Kapitel 4 Der Untergrund

Auf diese Weise begann Lenas Leben im Untergrund, das dauern sollte und die kleine Mina ebenso betraf. Von Tag zu Tag lernte sie ihren Mann besser kennen. Sie beobachtete dessen Verhalten, die Arbeit und die Gewandtheit, mit der er seine Gedanken ausdrückte. Es schien, als ob er aus reinem Metall gemacht wäre – intelligent, belesen und geistvoll. Die Ergebnisse bestätigten die Korrektheit seiner Einschätzungen und politischen Entscheidungen. Von der Wahrheit überzeugt, für die er eintrat, übertrug er seine Sicherheit auf die Kameraden.

Lena hatte sich in ihm nicht geirrt, und ihre Liebe wurde immer stärker. Er gehörte jener Sorte von Kämpfern an, die über die Weisheit einer unkomplizierten Psyche verfügen. Um für ein Problem eine Lösung zu finden, befreite er sich von allem, was ihn ablenken oder behindern könnte. Er wusste in gewisser Weise mit unwiderlegbarer Logik, dass die im täglichen Kämpfen notwendigen Aktivitäten für alle menschlich erträglich und begreifbar zu sein hatten und dass das Ziel des Kampfes immer klar sein musste. Seine Mitkämpfer hörten ihm aufmerksam zu und diskutierten gerne mit ihm. Er war ein guter Pädagoge.

In der gesamten, hinter ihr liegenden Zeit hatte sich Lena mit den Bräuchen und Traditionen dieser Gesellschaft vertraut gemacht, obwohl viele davon bereits im Begriff waren zu schwinden. Viele Iraner waren zu Dissidenten geworden, und das Regime des Schah griff hart gegen die Opposition durch, gleichgültig, ob sie von Persern oder von nationalen Minderheiten ausging.

Die Freiheitskämpfer hatten Angst, aber sie sprachen nicht darüber. Auch Lena fürchtete sich und wollte es nicht zugeben. Seit ihrer Ankunft in Teheran wechselten sie permanent den Unterschlupf und lebten unter ständig wechselnden Namen. Lena war mit bestimmten Aufgaben betraut worden, und sie war nicht untätig. Sie machte das Layout und klebte die Artikel der Rundschau „Kurdistan“, die Abdul Rahman und seine Kameraden wieder publizierten, und trug das Blatt an einen Ort in Teheran zu ebenfalls im Untergrund tätigen Verteilern. Sie überbrachte Botschaften und stand, mit ihrem Tschador getarnt, Wache, wenn sonst niemand zur Verfügung war. Sie war eine der nützlichen Figuren auf einem Schachbrett.

Das Leben, insbesondere das von Revolutionären, war ein Gewirr von strahlenden Sonnentagen und verzweifelten Nächten.

Elf Menschen zu versorgen, und kein Geld

Eine der von ihnen benützten Unterkünfte lag neben dem Polizeikommissariat Nummer 1 (kalantari yek). Das Haus gehörte einem reichen Anhänger der Religion Zarathustras. Sie wohnten im letzten Stockwerk. Vom Balkon aus konnten sie die Gärten eines der königlichen Paläste sehen. Das konnte unklug erscheinen, aber sie sagten, „hinter der Laterne ist Schatten“.

Neben Abdul Rahman, Lena, Mina und dem Cousin Ismaïl versteckten sich hier noch sieben Männer, alle leitende Personen der DPKI. Einzig und allein Ismaïl konnte das Haus verlassen, da nur er nicht polizeilich gesucht wurde. Er besuchte die polytechnische Schule. Damit war es er, der die Einkäufe und sonstigen Erledigungen besorgte sowie Botendienste leistete. Beim Gemischtwarenhändler an der Ecke hatte er ein Schuldenkonto eröffnet. Die Untergetauchten bezahlten ihre jeweiligen Schulden bis zu jenem Tag, an dem sie es nicht mehr konnten. Der Händler weigerte sich, weiter Kredit zu geben, und die Aufständischen waren wochenlang ohne normale Nahrung. Sie aßen trockenes Brot, Reis und Hülsenfrüchte, die Lena in besseren Tagen als Vorrat aufbewahrt hatte.

