeln der Wirtschaft, durch bevorstehende Wahlen und – durch Angst eingeschränkt wird.

All dem zum Trotz hoffe ich, dass eines Tages diese Praktiken hinfällig, obsolet, ja sogar unbegreiflich sein werden, die heute noch unsere Demokratien bestimmen, und dass diese neue Ära von unserer Geschichte Rechenschaft einfordert.

Auch während der beiden vergangenen Jahrzehnte ist Kurdistan in seinem heute auf vier Staaten aufgeteilten Käfig ungeachtet gewisser Veränderungen nach wie vor qualvoll unterdrückt und jener unveräußerlichen, nationalen Rechte beraubt, die jedem Volk prinzipiell zustehen. Einzig das irakische Kurdistan erfreut sich einer realen (Semi-)Autonomie innerhalb des Staates Irak. Obwohl dort noch keineswegs alle Probleme gelöst sind, und der Irak und sein Kurdistan sich in einer Übergangsphase befinden, in der es noch vieles zu lernen und zu erledigen gibt, zeigt sich dort in wichtigen Bereichen der Fortschritt.

Blickt man jedoch über die irakische Grenze in den Iran, so hat die islamische Herrschaft nicht aufgehört, ihren Weg zur „totalen Säuberung von Ungläubigen“ durch die Ermordung einer Vielzahl ihrer politischen Gegner im Inland ebenso wie im Ausland fortzusetzen. Abdul Rahman war eines dieser Opfer. Dennoch unterschied sich sein Fall von den anderen. Kein anderer Oppositioneller wurde am einem Tisch ermordet, an dem Friedensverhandlungen zwischen den Kriegsgegnern abliefen. Das war eine noch über die anderen Morde hinausgehende Monstrosität.

Und wie gehen wir als Überlebende mit dieser für uns immer noch gegenwärtigen Vergangenheit und den traumatischen Erinnerungen um? Wir, die wir Zeugen der Kämpfe, der Herausforderungen, von Verrat und Enttäuschung, aber auch von Erfolgen und Augenblicken des Glücks sowie von Tragödien wurden? Da sind der unmittelbare Schmerz, die Resignation und die Frage, wie das Vermächtnis der Verstorbenen am Leben erhalten werden kann. Es entsteht so etwas wie ein Gespräch mit realen Worten über das Imaginäre. Wenn einen Tragödien persönlich treffen, lassen sie sich weder mildern noch abschieben. Sie umfassen einen wie ein Panzer, der einen niederdrückt und jeden Schritt erschwert. Sie lassen einen weiterleben – aber wie? Das ist eine Falle. Es liegt an einem selbst, zu entscheiden und einen Ausweg zu finden. Es ist unmöglich, die Erinnerung verblassen zu lassen, alles zu vergessen und es der Seele zu erlauben, sich zu erholen. Ein endgültiger, totaler Verlust ist kaum zu ertragen. Die Entschwundenen müssen weiterleben, in einem selbst und um einen herum. Es ist ein unheilbares Leid, eine Vergangenheit, derer sich das Gedächtnis nicht entledigen kann. Das Geschehene prägt das weitere Leben, und es ist zu akzeptieren, dass es für immer unauslöschlich bleiben wird. Die Vergangenheit zwingt der Gegenwart und der Zukunft einen permanenten Kampf auf.

Die Zeit bleibt nicht stehen. In der Familie Abdul Rahmans haben sich auch glückliche Wendungen ergeben. Die Enkelkinder sind erwachsenen geworden und zwei Urenkelinnen sind geboren. Die Familie ist gewachsen, und ihre Mitglieder haben mit ihrer Geschichte so gut es ging einen Platz im Leben gefunden – in Stockholm, in Prag, in London und in Paris. In gewisser Weise verteilten sich unsere Kinder und Enkelkinder ähnlich der Kurdischen Diaspora, obwohl sie sich, anders als die Kurden, politischer Aktivitäten enthielten.

