"Wenn das Ich auf BIOS zurückgesetzt wird – Seelsorge am Rand der Sprache" 
1) Einstieg
Wie spricht man darüber, wenn Erfahrungen tiefer reichen als jedes Wort? Wenn z.B. ein Mensch mit 68 Jahren plötzlich spürt, dass er Jahrzehnte nicht gelebt, sondern überlebt hat? Wenn nicht ein Ereignis, sondern eine Struktur in die Knie zwingt?
Der Zusammenbruch kam nicht als Katastrophe, sondern als Verstummen. In drei Ehekonflikten zeigte sich: Nicht der Erwachsene reagierte, sondern ein zutiefst verletztes inneres Kind. Was folgt, ist ein innerer Absturz. Aber keiner, der zerstört. Sondern einer, der das System neu startet. Im Bild: Das Ich fällt auf BIOS zurück. Alles Frühere wird infrage gestellt.
Dabei wird spürbar, was lange verborgen war: emotionale Vernachlässigung und körperlich erlittene Übergriffe im frühesten Kindesalter, vermutlich im ersten Lebensjahr. Der Körper erinnert. Und eine Kusine bestätigt intuitiv: "Ich kann das Wort Säugling kaum aussprechen, wenn ich an Dich denke."
Für die Seelsorge bedeutet das: Sprache reicht nicht. Theologie reicht nicht. Und auch professionelle Haltungen stoßen an Grenzen, wenn das Gegenüber nicht Orientierung, sondern einen sicheren Körper braucht.
Einmal lag der Mann über eine Stunde schweigend in den Armen einer professionellen Berührungsbegleiterin. Keine Therapie, kein Ritual. Nur Dasein. Eine Regression, die nicht infantil war, sondern notwendig. Danach begann langsam ein Wandel.
Der Mann verliert 18 Kilogramm an Gewicht. Das Interesse an den „kleinen Freuden des Lebens“ erlischt schlagartig. Die Sexualität kehrt zurück, nicht getrieben, sondern wach. Es ist keine Erlösung, aber ein Signal: Etwas lebt, das vorher geschwiegen hat.
Der Prozess gleicht einer Schamanenreise: nicht geplant, nicht gesucht, sondern wie ein Sturz in die Unterwelt. Dort erscheinen die verdrängten Gestalten der Kindheit, die Schatten des eigenen Körpers, die Narben einer nicht erzählten Geschichte. Was wie ein Zusammenbruch wirkt, wird in dieser Perspektive zum Durchgang – ein Abstieg, der nicht beim Trauma endet, sondern eine Schwelle öffnet. Der Schamane ist nicht Held, sondern Verwundeter, der sich von Kräften führen lässt, die größer sind als sein Ich. In dieser Bewegung wird Seelsorge selbst schamanisch: Sie begleitet nicht als Wissende, sondern als Zeugin einer Transformation, die aus Schmerz und Schweigen eine neue Sprache des Leibes hervorbringt.
2) Seelsorge im BIOS
Seelsorge in solchen Fällen bedeutet nicht, Antworten zu geben. Sondern einen Spiegel zu halten. Einen Raum zu bieten, in dem kein Urteil geschieht. Und eine Sprache zu riskieren, die nicht vorgibt, zu wissen. Was bedeutet hier das BIOS? Es ist tatsächlich der Computersprache entlehnt: BIOS - hier nicht griech. Leben, sondern Basic Input Output System - bedeutet in der Sprache der Traumata-Behandlung die Erfahrung, dass Lebens-Zusammenhänge, personale Bindungen, soziale Vernetzungen buchstäblich unwirklich erscheinen und als nicht mehr zugehörig erlebt werden – so wie ein PC, der über keine formatierte, geschweige denn mit Programmen gefüllte Festplatte mehr verfügt, sondern nur noch der sich selbst blinkende Cursor auf dem „Blue Screen“ ist. Außenstehende oder Angehörige erleben das als völligen Rückzug oder völlige Verfremdung des Betroffenen, der in der Tat soziale Kontakte nicht aktiv abbricht, sondern einfach nicht mehr in Resonanz verfällt und geht – Apathie pur. Sprache trägt nicht mehr, wenn Traumata aufbrechen, die im vorsprachlichen Bereich der frühesten Kindheit liegen. Wenn sie noch Resonanz findet, wird sie als Bildsprache zumeist bedrohlich assoziiert; so löst beispielsweise die Bildsprache von Gott als liebendem Vater oder gar liebender Mutter tiefste Abwehr und Ekel aus.
Vielleicht ist genau dann Seelsorge im ursprünglichsten Sinn gefordert: Dass einer in der Sprachlosigkeit bleibt – und dennoch nicht geht.
- Was ist Halt gebender Raum – und was ist Halt gebende Zeit? 
