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Schang Hutter (Jean Albert Hutter) wurde 1934 in Solothurn geboren. Wie sein Vater erlernte er das Metier des Steinbildhauers und wuchs im kunstgewerblichen Milieu des väterlichen Geschäftes auf, inmitten von Grabplatten, Reliefs und Brunnenfiguren, die auf Bestellung ausgeführt wurden. Die Steinbildhauerlehre in den Fussstapfen des Vaters war eine Selbstverständlichkeit, doch der Schritt zum freien Künstlertum erforderte Mut und Durchhaltevermögen. Schang Hutter hatte zwar ein solides Handwerk erlernt und war bereits ein geschickter Interpret der menschlichen Figur, Hauptmotiv seines Strebens, doch wie liess sich daraus Kunst schaffen und wie davon leben?
Eine zusätzliche Ausbildung zum Künstler hatte er in der Kunstgewerbeschule in Bern bei Gottfried Keller (1950-1954) erfahren und besonders in der Akademie in München bei Josef Henselmann (1954-1961). Seine Herkunft legitimierte eine künstlerische Tätigkeit, aber mit der Formulierung einer persönlichen Aussage hatte er zu kämpfen. Er suchte die Lösung nicht in der Abkehr vom Figürlichen, sondern in einer Weiterentwicklung, und dies durch härteste, verbissene Arbeit am Modell. Mit beinahe blinder Gewissheit, dass in der Menschendarstellung die Geheimnisse verborgen sind, setzte er den angefangenen Weg fort und schuf vor allem Köpfe, Porträts in Gips, in Stein, Zement, Holz oder auch in Bronze.
Hutter lebte so sehr mit der menschlichen Figur als Medium für sein Kunstanliegen, dass er erst durch Schockerlebnisse und tiefe Gefühlserregungen zu neuen Relationen fand. Der Münchner Aufenthalt (1954-1961) vermittelte ihm grausame Nachkriegseindrücke, die ihn erschütterten; er vermittelte ihm aber auch die Begegnung mit dem Modell Beate. Das Abbild ihres Gesichtes eröffnete ihm eine ganze Welt der Kreation und ein Reservoir an eigenen Kräften. Die zufällige Begegnung mit einer zweiten Beate in Solothurn, 1963, steigerte den bisher entwickelten plastischen Beate-Kopftypus zu maskenhafter Erscheinung und zum Prototypus des schmalen, lächelnden oder grinsenden Gesichts mit Spitznase, mit fliehendem Kinn und eingefallenen Wangen. Den Körper zu diesem eigenwilligen Gesicht musste er erfinden, da der von der Natur geschaffene nicht dazupassen wollte. So entwickelt Hutter in einem langen Entstehungs- und Findungsprozess seine eigene Figur mit dem sonderbaren Kopf, dem flachen, stark stilisierten Körper und den hängenden Beinen. Mit dieser eigenwilligen Formulierung suchte er nicht Einzelmenschen anzusprechen, sondern einen Typus, dessen Präsenz stellvertretend für menschliches Verhalten und für innere Zustände zu werten ist und der in eine ihm unfassbare Umwelt gestellt wird.
Schon die geschnitzten und gedrechselten Holzfiguren fasste Hutter gerne in Bündel zusammen oder stellte sie in Gruppen auf. Der Gedanke der Reproduzier- und Multiplizierbarkeit der Figur war damit schon ausgesprochen, und der Schritt zum Gussprozess bedeutete eigentlich nur noch eine Folge. „Ich wollte in Eisen giessen, nicht in Bronze“, meinte der Künstler im Gespräch. „Ich suchte keine Veredlung. So kam ich über den Grauguss auf Chromstahl und auf Stahl. Guss ist die rationellste Möglichkeit, denn ich möchte immer gleich Resultate sehen. Würde die Figur geschmiedet, so dauerte dies sehr lange.“ Hutter nahm hier einen Gedanken auf, den er schon bei der Arbeit mit Holz geäussert hatte: „Holz setzt überhaupt keine Grenzen. Da kann man alles machen ... Für mich war das Material nur noch Mittel zum Zweck. Ich brauche das Material nur dazu, damit man sieht, was ich mache. Ich benutze Holz, weil es mich am wenigsten hindert, das zu machen, was ich will. Ich nehme es nicht aus ästhetischen Gründen. Soll etwas im Freien stehen, dann kann ich es giessen lassen in Bronze, Eisen oder Stahl, dann ist es haltbar bei gleicher Aussage.“
Der Arbeitsprozess interessiert den Künstler oft mehr als das Endprodukt; in ihm sind die schöpferischen Momente und die Experimentiermöglichkeiten enthalten, die ihn weiterführen. Wie das Verhältnis zu Holz, so ist es auch zu Eisen und Stahl, es ist ein Mittel zum Zweck, und das Giessen bedeutet für ihn einen raschen Prozess, um zu Resultaten zu kommen. „Ich bin Eisengiesser, nicht Eisenplastiker“, betonte der Künstler mehr als einmal.