Jeden Monat kam der Hausherr vorbei, um seine Miete zu kassieren. Es war immer Abdul Rahman, der mit ihm sprach. Lena und Mina zeigten sich ebenfalls. Die anderen versteckten sich in einem Zimmer, ohne ein Geräusch zu machen. Abdul Rahman bat ihn nun, noch etwas Geduld zu haben, und der Hausbesitzer ging wieder. Er setzte sie nicht auf die Straße und drohte ihnen nicht. War er auch einer der Oppositionellen? Jedenfalls war das wieder ein Wunder. Aber vielleicht ist der Begriff „Wunder“ nicht ganz angebracht: Viele Iraner waren bereits zu Oppositionellen geworden.

Lena war neuerlich schwanger geworden, und ein neues Leben reifte in ihrem Bauch heran. Ihre Tage waren sehr ausgefüllt: Es war sie, die sich um alle häuslichen Angelegenheiten alleine kümmerte. Sie musste außerdem dafür sorgen, dass Mina trotz allem Mangel nicht Hunger litt. Die Kleine war noch keine zwei Jahre alt.

In totaler Verborgenheit kann das Leben auch ziemlich langweilig werden. Um diese Langeweile zu überwinden, beschäftigte sich jeder, wie er konnte. Lena hatte den Kameraden „Konzerte“ klassischer Musik auferlegt. Es gab nur vier Schallplatten: von Ravel, Rimski-Korsakow, Beethoven und Borodin. Wenn sie Karten spielten, dienten Hülsenfrüchte als Spielgeld: weiße Zwergbohnen, Erbsen, normale weiße und rote Bohnen... Als sie das alles aufgegessen hatten, ersetzten sie es durch Streichhölzer, dann durch kleine Papierstücke, auf die der jeweilige Wert geschrieben war. Die Musik füllte den Raum, machte ihn lebendig, und es war belustigend, vor sich einen Teller mit Bohnen als Gewinn zu haben. Lena zwang sie sogar zu einem Minimum an Verhaltensweisen, die für das Zusammenleben in einer kleinen Wohnung notwendig waren. Wenn sie murrten, hielt sie sich nicht zurück und wies sie zurecht. Dazu benötigte sie allerdings oft Unterstützung durch Abdul Rahman. Obwohl jener noch nicht der große Kurdenführer war, der er werden sollte, war er ein Chef. Er meinte, er dürfe sich nicht um Lappalien kümmern, die Frauenangelegenheit waren, wenn er weiterhin von den Kameraden respektiert werden sollte. Das würde ihn in deren Augen erniedrigen. Damit lastete die gesamte Hausarbeit auf Lena allein. Es gab neun Männer in der Wohnung, und jeder hatte seine Gewohnheiten, seine eigenen Interessen, seine Verhaltensweisen. Daraus resultierten mitunter Reibereien. Lenas Hilferufe gaben Abdul Rahman schließlich doch Gelegenheit, von den Männern eine gewisse Disziplin zu verlangen. Wenn der Chef das verlangte, waren sie eher bereit zu gehorchen.

Obwohl sie die Jüngste von allen war, hatte sie die Rolle einer älteren Schwester. Das war zumindest am Verhalten der Männer zu bemerken. Sie warteten ungeduldig, bis sie mit ihrer Arbeit fertig war, um mit dem Kartenspiel beginnen zu können. Währenddessen fadisierten sie sich und gingen herum, aber keiner kam auf die Idee, ihr zu helfen.

