Kapitel 8 Iran, der Weg zurück

Es dauerte nicht lange, bis das Kriegsrecht verhängt wurde. Die Polizei durchkämmte die Wohnviertel der Stadt, darunter auch jenes, in dem sich Lena und ihre Gefährten verbargen. Die Abreise Lenas und der Kinder musste beschleunigt werden.

Im März ist das Klima in Bagdad angenehm. Die Natur wacht mit all ihrer Kraft auf. Untertags ist es mäßig warm, während die Nächte noch frisch sind. Im Jahr davor war Lena im Frühjahr im Irak angekommen, aber zu einem Zeitpunkt, als es sowohl in Kurdistan als auch in Bagdad schon heiß gewesen war. Für die Rückkehr nach Teheran mit dessen kühlerem Klima hatten die Freunde für die Kinder Wollsachen und für sie einen leichten Mantel gebracht, den sie über das kurdische Sommerkleid tragen konnte. Mit der Aba darunter sollte das warm genug sein. Aber in Kurdistan herrschte noch Winter mit Schnee und Frost. Niemand hatte daran gedacht.

Lena machte sich allein mit den Kindern auf die Reise. Als sie Bagdad verließ, kam ihr der Gedanke, dass niemand ihr glauben würde, welches Elend sie durchstehen hatte müssen, und die anderen noch immer durchmachen mussten. In den folgenden Jahren sollte sie auch noch etliche Schwierigkeiten und manches Unglück erleben, aber die langen Monate von Bagdad hatten sich ihr als totales Verlassensein tief eingeprägt. Sie hatte Unmögliches möglich gemacht, um sich an den teuflischen Takt der Wohnortwechsel anzupassen, um sich eben Gelerntes sofort abzugewöhnen, obwohl diese Vergangenheit gerade erst hinter ihr lag. Alle erwarteten von ihr, dass sie stark sein würde. Sie hielten sie für fähig, alles zu ertragen und für alles eine Lösung zu finden, das passieren könnte. Sie hatte jedoch noch nie zuvor in einer Gesellschaft von Nomaden gelebt, die zwar immer unterwegs, aber im Kern fest zusammengeschweißt ist. Sie war alleine und hatte nur eine Sicherheit, einen einzigen Anker, ihre Kinder. Diese nahm sie überallhin mit wie eine Löwin ihre Jungen. Trotzdem entstand mit der Zeit das Gefühl in ihr, dass sie ihren Realitätssinn zu verlieren anfing. Das Ziel, das sie sich gesetzt hatte und für das sie bereit war, alles zu ertragen, war eine Fata Morgana geworden. Sie wurde sich ihrer selbst unsicher und fand sich in einem gnadenlosen Räderwerk gefangen. Sie war immer noch sehr jung und ihren Töchtern in einer fast animalischen Liebe zugetan – sie musste sie gegen reale oder auch eingebildete Gefahren schützen...

Es stimmt, dass die menschliche Anpassungsfähigkeit grenzenlos ist.

Jene Lena, die Bagdad verließ, war nicht mehr die junge Frau, die acht Monate zuvor dort angekommen war. Trotz allem haben sich ihr die Jahre, während derer sie – im Iran, in Kurdistan und in Bagdad – ihr reiferes Alter erreichen sollte, wie eine außerordentliche Gabe des Schicksals eingeprägt. Dieses Leben hatte ihr viel genommen, aber auch viel gegeben.

Ein hilfreicher, geheimnisvoller Busnachbar

In einem uralten Bus ging es bergwärts in Richtung Teheran. Sie hatte gelernt, die Aba zu tragen. Aber es war ihr nicht möglich, dabei die Geschicklichkeit jener zu erreichen, die dieses Kleidungsstück schon immer wie das Natürlichste auf der Welt verwendeten. Lena hatte sich die Haare geflochten, um ihre Stirn ein weißes Baumwollband geschlungen und trug unter der Aba nur ihr bis auf die Stoffstruktur abgewetztes, kurdisches Kleid, das wie eine zweite Haut war. Darüber hatte sie einen dünnen und leichten Mantel gezogen. An den Füßen hatte sie statt Schuhen nur Pantoffel. Jemand tupfte sie an der Schulter. Es war eine alte Dame. Sie flüsterte ihr zu:

„Richte deine Aba, kleine Dame.“

Diese war ihr von den Schultern gerutscht, und sie hatte es nicht bemerkt. Die übrigen Reisenden taten, als wäre nichts, aber ein Mann, der in derselben Reihe wie sie auf der anderen Seite saß, lächelte ihr freundlich zu.