Ich selbst bin nach der Tragödie nur noch ein Mal nach Kurdistan gereist. Das war vor dem Ausbruch des zweiten Golfkriegs (im August 1990) und bevor im Anschluss daran die Flugverbotszone über dem irakischen Kurdistan verfügt wurde. Hier traf ich im November 1989 in deren Hauptquartier mit den Repräsentanten der DPKI zusammen. Nach Paris kehrte ich mit den Zusicherungen des damaligen Generalsekretärs Dr. Sadek Scharafkandi zurück, mich in jeder nötigen Weise bei meinem bereits eingeleiteten, gerichtlichen Kampf zu unterstützen, um den Terroranschlag auf Abdul Rahman und Abdollah Ghaderi Azar aufzuklären und die internationale Öffentlichkeit über diesen Skandal von Wien zu informieren. Gleichzeitig wurde ich mit der Erfüllung von Abdul Rahmans Letztem Willen beauftragt.

Drei Jahre später, 1992, beendete der Oberste Gerichtshof in Österreich das Verfahren und wies meine Klage gegen die Republik ab. In den darauffolgenden Jahren konzentrierte ich meine Anstrengungen darauf, weiterhin die internationale Öffentlichkeit über diese „Wiener Affäre“ zu informieren. Auch noch, als ich meine Wohnung in der französischen Hauptstadt aufgegeben hatte und in ein Dorf nach Südfrankreich übersiedelt war, wo ich hoffte, meinen Seelenfrieden und mein psychisches Gleichgewicht wieder zu erlangen, reiste ich weiter herum, um diese Öffentlichkeitsarbeit fortzuführen. In jenem Dorf habe ich übrigens auch einen mittelgroßen Hund adoptiert. Er wurde mir ein treuer Begleiter für viele Jahre bis zu seinem natürlichen Ende aus Altersgründen.

Mit der Zeit wurde in mir der Wunsch zunehmend stärker, in die Nähe jener Mitglieder meiner Familie zu ziehen, die in meiner Geburtsstadt Prag lebten. Damals war mein Land bereits die freie Republik und ein Mitgliedsstaat der Europäischen Union geworden. Aber, nach und nach wuchs dann in Prag das Gefühl einer schmerzlichen Entfremdung. Ich fühlte mich rastlos und heimatlos und kehrte schließlich nach Frankreich zurück. Dort ließ ich mich in einem Vorort von Paris nieder, wo ich letztlich doch ein Daheim fand. Hier lebe ich als französische Staatsbürgerin, und hier sind im vergangenen Jahr auch meine Erinnerungen als Buch erschienen.

Bald wäre Abdul Rahman nun 82 Jahre alt geworden. Manchmal versuche ich, mir vorzustellen, was er hätte tun können, um die Ereignisse im Mittleren Osten nach seinem Tod zu beeinflussen. Welche andere Entwicklung hätten seine Handlungen für die Geschicke der Kurden gebracht? Unterschiede hätte es sicherlich gegeben, denn er war ein geschickter Diplomat und ein Vollblutpolitiker, kein Utopist oder Träumer.

Die Generationen nach seinem Tod bringen auch Nachfolger, die sein Werk fortführen und mit der Zeit seine Ideen gemäß der sich wandelnden Gesellschaft weiterverbreiten und weiterentwickeln werden.

Sein Volk hat ihn auch nach mehr als zwei Jahrzehnten nicht vergessen. Er ist zu einem Symbol von dessen fortgesetztem Kampf um Grundrechte und Freiheit geworden. Aus Anlass jedes Jahrestages seines gewaltsamen Todes wird seiner gedacht. Geschäftsleute schließen ihre Läden, die Beleuchtung in Wohnungen wird ausgeschaltet und an ihrer Stelle werden Kerzen angezündet, das Land versinkt in Dunkelheit. Man gedenkt dessen, der seinen Kampf für Kurdistan mit dem Leben bezahlt hat. Auch im Ausland versammeln sich Angehörige der DPKI und Freunde zu Gedenkveranstaltungen.

Nein, er ist nicht vergessen.