Kapitel 2 Abdul Rahman und Lena begegnen einander

Es war gegen Ende des Jahres 1951. Für Abdul Rahman war es das letzte Jahr an der Universität. Er war 20. Lena hatte die Großjährigkeit noch nicht erreicht, es fehlten ihr noch ein paar Monate. Um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können, ging sie arbeiten, bereitete sich gleichzeitig für die Zulassung an der Universität vor und hoffte, ein Stipendium zu erhalten.

Der Herbst war sehr kalt gewesen, und mit dem November war auch der Schnee gekommen. Die Hochschule für Politische und Wirtschaftliche Studien hatte zu Ehren eines ihrer Professoren eine Feier vorbereitet. Im riesigen Festsaal drängten sich der gesamte Lehrkörper, Studenten etlicher Fakultäten sowie Vertreter der Universitätsverwaltung. Außerdem waren noch einige Gäste von außerhalb eingeladen. Der Studentenchor, in dem Lena bereits Mitglied war, sollte der Feier neben den Ansprachen und Glückwünschen einen kulturellen Rahmen geben. Das Repertoire bestand aus Liedern über die sozialistische Aufbauarbeit, den Kommunismus, über Stalin und Mao Tsetung und auch aus Volksliedern.

Auf Wunsch des gefeierten Professors hatte Joseph, der Chorleiter, Lena damit beauftragt, sich um einige der ausländischen Gäste zu kümmern, weil sie die Einzige war, die mehr oder weniger gut Englisch konnte. Sie musste sich dem fügen, tat es jedoch ohne große Begeisterung.

An einem kleinen Tisch saßen vier junge Männer. Lena stellte sich ihnen mit einem sorgfältig vorbereiteten Satz als deren Übersetzerin vor. Sie hatte sich dabei gar nicht wohl gefühlt, aber die freundliche Begrüßung beruhigte sie. Die Burschen vermittelten ihr den Eindruck, sich über ihre Anwesenheit wirklich zu freuen. Schnell bemerkte sie, dass nur einer von ihnen Tschechisch nicht verstand, ein Araber aus Syrien, der im Kampf ein Bein verloren hatte. (Später sagte ihr Abdul Rahman, dass er in Wirklichkeit einen Autounfall gehabt hatte, sie jedoch hatte beeindrucken wollen.) Der zweite Ausländer war ebenfalls Araber, aber aus Bagdad. Er war Christ und sprach Tschechisch. Die beiden übrigen waren echte Tschechen. Das jedenfalls meinte Lena gefühlsmäßig. Der eine hieß mit Vornamen Karel und der zweite musste nach Lenas Einschätzung Slowake sein. Er hatte einen geringen Akzent, aber helle Haut, und die schwarzen Haare und Augen waren unter Slowaken nichts Außergewöhnliches. Und seine Augen lachten.

In Lena stieg Zorn darüber auf, dass sich Joseph über sie offenbar lustig gemacht hatte. Sie verließ diese jungen Leute, um dem Chorleiter ihre Meinung zu sagen. Jener aber gab zurück, dass es sich um einen Auftrag des Professors gehandelt habe. Joseph war ihr Chef im Chor, und der Professor die Hauptperson des Festes. Sie, die zudem noch eine Minderjährige war, konnte nicht anders, als sich zu fügen. Verdrossen ging sie also zu dem Tisch der „Ausländer“ zurück.

Es wurde ein angenehmer Abend. Die jungen Leute erzählten vom Mittleren Osten, ihrem Freiheitskampf und gaben kleine Geschichten zum Besten, um sie zum Lachen zu bringen. Sie waren sehr nett und aufmerksam.

Schließlich neigte sich die Feier ihrem Ende zu, und es war Zeit, an den Aufbruch zu denken. Alle vier wollten sie begleiten, aber der „Slowake“ erklärte den anderen gewandt, dass einer allein genügte und dass dies er sein würde.