Der Bus fuhr durch die Stadt Khanaqin und begann seine Bergfahrt in Richtung Qasr-e Schirin an der iranischen Grenze. Lena befürchtete eine Passkontrolle. Ununterbrochen wiederholte sie im Geist die erlernte Geschichte: Wer sie war, woher sie kam, wohin sie fahre und warum. Ihrem Pass zufolge war sie in Nadschaf geboren, der heiligen, schiitischen Stadt im Irak, in der persisch gesprochen wurde. Das war ihr Vorteil.

Die Passkontrolle verlief ohne Probleme. Der Offizier warf einen Blick auf das Dokument und die Kinder. Das war alles. Dann forderte der Zöllner den Fahrer auf, das gesamte Gepäck vom Dach herunterzuholen. Der kleine Koffer, der Lena schon nach Bagdad begleitet hatte, war kaum mehr gefüllt als bei der Hinreise.

Die Kinder benahmen sich so, wie man es ihnen beigebracht hatte. Mina spielte ihre Rolle als kleiner Bub perfekt. Dann bedeutete sie ihrer Mutter, dass sie auf die kleine Seite musste. Lena ging mit ihr hinter den Gasthof und ließ sich Zeit, wieder zum Zöllner zurückzukommen.

„Tschemadunet kodume?! (Welches ist dein Koffer?!)“, herrschte der Zöllner Lena an. Ohne ihr Zeit für eine Antwort zu lassen, wandte sich der Mann aus derselben Sitzreihe im Bus ebenso grob an den Beamten: Er solle die Dame und die Kinder in Ruhe lassen. Der Zöllner wollte das letzte Wort haben und fragte ihn, ob er sie kenne.

„Wir sind Nachbarn“, antwortete der Mann.

Sein Eingreifen hatte Lena überrascht. Sie nahm die Kinder und ging in den Gasthof. Plötzlich empfand sie gewaltigen Hunger. Iranischer Reis, vor allem die Sorte „dom siah“ (mit schwarzem Endstück), entwickelt einen köstlichen Duft, und man konnte ihn schon außerhalb der Gaststätte riechen.

Das Lokal war bummvoll. Es gab Reis mit „fessendschan“, also in einer Sauce aus gestampften Nüssen und Granatapfelkernen gekochtem Fleisch. Beim Anblick der vollen Teller, die an ihr vorbeigetragen wurden, lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Sie hatte nur zehn Toman, von denen sie einen für das Taxi in Teheran aufheben musste. Deshalb fragte sie erst den Kellner nach dem Preis. Sie konnte ihn bezahlen und setzte sich mit den Kleinen an einen eben freigewordenen Tisch. Als sie gerade bestellen wollte, kam der Mann, der ihr zuvor schon geholfen hatte, mit zwei vollen Tellern zu ihnen und stellte sie ihnen hin.

„Ich danke ihnen vielmals für ihre Freundlichkeit, aber ich kann das nicht annehmen!“

Wer war dieser Mann, der ihr schon von Anfang an zu Hilfe gekommen war? Er musste verstanden haben, dass sie nicht die war, für die sie sich ausgab. War er von der iranischen Polizei und würde er sie bei der Ankunft an der Endstation verhaften? Hatte er unehrenhafte Absichten angesichts dieser jungen Frau und trotz der Kinder?

Der Mann neigte sich über den Tisch und sagte ihr freundlich:

„Ich wollte sie nicht belästigen, gnädige Frau, und ich bitte um Entschuldigung, wenn ich diesen Eindruck gemacht habe. Ich habe gesehen, dass sie mit den Kindern alleine sind, und ich wollte ihnen nur die Reise leichter machen.“

Er wiederholte seine Entschuldigungen und verschwand nach einem kleinen Gruß in der Menge im Gasthof.