Mina dagegen war eine Ausnahme. Ohne es wissentlich zu wollen, half dieses freundliche und lachende Kind seiner Mutter, indem es die Männer veranlasste, mit ihm zu spielen. Und die Männer ließen es sich gefallen. Als Lena eines Tages Mina mit ihren Blicken suchte, während sie mit der Hausarbeit beschäftigt war, sah sie das Kind auf der Mauer des Balkons balancieren. Das war im fünften Stock! Ahmad T. hatte seine Hände hinter dem Rücken verschränkt, ging unten auf dem Boden hinter Mina her, sprach mit ihr, und sie antwortete. Lena fuhr der Schreck in die Glieder. Vorsichtig näherte sie sich der Kleinen und packte sie. Als sie wieder imstande war zu sprechen, sagte sie Ahmad klar ihre Meinung (er war einer von denen, die ihr am meisten auf die Nerven gingen). Er antwortete ihr mit einem Lächeln, sie sollte sich nichts antun. Wenn die Kleine hinunter gefallen wäre, hätte er die Verantwortung dafür übernommen. Lena traute ihren Ohren nicht.

„Idiot! Was hätte mir deine Verantwortung genützt, wenn sie tot gewesen wäre!“, schrie sie, ohne sich zu beherrschen. Abdul Rahman eilte herbei, um sie zu beruhigen, aber sie wollte sich nicht beruhigen. Sie hatte genug von herumhängenden Kämpfern, die gar nicht kämpften und ihre Tochter in Gefahr brachten.

Mitten in der Nacht ein Schah-Offizier vor der Tür

Eines Nachts, es war schon nach Mitternacht, und alle schliefen, läutete die Glocke an der Türe. Es war wie ein Bombenanschlag. Der einzige, der je anläutete, war der Besitzer, aber der tat das nie zu so fortgeschrittener Stunde.

Fassungslos, verwundert und im Pyjama schlichen alle lautlos zur Türe und versuchten, irgendwelche Geräusche von draußen wahrzunehmen. Aber im Stiegenhaus war nichts zu hören. Das konnte dann nur die Polizei sein! Noch einmal schlug die Klingel an, diesmal leise. Abdul Rahman fasste Mut und fragte mit sehr tiefer Stimme:

„Wer ist da?“

Eine kaum vernehmbare Stimme antwortete. Abdul Rahman öffnete die Türe einen Spalt und stand versteinert. Das war ein Offizier! Dieser kam mit festem Schritt herein und ging in Richtung des Wohnzimmers. Keiner war ihm gefolgt. Er nahm einen Sessel, setzte sich nieder und entfernte seine Schirmmütze. Es war Kiah Nuri! Er war Mitglied des Politbüros der Tudeh-Partei und hatte sich als Offizier des Schah verkleidet. Die Erleichterung war groß. Noch etliche Tage lang wurde darüber gewitzelt, wodurch sich das Entsetzen vergessen ließ, das sie alle erfasst hatte.

Als fast alle wieder schlafen gegangen waren, konnte Lena nicht einschlafen. Ihre Angst um das werdende Kind und die Sorge, was aus Mina im Fall ihrer Verhaftung werden würde, kamen wieder. Sie versuchte ununterbrochen, diese Gedanken zu verscheuchen, weil sie nichts tun konnte, um das Problem zu lösen. Aber durch den Besuch Kiah Nuris wurden die Ängste intensiver. Abdul Rahman hatte sich mit dem Ankömmling im Wohnzimmer eingeschlossen. Jener ist weggegangen, wie er gekommen war, ohne ein Geräusch.

Am folgenden Tag drehten sich die Gespräche um einen Wechsel der Unterkunft. Man musste sich verteilen. Es ist leicht, nach einem verlorenen Kampf Kritik zu üben. Es war jedoch aberwitzig gewesen, dass die Verantwortlichen der verschiedenen Regionen Kurdistans für so lange Zeit dasselbe Versteck miteinander geteilt hatten. Hätte tatsächlich die Polizei sie in diesem Moment festgenommen, wäre die gesamte DPKI ohne politische Führung gewesen. Sie mussten also neue, geheime Unterkünfte finden. Aber wie, ohne Geld? Vorerst wurde entschieden, dass sie diese Wohnung noch nicht verlassen würden, zumal die Polizei auf organisatorischer Ebene auch nicht effizienter war als die DPKI oder die anderen politischen Parteien.