Draußen war es kalt. Langsam gingen sie den Hügel zum Bezirk Vinohrady („Weinberge“) hinauf und sprachen über alles und nichts. Bereits bis über beide Ohren verliebt, sagte Lena wenig und hielt ihn immer noch für einen Slowaken. Sie getraute sich nicht, ihn nach seinem Namen zu fragen, den sie bei der Vorstellung nicht mitbekommen hatte. Sie siezte ihn weiter, obwohl junge Leute einander normalerweise einfach duzten. Sie verstand nicht, was mit ihr gerade geschah. Die Neuigkeit, dass er Kurde war, machte keinen Eindruck auf sie. Sie wusste nichts von Kurden, aber „wir sind alle Menschen, egal, woher wir kommen, nicht wahr?“

Sie verabschiedeten sich vor dem Haus, in dem sie mit ihrer Freundin Angélique wohnte.

„Er hat mich so zärtlich angeschaut wie noch nie jemand“, vertraute sie der Freundin an. „Ich bin sicher, er liebt mich.“ Angélique war älter und klüger als sie, hatte sofort verstanden und versuchte, die Begeisterung der Freundin zu dämpfen, um ihr eine mögliche Enttäuschung zu ersparen. Manchmal hält das Schicksal Überraschungen bereit – noch am selben Abend teilte ihr Angélique mit, dass ihre Cousine, der die Einzimmer-Wohnung gehörte, diese nun selbst für sich in Anspruch nehmen wollte.

Lena musste sich um eine neue Unterkunft umsehen. Am folgenden Tag ging sie zu den für den Chor Verantwortlichen, und diese trieben ein Bett für sie auf. Es befand sich im zweiten Stockwerk eines Gebäudes des Universitätsviertels in einem Schlafsaal, in dem bereits elf Mädchen untergebracht waren. Im ersten Stock dieses Hauses wohnten Adib, Karel und der „Slowake“.

Der Heiratsantrag

Selbst verliebt, wurde Abdul Rahman ihr Beschützer und in gewisser Weise auch ihr Lehrer. Für Lena begann die schönste Zeit ihres Lebens.

Der Winter wich dem Frühling, und Abdul Rahman machte ihr einen Heiratsantrag. Sie war verrückt vor Freude. Mittlerweile hatte sie schon viel über das Land ihres Liebsten gelernt. Er hatte ihr sogar über die Lage der Frauen im Iran erzählt, und, indem Lena den Heiratsantrag annahm, akzeptierte sie auch die Traditionen und Bräuche jenes Landes.

Liebe trägt nicht gerade dazu bei, zukünftige Herausforderungen klar zu sehen. Sie wusste nicht, dass sie Hindernisse, die sie sich gar nicht vorstellen konnte, überwinden müssen würde. Abdul Rahman hatte sie freilich gewarnt, aber sie hatte voller Verliebtheit zugehört. Sie überlegte alles nur in ihrem Herzen. Sie war so glücklich und sich ihrer Sache sowie ihrer Liebe so gewiss, dass sie entschossen war, ihm überall hin zu folgen, wohin ihn das Leben führen würde.

Es wurde eine harte Schule, aber sie bereute es dennoch nie.

Auch ein Atheist ist Moslem, und seine Frau muss es werden

Sie heirateten in der iranischen Botschaft in Prag. Das war im Frühling 1952. Ein eleganter Mullah (religiöser Würdenträger der Schiiten) vereinte sie. Er war in seinem europäischen Anzug mit weißem Hemd und Krawatte und mit seinem sorgfältig geschnittenen Bart eine imponierende Erscheinung. Als Zeugen waren zwei Botschaftsangehörige und der Botschafter anwesend. Sonst war an diesem so wichtigen Tag niemand da.

Wie schon Abdul Rahmans Mutter zuvor hatte Lena zum Islam übertreten müssen. Obwohl sie, wie im übrigen auch Abdul Rahman, atheistisch war, hatte sie jene Formel nachsprechen müssen, mit der sie sich von ihrer ursprünglichen Religion lossagte. Abdul Rahman war hingegen von den iranischen Behörden automatisch als Moslem betrachtet worden. Der barmherzige Islam kann es sich nicht vorstellen, dass jemand, der als Moslem geboren wurde, seinen Glauben oder seine Denkweise ändern könnte. Abdul Rahman und Lena haben somit ohne zu murren diese Verpflichtung hingenommen.