Der Reis und das „fessendschan“ kühlten vor Lena aus, und sie wusste nicht, was sie tun sollte. Bei dieser Menschenmenge, die ständig unterwegs war, konnte sie dem Mann die Teller nicht zurückbringen. Außerdem waren die Kinder ausgehungert. Also zog sie einen der Teller näher und gab ihnen zu essen. Zögernd und etwas verschämt fing auch sie zu essen an. Als sie gesättigt war, verflog ihre Scham ebenso wie die Angst vor diesem Mann, der ihnen bis dahin nur Gutes getan hatte.

Erholt und satt stiegen die Reisenden wieder in den Bus und setzten ihre Fahrt nach Teheran fort. Sie fuhren durch Kurdistan, wo der Winter noch nicht zu Ende war. Die Luft war eisig, und Schneeflocken flogen durch die zahllosen Löcher des dahinrumpelnden Busses ins Wageninnere. Der Fahrer hielt bei jeder Herberge entlang der Straße an, damit die Insassen Tee trinken und sich aufwärmen konnten.

Die Kinder schliefen in dieser Nacht im Autobus gut, nicht aber Lena, die mit ihren nackten Füßen in den Pantoffeln völlig durchfroren war. Das Radio des Chauffeurs, das während der gesamten Fahrt lief, meldete minus 34 Grad in der Region von Saqqez, durch die sie fuhren.

Mit mehreren Stunden Verspätung kam der Bus in Teheran an. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als die Schrottkiste an der Endstation hielt. Lena fühlte ihre Füße nicht mehr. Alle stürzten sich auf die bereitstehenden Taxis. Lena wartete, mit dem Rücken an der Außenwand des Warteraums lehnend, bis die Leute weggefahren waren. Sie hatte es nicht eilig. Niemand wartete auf sie. Es wusste nicht einmal irgendjemand, dass sie mit ihren Töchtern ankommen würde.

Seit der Grenze hatte ihr Sitznachbar entweder geschlafen oder die Landschaft betrachtet. Er hatte Lena nicht mehr angesehen. An die Wand gelehnt und mit den Kleinen an ihrer Seite, wäre sie vor Erschöpfung beinahe gestürzt, und hatte den Mann völlig vergessen. Auf einmal hielt vor ihnen ein Taxi und riss sie aus ihrer Lähmung. Der „Nachbar“ stand neben ihr und sagte:

„Gnädige Frau, ich habe ein Taxi gefunden. Wohin wollen Sie?“

Lena wurde von Angst gepackt. (Sie wollen, dass ich sie zu Abdul Rahman bringe, sagte sie sich.)

„Das geht sie gar nichts an, mein Herr!“, schrie sie.

Er entschuldigte sich und ging weg.

Seit damals fragte sie sich oft, wer dieser Mann gewesen sein konnte. War er ein Gesandter der Freunde aus Bagdad, der ihr helfen und berichten sollte, wenn ihr etwas zugestoßen wäre? War er von der Polizei? Und, wenn ja, von welcher, der irakischen oder der iranischen? Aber diese letzte Hypothese war auszuschließen. Ein Polizist hätte auf den schon in Reichweite liegenden Fang nicht verzichtet, wenn er so kurz davor gewesen wäre, Abdul Rahman zu fassen, der so intensiv gesucht wurde. Eigentlich konnte er ein Oppositioneller gewesen sein, der gefühlt hatte, dass Lena Hilfe brauchte, oder auch ganz einfach ein mutiger Mann.

Lena schickte das Taxi fort und fand ein anderes. Sie sagte dem Chauffeur die Route entsprechend den Angaben an, die man ihr gemacht hatte. Die Wegbeschreibung stellte sich als zutreffend heraus, aber sie stieg drei Straßen vor ihrem endgültigen Ziel aus. Es war klüger, vorsichtig zu sein.