Die ersten Bemühungen, über die Firmenleitung des Von-Roll-Konzerns zu seinen gewünschten Eisengüssen zu kommen, verliefen immer irgendwo, wie der Künstler sich ausdrückte. 1971 suchte er spontan den Kontakt zu den Giessereien in der Klus und verschaffte sich eigenhändig Zutritt. „Mein Vater hatte dort einmal ein Brunnenrohr in Eisen giessen lassen, und ich wollte ganz früher einmal eine Madonna in Grauguss herstellen. Als ich meine Figuren in Metall haben wollte, suchte ich die Giesserei Von Roll auf. Ich ging einfach hinein, traf dort zufällig auf jemanden, der für Rolf Iseli [die Plastik] Züpfe [Zopf] gegossen hatte und für mein Anliegen ein gewisses Verständnis aufbrachte. Ich wurde dann in die Metallgiesserei geschickt und traf dort auf den Giesser Gottfried Müller, der mir noch heute wertvollen Beistand leistet.“ Hutter wollte einzelne kleine Figuren giessen lassen, doch darunter befand sich eine 300 cm lange, liegende Figur „Sterbender KZ-Häftling“ (1964-1972). Ihre Entstehung ist auf das Schockerlebnis der Münchner Zeit zurückzuführen, als der Künstler zum erstenmal mit Nachkriegsenthüllungen und mit Kriegsbildern des Ungarnaufstandes in Berührung kam. Diese Bilder lösten schöpferische Impulse aus, und Hutter versuchte ihre Wucht mit Bildhauerei zu verarbeiten und auszusprechen. Somit steht die Figur am Anfang einer grossen Reihe von Gefallenen, „Geschüpften“ [Verstossenen], „Vertschalpeten“ [Getretenen], wie der Künstler sich ausdrückt. Das Wort „umgheit“ bedeutet für den Künstler nicht hingefallen, sondern weist auf eine auf den Boden geschlagene Figur hin. 1980 entstand in der Giesserei Olten das grosse in Sphäroguss angefertigte Werk „Vertschaupet“ [Zertreten]. Die Werkgruppe steht heute auf dem Bahnhofplatz in Biel. Sie zeigt solche auf den Boden geschlagene Figuren, während stehende Figuren indifferent diesem Geschehen gegenüber weiterzuschreiten scheinen. Sicher hatte hier Alberto Giacomettis Werk einen tiefen Eindruck auf den Künstler hinterlassen.
Den Hutterschen Figuren ist die grosse Fragilität der Balance eigen. Sie stehen oft nur dank einem Sockel, auf welchen sie montiert werden; das Zentrum der Statik befindet sich anderswo, nämlich im Kopf oder, nach der Aussage des Künstlers, das Zentrum ist die Nase. Die Beine scheinen zufällig, marionettenhaft auf den Boden zu stossen. Heute besitzen die Figuren überlange Arme, die zu expressiven, raumausgreifenden Gesten in seinen Veitstänzen und Gruppenplastiken teils gebündelt werden. Das Armmotiv, wieder auf ein Initialerlebnis zurückzuführen, dynamisiert und erweitert virtuos den Balanceakt seiner Figuren wie beim Seiltanz und kann auch als zusätzliche Standhilfe dienen. Ein Sockel wird somit überflüssig, und die Figuren beginnen sich akrobatisch zu drehen, kippen und spannen. Sie beginnen sich auch zu deplazieren, zu „zügeln“, angedeutet in zurückgelassenen Beinfragmenten. Dieses Motiv geht gemäss den Erklärungen des Künstlers auf einen „Arbeitsunfall“ zurück. Er soll plötzlich gezwungen worden sein, die Beine der Figuren zu verschieben, da sie nicht am vorgesehenen Ort auf den Boden stiessen. Zur Akrobatik seiner Figuren meinte der Künstler: „Viele Erlebnisse wirken wie ein Schock auf die Lebensweise eines Menschen. Er darf die Reaktionen nach aussen nicht zeigen. Unsere Gesellschaftsnorm zwingt ihn, sich konform zu verhalten. Das belastet. Ich versuche diesen inneren Druck mit meinen Figuren sichtbar zu machen. Ich nenne diese nach aussen gekehrten inneren Zustände Veitstänze.“ Heute weisen seine Werke eigenartige Maskenköpfe mit glotzenden Froschaugen, spitzen Nasen und schwungvollen Lippen auf.
Immer mehr versucht Hutter seine plastische Aussage zu verdichten, durch zeichenhafte Formulierungen, die gewaltig in den Raum hinauszugreifen beginnen. Diese ermöglichen ihm auch den Schritt zur Grossplastik. Er bewahrt zwar menschliche Dimensionen in der Gestaltung der Figur, monumentalisiert aber die Gestensprache. Solche Werke mögen in Museumsräumen gross und aggressiv erscheinen, in den Fabrikhallen der Schwerindustrie wirken sie stets gebrechlich, unkörperlich und schwindsüchtig. Liegen sie mit Schlacke behaftet noch am Boden, würde sie jeder Arbeiter auf den Haufen der Produktionsunfälle befördern. In den Hutterschen Figuren kommt wohl die Unvereinbarkeit von Relationen am eindrücklichsten zum Ausdruck, denn diese Figuren, im gewaltigen Umfeld der Stahlindustrie geboren, muten wie eine Farce an. Ihre Kraft erhalten sie erst bei der Fertigstellung im Künstleratelier und in Räumen mit menschlichen Dimensionen. Einen grösseren visuellen Widerstand vermögen sie erst in Massenauftritten zu erzeugen. Hier liegt dem Künstler ein noch grosses Feld künstlerischer Interpretationen offen.
1) Ausstellungskatalog Schang Hutter: Figuren bis 1988 und Zeichnungen, Berlin DDR, Neue Berliner Galerie im Alten Museum, 1989 (10. März 1989 bis 23. April 1989), S. 17.
Dieser Text entstammt dem Buch ‚Künstlerwerkplatz Industrie‘, erschienen 1990 im Artemis Verlag, Zürich und München (ISBN 3-7608-1041-1). Im Einverständnis der Autorin wird er nun auf der Homepage www.schang-hutter.ch veröffentlicht.