Das Hochzeitsessen fand im Restaurant Representacni Dum (Haus der Repräsentation, einem sehr schönen Jugendstil-Gebäude im Zentrum Prags) statt. Die Speisen waren eher einfach, weil keiner von beiden genug Geld hatte, um sich ein wirkliches Bankett mit Gästen leisten zu können. Keine Rede war auch von einem Brautkleid, einem festlichen Anzug des Bräutigams oder von Sonstigem, das gewöhnlich eine „normale“ Hochzeit mit sich bringt. Abdul Rahman lebte von seinem Stipendium, das so gering war, dass auch nur eine einzige Extra-Ausgabe ein nicht zu schließendes Loch in seinem Budget hinterlassen hätte. Was Lena betraf, war ihr Gehalt kaum höher als das Stipendium ihres Ehemanns. Also hatten sie sich die Kosten geteilt.

Das Restaurant war leer. Lena hatte den schönsten Tisch bei einem Fenster ausgewählt, das den Blick auf den Platz der Republik und die Kirche St. Joseph freigab. Sie bestellten Brathuhn, Erdäpfel und grünen Blattsalat. Sie mussten sehr lange warten, aber da sie immer viel zu besprechen hatten, achteten sie darauf nicht, bis sie bemerkten, dass ihnen der Magen schon knurrte. Endlich kam das Mittagessen. Es waren je ein Viertel von einem so trockenen Huhn, dass es Zahnweh verursachte, passable Erdäpfel und ein dermaßen welker und in einer gelblichen, salzigen Soße getränkter Salat, dass sie ihn nicht anrührten. Aber all das war ihnen gleichgültig. Sie waren glücklich.

Einige Monate später schloss Abdul Rahman sein Studium ab. Im September verließ er Prag, um mit dem Diplom in der Tasche in den Iran zu reisen, und ließ Lena im zweiten Monat schwanger zurück. Für sie war dieses erwartete Kind das erste jener großen Familie, nach der sie strebte. Abdul Rahman neckte sie deswegen zärtlich, aber sie war davon zutiefst überzeugt, so wie sie auch fest entschlossen war, ihrem Mann in dessen Kampf zur Seite zu stehen. Nützlich zu sein, war ihr stets ein Herzensanliegen gewesen. Es kam ihr nicht in den Sinn, dass die Mutterschaft Verpflichtungen bedeutete und diese Unterstützung zu behindern drohte. Sie fühlte sich so stark, dass sich nicht bezweifelte, alle Herausforderungen und Hindernisse bewältigen zu können, wenn sie an der Seite ihres geliebten Mannes wäre.

Nach seiner Abreise war sie wieder einmal allein. Durch die Heirat, das kommende Kind und die Hoffnung, sich Abdul Rahman wieder anzuschließen, hatte sich ihr Plan, ein Universitätsstudium zu beginnen, in nichts aufgelöst. Sie arbeitete weiter als Industrie-Zeichnerin und wartete voller Vorfreude auf die Geburt des gemeinsamen Kindes. Aber sie sorgte sich auch um ihren Mann und fragte sich ängstlich, wie sie nach der Geburt mit dem Gehalt durchkommen würde, das kaum für sie selbst ausreichte.

Monatelang keine Nachrichten aus Teheran

Seit seiner Abreise hatte ihr Abdul Rahman nur zwei Postkarten von jenem Schiff aus gesendet, das ihn in die Heimat zurückbrachte, und einen Brief aus Teheran, in dem er die Adresse eines Gasthauses angab, wohin ihm Lena schreiben konnte. Das tat sie oft und wartete auf seine Antworten – vergeblich. Alle sagten ihr, dass ihr Mann sie verlassen hätte. Sie konnte es nicht glauben. Aber nach und nach begann sie, sich Fragen zu stellen. Sie wusste nicht, was sie denken sollte, und war sehr unglücklich. Außerdem wartete sie auf jene Dokumente von ihm, mit deren Hilfe die Ehe auch von den tschechischen Behörden registriert werden würde. Tatsächlich wurden in der Tschechoslowakei Eheschließungen der Bürger nicht anerkannt, wenn sie außerhalb der Institutionen des Landes erfolgten. Aber Abdul Rahman hatte die für die amtliche Hochzeit in Prag erforderlichen Dokumente nicht gehabt. Er sollte sie ihr aus dem Iran zusenden. Das hatten sie schon vor seiner Abreise vereinbart. Um ihn gegen die Anschuldigungen ihrer Freunde zu verteidigen, sagte sie, ihm sei mit Sicherheit etwas zugestoßen, weshalb er das noch nicht erledigt habe.