Keuchhusten und ein Arzt, der doch auf das Honorar verzichtet

Die Kleine wurde krank. Aber keiner durfte das Haus verlassen, und die Geldbörse war leer. Die Männer trösteten Lena, indem sie ihr versicherten, das Kind würde von selbst gesund werden. Diese Art von Argumenten hatte sie schon in Rezajeh gehört!

Bis dahin war es Lena gelungen, Mina trotz der unzureichenden Ernährung gesund zu halten, indem sie für regelmäßigen Schlaf sorgte und ihr ihre ganze Liebe gab. Aber die Erkrankung schien schwer zu sein. Mina hustete so heftig, dass ihr kleines Gesicht grau wurde. Sie erstickte beinahe. Das war unhaltbar, und die Männer hörten nicht auf, das immer Gleiche zu versichern. Jetzt begann Mina zu streiken: Entweder es würden ein Arzt gefunden und Medikamente aufgetrieben oder sie würde nicht mehr für den Haushalt arbeiten. Zu guter Letzt bat Abdul Rahman Ismaïl, in die Stadt zu gehen, um Geld und einen nicht teuren Arzt zu besorgen.

Ismaïl kam ohne Geld zurück, aber man hatte ihm einen Arzt empfohlen, der „humanistisch“ sei, sie mit dem Kind empfangen, ihnen Medikamente geben sowie kein Honorar verlangen würde.

Da Lena das unbedingt wollte, sollte sie alleine hingehen.

Keiner der Männer, auch nicht Ismaïl, wollte sie begleiten. Sie schimpfte über die männliche Feigheit, aber sie hatte keine Wahl. Fast schon sieben Monate schwanger und mit ihrer Tochter im Arm, musste sie zu Fuß anderthalb Stunden hin- und ebenso lange zurückmarschieren, weil nicht einmal das Geld für einen Bus da war.

Im Juni ist die Hitze in Teheran unerträglich. Lena mache sich früh am Morgen auf. Die Praxis des Arztes öffnete um neun Uhr. Vor dem nicht mehr ganz jungen Mann fühlte sie sich verlegen. Er diagnostizierte Keuchhusten, verschrieb Medikamente und verlangte Honorare, obwohl sie gleich beim Eintreffen um eine kostenlose Behandlung gebeten hatte. Sie wurde immer verlegener und wiederholte zaghaft ihre Bitte. Der Arzt sah sie ungläubig an und strecke ihr das Rezept hin. Lena legte es auf den Tisch und sagte mit mehr Entschlossenheit, dass sie es nicht benötigte, weil sie die Mittel nicht habe, die Medikamente zu kaufen. Vielleicht war es ihre festere Stimme, zumal sie bis dahin aus Verlegenheit nur gestammelt hatte, die den Arzt umstimmte? Er ging zum Medikamentenschrank, gab ihr das, was sie brauchte, und sagte mit ernstem Ton: „Khoda hafiz, Khanom (Leben Sie wohl, gnädige Frau).“

Sie ging, ohne sich zu bedanken. Nach allem, was sie von den Männern im Haus hinnehmen hatte müssen, war diese neuerliche Erniedrigung zuviel, um sich dafür noch erkenntlich zu zeigen.

Die Straßen waren inzwischen sehr belebt, voll mit Passanten und Straßenhändlern. Inmitten des Trubels fühlte sie sich besser. Sie empfand ein Gefühl von Freiheit nach der langen Zeit des Eingeschlossenseins. Sie fing an, hierhin und dorthin zu gehen, setzte sich auf den Gehsteigrand, um auszuruhen, und dachte nicht mehr an die Gefahr oder an die Polizei. Im Laufe des Nachmittags kam sie mit ihrer Kleinen zurück ins Haus und war mit ihrem Schicksal versöhnt. Mina erholte sich normal. Das Leben ging mit all seinen Schikanen weiter.