Als ihnen Abdul Rahman die Tür öffnete, wurde er leichenblass. Er hatte sie nicht erwartet. Sie waren für ihn in Teheran eine Gefahr. Nachdem sie über die Schwelle des Hauses getreten war, wurde Lena ohnmächtig. Sie brauchte zwei Wochen, um sich von der Erkältung zu erholen, die sie sich auf der Fahrt zugezogen hatte. Sie lag im Bett, hatte keine Medikamente und delirierte. Abdul Rahman gab ihr noch eine weitere Woche zur Rekonvaleszenz. Dann würden sie sich wieder trennen müssen. Während dieser einwöchigen Ruhepause sprachen Lena und ihr Mann viel miteinander. Wie immer gelang es Abdul Rahman, bei allem, was er sagte, sorglos zu wirken und zu lachen, wann immer es die Situation erlaubte. Er wollte sich freuen, und seine Gegenwart war eine Freude. Allerdings sah er Lena eines Tages mit sehr ernster Miene an.

„Ich muss dir etwas sehr Ernstes sagen. Hör’ mir aufmerksam zu.“

Lena hörte ihm immer aufmerksam zu, aber dieses Mal war da noch irgendetwas. Sie wartete, dass er anfing.

Das Geständnis Abdul Rahmans

„Während du in Bagdad warst, bin ich verhaftet worden.“

„Wie das? Wer hat dich verraten?“

„Stell’ keine Fragen und unterbrich mich nicht. Zugleich mit mir haben sie auch Ismaïl verhaftet.“

„Also, das war der Grund, dass er nicht in Bagdad war? Man hat mir dort gesagt, dass es ihm gut geht!“

„Hör’ auf zu unterbrechen! ... Wir sind beide gefoltert worden.“

Jetzt zeigte er ihr eine Narbe auf seiner Brust.

„Ich wurde an den Füßen aufgehängt und geschlagen. Aufgrund der Fragen, die sie mir stellten, und die jeden Tag andere waren, habe ich geschlossen, dass Ismaïl ihnen mehrere Namen genannt haben musste. Ich zeigte mich bereit zu reden, wenn sie Ismaïl freilassen würden. Ich sagte ihnen, er wisse nicht allzu viel, und das, was er ihnen gesagt haben konnte, musste falsch gewesen sein. Ich allerdings wisse alles, und, wenn sie wollten, dass ich spräche, mussten sie ihn gehen lassen. Weil ihnen klar war, dass ich erheblich besser informiert war, ließen sie ihn laufen.

Dann haben sie mir jeden Tag Papier und Schreibzeug gebracht. Ich sollte alles schriftlich festhalten. Ich habe drei Seiten mit den Namen von Leuten, die entweder tot oder im Ausland in Sicherheit waren, und mit einer Beschreibung der Partei gefüllt, die in Wahrheit schon seit einiger Zeit überholt war. Mehrere Tage lang haben sie dasselbe Szenarium wiederholt und mich aufgefordert, das, was ich bereits am Tag davor geschrieben hatte, noch einmal aufzuschreiben. Ich durfte mich wirklich nicht irren. (Lena wusste, dass ihr Mann ein ausgezeichnetes Gedächtnis hatte.)

Danach forderten sie mich auf, mit ihnen zu kollaborieren. Sie wollten nach Kurdistan kommen, um jene Orte zu sehen, die ich in meinem Bericht genannt hatte. Sogar Geld und die Freiheit boten sie mir an, wenn ich weiterhin mit ihnen zusammenarbeitete. Zuerst lehnte ich ab, aber nach einigem Nachdenken, sagte ich zu. Ich wusste nicht, was ihnen Ismaïl genau gesagt hatte. Ich wusste auch nicht, ob unsere Kameraden draußen von unserer Verhaftung informiert waren und ob sie ihr Versteck gewechselt hatten. Allerdings stellte ich mir vor, wie ich diese Bullen loswerden würde, sobald wir in Kurdistan wären. Ich kenne das Gebiet gut. Also habe ich unerschrieben, dass ich bereit sei, mit der SAVAK zu kollaborieren.“

Zwei bewaffnete Männer begleiteten ihn sodann. In den kurdischen Bergen, die er so gut kannte, ließ Abdul Rahman sie im Teehaus eines ihm vertrauten Dorfes warten. Er hatte ihnen gesagt, dass er seine Kameraden zuerst alleine kontaktieren müsste, damit sie keinen Verdacht schöpften. Er schlug ihnen sogar vor, mit der örtlichen Polizei Kontakt aufzunehmen, damit diese ihnen bei den Verhaftungen helfen könnte.