Erst in der Entbindungsklinik erhielt Lena die so lang erwartete Post. Es war schon April, und Abdul Rahman war im vorangegangenen Jahr abgereist. Der Eigentümer des Hauses, in dem sie wohnte, hatte ihr die Sendung gebracht und sah ihr beim Öffnen des dicken, braunen Kuverts mit einem freundlichen Lächeln zu. Sie war sehr aufgewühlt. Ihre Tochter war vier Tage alt. Lena war etwas später als erwartet niedergekommen und hatte ein schon wie eine reife Frucht gut entwickeltes Baby zur Welt gebracht. Sie hatte es Mina genannt. Der Kopf war gut geformt, die Nägel schon so lang, dass man sie hatte schneiden müssen, das schwarze Haar fiel über die Stirn und reichte hinten bis zum Kreuz. Die Augen waren groß und leuchtend. Es war wirklich ein sehr schöner Säugling. Die Hebamme kam oft, um sie zu sehen. Weil sie selbst keine Kinder haben konnte, wollte sie Mina adoptieren. Lena würde, so sagte sie ihr, als alleinstehende Mutter die größten Schwierigkeiten dabei haben, das Kind aufzuziehen. Für Lena kam das nicht in Frage. Sie konnte der Hebamme sagen, dass sie verheiratet war, so oft sie wollte, jene glaubte ihr nicht und machte den Vorschlag immer wieder.

Das Baby brachte für Lena große Freuden. Allein, der Kleinen beim geräuschvollen und unersättlichen Trinken und ihrer wie lächelnden Lippenbewegung dabei zuzusehen – was für ein Glück! Allerdings war Lenas Gemütsverfassung eher schlecht. Niemand kam, der mit ihr die Freude teilen und die Ankunft der kleinen Tochter feiern wollte. Nicht einmal ihr Mann wusste von der Geburt des Kindes. Er war so weit weg. Manchmal fragte sich Lena, ob sie ihn jemals wieder sehen würde. Das hatte bis zum Eintreffen des großen, braunen Briefumschlags gedauert.

Darin befanden sich ein Brief mit der Einladung an sie, zu ihm zu kommen, außerdem die für ihre Eheschließung nach tschechischem Recht nötigen Dokumente. Abdul Rahman hatte sogar eine schriftliche Vollmacht für seinen Freund Karel verfasst, damit dieser ihn bei der Hochzeit vertreten konnte. Darüber hinaus waren in dem Kuvert ein Flugticket von Prag nach Teheran und fünf US-Dollars. Lena musste nun nur noch ein zweites Mal heiraten, wobei Karel Abdul Rahman ersetzen würde, und aufbrechen.

Nachdem sie die Klinik verlassen hatte, fühlte sich Lena sehr müde und durch andauernde Schmerzen erschöpft. Aber der Brief ihres Mannes hatte ihr den Mut wieder gegeben. Sie erledigte alle Vorbereitungen für die Eheschließung und fand sich eines Tages an Karels Seite vor dem Magistrat von Prag 1. Mina war mit und schlief in den Armen von Tante Zdenka. Die Zeremonie war kurz. Die Trauzeugen und ein paar Freunde kehrten unmittelbar nach deren Ende an ihre Arbeitsstellen zurück. Nur Tante Zdenka blieb noch bei ihrer Nichte und der Kleinen. Sie aßen gemeinsam zu Mittag. Dann kehrte die Tante zurück zu ihrem Mann und ihrem Vater in ihr kleines, abgelegenes Haus in mehreren Kilometern Entfernung vom nächstgelegenen Städtchen. Lena nahm mit ihrem Baby die Straßenbahn und fuhr in ihr Dienstboten-Zimmer, um sich ihren alltäglichen Aufgaben zu widmen. Alles, was sie hatte, waren ein kleiner, elektrischer Kocher, ein winziger Tisch und ein Bett. Wasser gab es im Stiegenhaus, einen Hahn für Kaltwasser auf dem Gang neben ihrer Kammer.