„Während ich warte, trinke ich ein Glas auf eure Gesundheit“

Die Zusammenkünfte der Partei fanden daheim statt. In besseren Zeiten hatte es hier auch feierlichere Versammlungen etwa zu Ehren der Ankunft eines Kameraden oder sonst eines Ereignisses gegeben. Die festlichen Essen waren unter solchen Umständen auch feuchtfröhlich. Normalerweise eröffnete Kak Saddiq die Zusammenkünfte mit einer Ansprache, die mit Interesse und Freude verfolgt wurde: Er bediente sich keiner Floskelsprache und war ein wirklich begabter Redner.

Kamerad G. trank viel. Wenn es ihm sein Budget gestattete, war es Wodka, wenn nicht, war er mit wohlfeilem Arak zufrieden. Kak Saddiq begann seine Reden immer mit: „Du weißt, Kak Rahman...“, und dann stellten sich die Zuhörer auf eine lange Ansprache ein. G. sah mit großer Begierde sein Glas mit dem Wodka an (man trank immer am Ende der Rede), zappelte unruhig, räusperte sich und versuchte, Kak Saddiq dazu zu bringen, seine Mitteilungen abzukürzen. Aber dieser trug dem nicht Rechnung. G. wusste nicht, was er tun sollte, um eine Chance zu finden, sein Glas zu leeren, ohne gegen das Ritual zu verstoßen. Er litt, und das war offensichtlich. Eines Tages fand er endlich eine Lösung. In dem Augenblick, in dem Kak Saddiq sein legendäres „Du weißt, Kak Rahman...“ sagte, stand G. blitzartig auf, das Glas in der Hand, und erklärte mit fester Stimme: „Liebe Kameraden, während ich warte, trinke ich ein Glas auf eure Gesundheit. Vivat!“ Und er trank das Glas aus, ohne auf die Reaktion der Versammelten zu warten. Weil er der Älteste war, schuldete man ihm Respekt. Bei den folgenden Treffen war sein Ritual bereits Routine. Aber sein „Kameraden, während des Wartens...“ wurde zu einem häufig gebrauchten Stichwort, das Gelächter auslöste.

Die verheimlichte Geschlechtskrankheit

G. war ein schweigsamer Mann. Ganz selten richtete er ein Wort an seine Kameraden, nie an Lena. Er sah den Menschen nicht in die Augen und war nicht das, was man umgänglich nannte. Elf Personen lebten unter demselben Dach, die finanziellen Mittel waren sehr beschränkt, aber nichtsdestoweniger hielt G. es für legitim, beim Essen die jeweils größten und besten Stücke für sich zu beanspruchen. Noch dazu war er wegen jeder Kleinigkeit beleidigt. All das störte Lena, aber Abdul Rahman kanzelte sie ab, weil man wegen G.’s Alter vor diesem Respekt haben musste. Es blieb ihr nichts übrig, als auf diese Dinge nicht mehr zu achten. Das war leicht gesagt. Sie strengte sich enorm an, um alle Abläufe und damit das Zusammenleben reibungslos zu halten. Aber G. trug dazu wahrlich nichts bei!

Ein sehr ärgerliches Erlebnis hat am Ende die geringe Achtung, die Lena für ihn noch gehabt hatte, völlig zerstört. Es war sie, die für alle die Schmutzwäsche wusch, obwohl sie schwanger war. Sie kochte ihre Unterwäsche, schwemmte sie anschließend, wand sie mit den Händen aus und hängte sie in der Wohnung auf, um die Nachbarn nicht aufmerksam zu machen. Weil der Platz begrenzt war, legte sie Stöße von Unterhosen und Hemden der Männer aufeinander.