Lena kannte ihren Liebsten gut genug, um zu wissen, dass die Menschen dessen Charme oft erlagen. Sie stellte sich diese beiden Polizisten vor, wie sie die Scherze und Witzeleien Abdul Rahmans hörten und von der Aufmerksamkeit, die er ihnen zuteil werden ließ, geschmeichelt waren.

Abdul Rahman war in den Bergen Kurdistans daheim wie ein Fisch im Wasser und er wusste, dass die Kameraden alle weit vom Dorf entfernt waren.

Am Ende schloss er sein Geständnis in gezwungen sorglosem Ton ab: „Es kann sein, dass sie dort noch immer auf mich warten.“

„Es ist mir wichtig, dir das alles selbst mitzuteilen, statt dass du es von anderen mit einer anderen Darstellung erfährst.“

„Aber wie konntest du es wagen, nach Teheran zurückzukommen?“

„Du weißt genau, dass es im Schatten der Straßenlaterne schwarz ist.“

„Hast du mir alles gesagt? Du hast mir hoffentlich nichts verschwiegen.“

Aufgrund seines Tons hatte Lena das Gefühl, dass da noch etwas wäre. Die Liebe lehrt es, am Klang einer Stimme, an einem Blick oder einer Bewegung zu erkennen, ob Worte unverfälscht sind. Aber sie bestand nicht darauf und kam nie wieder auf diese Ereignisse zurück. Sie kämpfte mit ihren Zweifeln, aber, was auch immer tatsächlich geschehen war, es stand fest, dass nach der Flucht Abdul Rahmans niemand verhaftet worden war. Die DPKI blieb ohne Schaden.

Es braucht Mut, ein derartiges Geständnis abzulegen. Das Geschehene hingegen zu verbergen, kann Vertrauensverlust zur Folge haben. Trotz ihres Zweifels war es für Lena eine Ehre, die ihr Abdul Rahman damit erwiesen hatte. Und dieser Vertrauensbeweis band sie noch stärker an ihren Mann.

Die Version von Ahmad Agha

Nach der Ermordung Abdul Rahmans im Juli 1989 entschloss sich Lena, einige ihrer Notizen von damals noch einmal zu lesen. Sie ging schließlich am Anfang der 1990er Jahre zu Ahmad Agha, dem inzwischen in Frankreich lebenden Halbbruder Abdul Rahmans. (Er entstammte einer Ehe Wussuq-e Divans mit der Witwe eines Verwandten.) Sie hoffte, dass sie mit Ahmads Hilfe ihre Erinnerungen auffrischen sowie in ihren Heften notierte Eindrücke bestätigen oder widerlegen können würde. Im Laufe ihrer Gespräche kam auch das Thema der Verhaftung Abdul Rahmans auf den Tisch.

Ahmad Aghas Version war anders. Ihm zufolge war Oberst Zibaïe, dessen Grausamkeit und Sadismus allen bekannt waren, zu Ahmad Agha in Teheran gekommen. Zibaïe war ebenso bekannt für seine Korruption. Er verlangte von den Eltern oder engen Angehörigen Gefangener Geschenke und Geld und versprach im Gegenzug gute Behandlung, ja sogar die Freilassung der Häftlinge. Auf diese Weise war er zu einem der reichsten Männer des Iran geworden. Für die Freilassung Abdul Rahmans hatte er von Ahmad Agha, diesem zufolge, fünf Millionen Toman verlangt. In den 1950er Jahren war das auch unter Berücksichtigung der Bedeutung der Bewegung Abdul Rahmans eine sehr beachtliche Summe, wiewohl nicht exorbitant. Abdul Rahman war damals allerdings nur für eines der Mitglieder der Leitung der DPKI gehalten worden. Zibaïe holte immer Informationen über die finanzielle Lage der Eltern und Verwandten seiner Gefangenen ein, um zu wissen, was zu erwarten war. Für Ahmad Agha als einfachen Lehrer handelte es sich dabei um einen sehr hohen Betrag. Er versprach Zibaïe, die Summe unter der Bedingung zu beschaffen, dass dieser persönlich Abdul Rahman nach Hause brächte und ihm gestattete, sich frei zu bewegen. Das habe Zibaïe auch getan. Dann habe er das Geld genommen und sei gegangen. Abdul Rahman selbst habe das Haus seines Bruders bald verlassen und dieser dann über mehrere Jahre nichts mehr von ihm gehört.