Das Geld, das sie für die Zeit des Mutterschutzes erhielt, und die Beihilfe für den Säugling reichten nicht zum Leben aus. Sie musste daher so schnell wie möglich wieder arbeiten gehen.

Bleiben oder gehen?

Ein Bild der damaligen Situation zu zeichnen ist nicht einfach. Die meisten der Menschen, mit denen sie in Kontakt war, gaben ihr den gleichen Rat: Vor allem sollte sie sich Abdul Rahman nicht wieder anschließen, sich nicht in dieses Abenteuer in einem so unterentwickelten Land stürzen. Weil sie das nicht mehr hören wollte, ging sie den Leuten aus dem Weg. Sie musste abreisen. Sie liebte ihr Kind und ihren Mann zu sehr, um die beiden voneinander zu trennen.

Vielleicht hatten ihre Tante, ihr Großvater mütterlicherseits und ihre Freunde ja recht, sagte sie sich. Aber was für ein Leben würde sie führen, allein mit ihrer Kleinen, wenn sie auf diese Menschen hörte? Welche Zukunft würde sie für ihre Tochter aufbauen, wenn sie in Prag blieb? Sie sah ja, wie ihre Freunde lebten und wie sie selbst lebte: Aufstehen vor der Morgendämmerung, das Kind füttern, in großen Töpfen auf dem Kocher Wasser wärmen, um es zu waschen, es anziehen, mit ihm in die Kinderkrippe laufen und dann selbst mit den langsamen, öffentlichen Verkehrsmitteln atemlos in der Arbeit ankommen. Nach Arbeitsschluss gab es endlose Schlangen beim Einkaufen, dann wieder den Weg zur Krippe, Waschen, etc. Um Mitternacht ging sie schlafen, im Morgengrauen stand sie auf, und das jeden Tag. Alles hing an ihr. Der Rat bedeutete nur, dass sie egoistisch allein für sich und ihr Kind leben sollte.

Aber sie wusste, dass es noch etwas anderes gab, auch wenn sie es nicht genau definieren konnte: Es war, als ob sie eine Mission zu erfüllen hatte.

Seit ihrem zwölften Lebensjahr hatte sie sich um sich alleine kümmern müssen. Es gab niemanden, der ihr Ratschläge gegeben, ihr bei Entscheidungen geholfen oder ihr sein Wohlwollen gezeigt hätte. Sie hatte mit niemandem ihre Freuden und Leiden teilen können. Jetzt hatte sie Abdul Rahmans Tochter. Das war IHRE Familie, und es kam nicht in Frage, dass sie ihre Hoffnung auf eine Vereinigung dieser Familie aufgeben würde, mit der sie Glück und Unglück teilen wollte.

Die Abreise

Als Lena noch ein Schulkind gewesen war, hatten ihr die Lehrer die Liebe zum Vaterland und den Wunsch vermittelt, die Welt verstehen zu wollen. Sie liebte ihr Land aufrichtig und empfand großen Respekt dafür. Trotzdem fühlte sie sich hier nicht wohl. Sie hatte hier die Heiterkeit einer glücklichen Kindheit nicht erfahren. Es gab hier keine Menschen, die ihr viel bedeuteten – außer ihrer Tante und deren Familie, aber sie lebten weit weg von ihr. Sie litt unter ihrer Einsamkeit. Auch ihre Freunde sah sie selten, sie waren mit den eigenen Familien und ihren Aufgaben ausgelastet. Ja sicher, ihr Großvater und ihre Tante hatten ihr angeboten, dass sie bei ihnen leben könnte. Aber deren abgeschiedenes Zuhause und das harte Leben, das sie führten, das wollte sie nicht.

Auf dem Flughafen sah sie vor dem Abflug noch einmal die Erinnerungen an ihr Leben – die Kindheit, das Heranwachsen, ihre für ihr Alter viel zu harten Erfahrungen – und sie empfand eine eigenartige Erleichterung. Diese war trotz allem von schlechtem Gewissen getrübt, weil doch nicht alles düster gewesen war.