G. hatte, was niemand wusste, Gonorrhöe. Einmal sah Abdul Rahman, wie er ein Medikament nahm, und G. musste mit der Wahrheit herausrücken. Abdul Rahman zögerte, Lena zu warnen. Das tat ihm in der Folge leid, aber hatte befürchtet, Lena würde diesen Kameraden vor die Tür setzen. „Du weißt genau, dass ich das ohne Deine Erlaubnis niemals getan hätte“, sagte sie ihm. Aber die Gefahr der Ansteckung bestand für alle, die kleine Mina mit eingeschlossen. Womöglich waren sie ja schon alle infiziert! Lenas Wut war gewaltig. Sie gab keinem mehr Antwort und drosch auf alles in ihrer Reichweite ein, um ihren Ärger auch hörbar zu machen. Abdul Rahman war gezwungen, allen den Grund ihres Verhaltens zu erklären, die Kameraden aufzufordern, sich komplett zu entkleiden und gründlichst zu waschen. Lena tat das ebenfalls und begann dann, in der Küche eingeschlossen, die gesamte Wäsche zu kochen, zu schwemmen und zu bügeln. Danach fing sie an, die gesamte Wohnung gründlich zu scheuern. Das dauerte Tage. Schließlich sagte sie sich, dass sie für ihrer aller Gesundheit nichts mehr tun konnte. Sie wartete nur noch schweigend, ob einer von ihnen krank werden würde. Alle waren völlig niedergeschlagen. Sie gingen auf Zehenspitzen, und das eine oder andere Mal kam einer in die Küche, wo sich Lena eingemauert hatte, blieb da schweigend stehen, sah sie aber mit einem Blick an, der Verständnis vermitteln sollte. Sie war so verärgert, dass sie auch diese Zeichen nicht akzeptierte und den Männern die Türe wies.

Als Abdul Rahman in die Küche kam, um ihr zum wiederholten Mal zu sagen, es sei nichts so Ernstes passiert, wurde sie noch wütender und zwang ihn hinauszugehen. Sie wusste nicht viel über die reale Gefahr dieser Geschlechtskrankheit, aber deutlich mehr als ihr Mann, obwohl er davon gehört hatte. Das waren keine Themen, mit denen man sich in seinem Land eingehend beschäftigte, weder in der Schule, noch zu Hause.

G. hat sich niemals entschuldigt. Lena musste seine Anwesenheit resigniert hinnehmen und konnte es nicht ändern. Sie musste sich nach der Decke strecken.

In Uniform oder in Zivil durchkämmte die Polizei die Straßen, um junge Männer zwangsweise für den Militärdienst aufzugreifen. Ismaïl wurde aufgegriffen, aber freigelassen, weil er seinen Studentenausweis vorlegen konnte. Aber der Umzug wurde unausweichlich. Um den Fehler nicht noch einmal zu begehen, an einem Ort alle regionalen Führungspersonen zu konzentrieren, hatten sie beschlossen, sich aufzuteilen. Die finanziellen Probleme waren mittlerweile teilweise gelöst. Für Lena war das eine Erleichterung.

Binnen weniger Tage waren alle bereit fortzugehen. Jede Nacht verließen jeweils zwei das Haus und trennten sich auf der Straße. Keiner sollte wissen, wo der andere unterkam. Abdul Rahman und seine Familie gingen als Vorletzte, Ismaïl als Letzter. Wie bei jedem Umzug nahmen sie nur so viel mit, wie sie tragen konnten, also nur das Nötigste. Alles übrige wurde in der Wohnung zurückgelassen. Damit sollte die ausständige Miete abgegolten werden.

Es ist schwer zu sagen, wie oft sie später noch ihr Versteck wechseln mussten. Zeiten heftiger Kämpfe wechselten einander mit weniger aktiven Perioden oder Wartezeiten ab. Die Dauer eines Aufenthalts am selben Ort hing von den Umständen ab, durfte von nun an aber einige Wochen nicht überschreiten.

Der Kommunismus als verlorener Jugendtraum

Der Jugend ist in ihrer Lebensfreude und seelischen Leichtigkeit nicht bewusst, dass sie für ihren Körper verantwortlich ist. Außerdem ist sie nie mit der Welt der Alten zufrieden. Sie will sie ändern. Die Generation von Abdul Rahman und Lena wollte das Elend und die Ungerechtigkeit durch Brot und Glück für alle ersetzen – und das mit der Unbändigkeit junger Stiere.