*

Nachdem sich die Nachrichten über die Verhaftung und die Freilassung Abdul Rahmans verbreitet gehabt hatten, versuchten Journalisten wiederholt, Lena darüber zu befragen. Sie aber weigerte sich, darüber zu reden, wohl wissend, wie sehr Medien Fakten entstellen konnten. Das hinderte allerdings weder legale noch illegale Zeitungen im Iran, oft verfälschte Berichte über die Befreiung Abdul Rahmans zu veröffentlichen. Manche sprachen sogar von Verrat. Es ist betrüblich, wenn nicht sogar abartig, dass sie das Faktum nicht berücksichtigten, dass nach der Freilassung niemand beunruhigt war...

Geld reicht nur für Flug von Teheran nach Damaskus

Einige Tage nach dem Geständnis ihres Mannes hatte sich Lena auch von ihrer Erkältung erholt, und es war Zeit, Teheran zu verlassen. Man schrieb das Jahr 1958. Einige Jahre vorher war sie auf dem Flughafen von Mehrabad gelandet, eine junge, naive Frau von 19 Jahren, die fest entschlossen war, ihrem Ehemann bei dessen Mission zu helfen. Nun sollte sie von demselben Flughafen nach Europa zurückreisen, mit einem irakischen Pass, unter einem arabischen Namen und von einer Aba verhüllt. Obwohl sie schwierige Situationen hinter sich gebracht hatte, in denen sie ruhig und bei klarem Verstand hatte sein müssen, fürchtete sie diese Reise sehr und musste sich mühsam unter Kontrolle halten. In Mehrabad hatte sie völlig gelassen aufzutreten.

Von Teheran sollten sie und die Kinder nach Damaskus fliegen. Abdul Rahman hatte nicht das Geld, um Flugtickets für eine längere Strecke zu bezahlen.

Qadri Dschian, Philanthrop und Humanist sowie berühmter, kurdischer Dichter, erwartete sie auf dem Flughafen von Damaskus. Er war Jahre zuvor, von den türkischen Pogromen Mustafa Kemals gejagt, nach Syrien ausgewandert. Er war ein zurückhaltender Mann, der wenig sprach. Er nahm Lena und die Kinder mit zu sich nach Hause, wo er mit seiner Frau und seinen Kindern lebte. Hier lernte sie auch Freunde des Dichters kennen, Emigranten wie er, und einige von diesen wurden nach kurzer Zeit auch ihre Freunde.

Lena saß mit ihren kleinen Töchtern zwei Monate lang in einem Hotel in Damaskus fest. Sie verstand nicht, warum das so lange dauerte. Sie hatte einen Pass, es blieb nur, die Karten für den Flug nach Europa zu besorgen. Vermutlich waren die Freunde dabei, das nötige Geld aufzutreiben, aber sie fragte sich auch, warum sie das nicht schon früher getan hätten. Immerhin kosteten die Tickets weniger als der lange Aufenthalt im Hotel. Sicherlich, sie bekamen genug zu essen, die Kinder wurden verwöhnt, die Freunde kamen zu Besuch und nahmen sie zu Ausflügen in die Natur außerhalb der Stadt mit. Sie taten alles, um ihnen den Aufenthalt in Damaskus so angenehm wie möglich zu machen. Aber sie durften das Hotel nicht alleine verlassen, und diese neuerliche Freiheitsberaubung machte Lena ungeduldig. Dazu kam noch, dass es die guten Sitten einer Frau verboten, mit Männern über Geld zu reden. Sie musste ihnen also diese Befugnis überlassen. Außerdem durften die neuen Freunde aufgrund der Lage in Syrien nur in diesem Land bleiben, wenn sie sich nicht in politische Angelegenheiten einmischten. Sich um Lena zu kümmern, bedeutete freilich eine solche, verbotene Einmischung. Es war verwirrend.

Schließlich kam der Tag des Abflugs. Auf dem Flughafen verabschiedete sich Lena von einem Stück ihres Schicksals.