Seit damals sind die Jungstiere alt geworden oder vegetieren hinter Balken dahin, wenn sie nicht schon friedlich gestorben oder durch Gewalt umgekommen sind. Diejenigen, die noch übrig sind, finden sich über die ganze Welt verstreut und weit weg von ihrem Heimatland. Sie lecken die Wunden aus ihren verlorenen Kämpfen und hoffen, dass die Jungen, von denen sie ersetzt wurden, siegreich sein werden.

Die Generation von Abdul Rahman und Lena hatte in ihrer Jugend geglaubt, im Kommunismus eine Waffe gegen das Übel der Welt zu finden. Aber dieses Gegenmittel hat sich als zynisch und mörderisch erwiesen: Es brachte die eigenen Völker um.

Kann man eine solche Erfahrung ohne Nachwirkungen überleben?

Das Haus von Herrn Abr’ham

Das Haus, in dem Abdul Rahman und seine Familie Zuflucht fanden, lag in einem der armen Viertel von Teheran. Auch sein Besitzer, Herr Abr’ham, war Anhänger Zarathustras. Er allerdings war er arm und wenig gebildet. Er hatte das Avesta, das Heilige Buch des Zoroastrismus, das dem Propheten zugeschrieben wird, nicht gelesen. Aber er glaubte an die Kraft des Guten. Seine Frau, Suleika, hatte ihm fünf Kinder geschenkt, die damals zwischen drei und sieben Jahre alt waren. Sie hatte eine kräftige Stimme, und ihre Hände waren immer bereit, bei der Arbeit zuzupacken oder einem ihrer Bengel eine Ohrfeige zu geben. Herr Abr’ham war zufrieden, dass er zwei Zimmer im ersten Stock seines Hauses an eine Familie mit nur einem Kind in Erwartung des zweiten vermieten konnte (es besserte den Lebensunterhalt auf). Das war vertrauenerweckend.

Weitere Mieter, ein indisches Paar aus Bombay, lebten in einem angrenzenden Zimmer, das von den neuen Bewohnern durch eine dünne, grün angestrichene Glaswand getrennt war. Die Küche war gemeinsam zu nützen.

Unter dem Vorwand eines gemeinsamen Essens kamen die Kameraden hierher, um ihre Versammlungen abzuhalten. In den Gesprächen ging es neben dringenden Angelegenheiten um die politischen Vorbereitungen für den Kampf: Die Rekrutierung neuer Mitglieder, den Beschluss einer geeigneten Kampftaktik, Aktionen zur Erreichung von dessen Endphase, also des Sturzes des Schah-Despotismus und der Einsetzung einer gerechten Regierung für alle. In dieser Phase dachte noch niemand an bewaffneten Kampf.

Die indische Nachbarin, mit der sich Lena anfreundete, wunderte sich, dass Lena zum Weggehen den Tschador anlegte. Sie selbst tat das nicht, wie übrigens auch viele iranischen Frauen. Lena erklärte ihr, dass sie es sich angewöhnt hatte, um zu zeigen, dass sie Moslem war. Tatsächlich hatte sie der Kassier unter dem Vorwand, dass sie kein Moslem sei, nicht eingelassen, als sie in Begleitung ihres Mannes in das öffentliche Bad gehen wollte. Ihr Mann konnte ihn schließlich überzeugen, er hätte sie nicht geheiratet, wäre sie eine Ketzerin gewesen („kafer“, das Wort dafür, ist ein eher abwertender Ausdruck für Nicht-Moslems). Zufriedengestellt, ließ sie der Kassier doch ein, riet Abdul Rahman jedoch mit Nachdruck, sie zum Tragen des Schleiers anzuhalten. Jener versprach es und sagte ihr, dass man Schwierigkeiten nicht herausfordern sollte.

„Damit konnte ich von da an regelmäßig ins Bad gehen.“, fügte Lena hinzu. „In diesem Land spielt sich alles so ab wie in den öffentlichen Bädern. Ich liebe meinen Mann und möchte ihn nicht wegen belangloser Dinge wie eines Tschador peinlichen Situationen aussetzen.“

Diese Erklärung gefiel der Nachbarin. Sie hätte es für ihren Mann ebenso gemacht.