Raum ist nicht nur ein Ort, sondern eine Qualität: Atmosphäre, Offenheit, Schweigen, leibliche Präsenz. Halt gebend wird er, wenn er von Erwartungen entlastet, von diesen frei ist.1
Zeit ist nicht Takt oder Kalender, sondern Rhythmus: ein Tempo, das sich nach dem Menschen richtet, nicht nach der Institution.
- Was bedeutet es für die Seelsorge, wenn Sprache versagt – und nur Präsenz bleibt? 
Wenn Sprache versagt, ist Präsenz keine „zweite Wahl“, sondern das Primäre: Gottesbeziehung selbst ist oft schweigend, unaufdringlich.
Theologisch: Die „Sprachlosigkeit Gottes am Kreuz“ ist der Archetyp seelsorglicher Präsenz. Und im kleineren Format sind es die Freunde Hiobs, die schweigend bei ihm hocken.
- Muss Seelsorge auch körperlich denken lernen? 
Ja, weil der Körper Erinnerungen trägt, die Worte nicht erreichen – Trauma, Trost und Halt sind leiblich verankert.
Ja, weil Inkarnation bedeutet: Gott wird nicht Gedanke, sondern Leib – und Seelsorge darf das nicht ignorieren.
- Was ist der „sichere Körper“ in der pastoralen Arbeit – im übertragenen wie im leiblichen Sinn? 
„Sicherer Körper“ meint doppelt: den eigenen Körper als Ressource (Atem, Stimme, Haltung, Gestik), - den Raum für den Körper des Gegenübers (Nähe, Distanz, Schutz).
Seelsorge müsste lernen, dass Inkarnation nicht nur eine dogmatische Formel ist, sondern ein methodischer Schlüssel: Leiblichkeit als Ort von Gottesnähe.
- Wie geht Kirche mit Geschichten von Menschen um, die nicht erzählbar sind, weil in wortloser Zeit geschehen? 
Nicht alles lässt sich integrieren. Aber: Auch das Fragment gehört ins Heilige. Seelsorge muss Orte haben, wo Brüche nicht „geheilt“ werden, sondern existieren dürfen. Mystische Tradition: „Die Wunde bleibt, aber sie wird sprechend.“
- Dürfen auch nicht-integrierbare Lebensgeschichten ein geistliches Zuhause finden? 
Ja, sie müssen ein geistliches Zuhause finden, weil gerade die Brüche zeigen, dass Glaube nicht von Vollständigkeit lebt, sondern von Zusage. Und sie müssen es, weil ungelöste Geschichten Seelsorge und Kirche davor bewahren, sich in falscher Harmonie oder dogmatischer Glätte einzurichten.
- Was passiert mit einem System, das Trauma nur als seelsorglichen „Anlass“ versteht, nicht aber als geistliche Kategorie? 
Trauma ist nicht nur Anlass für Gespräch, sondern ein Ort der Gotteserfahrung: Im Verstummen wird offenbar, dass Gott nicht durch Antworten, sondern durch Aushalten wirkt. Bonhoeffer: „Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt, und gerade so und nur so ist er bei uns.“
- Gibt es einen geistlichen Ort für das Verstummen, für das „Ich falle auf BIOS zurück“? 
„Zurückfallen auf BIOS“ = Rückkehr zum Grundprogramm: Atmen, Körper spüren, Halt suchen. Geistlich: Auch die Kirche selbst braucht solche Rücksetzungen – eine „Entlastung vom Überbau“.
- Wie verändert sich Theologie, wenn sie den Körper mitdenkt? 
Theologie verändert sich, wenn sie den Körper mitdenkt, weil sie dann Leib und Geist nicht mehr trennt, sondern Spiritualität als gelebte, verkörperte Wirklichkeit versteht.
Im Blick auf den Hinduismus wird sichtbar, dass Körperhaltungen, Tanz und Atem dort selbst Träger von Gotteserfahrung sind – eine Dimension, die unsere westliche Theologie erst wieder neu lernen müsste.
3) Praktische Überlegungen
- Inkarnation der Seelsorge: Kann heißen, dass die Gestalt der Zuwendung wichtiger ist als die Worte. 
- Spirituelle Formen für posttraumatische Kirche: Offene Räume, Schweigeandachten, „Halt-Zeiten“. 
- Rituale des Daseins: Weniger Deutung, mehr Resonanz. 
- Sakramente als Schutzräume: Taufe nicht nur „Eintritt“, sondern „Zusage von Schutz“. Abendmahl nicht nur „Erinnerung“, sondern „Gestärkt werden“. 
- Verzicht auf Wirksamkeit: Ein Gegenmodell zur Leistungskirche. 
- Kontingente Präsenz: Kirche als Ort, der nicht vorgibt, alles zu wissen, sondern das Nichtwissen teilt. 
- Theologische Verankerungen 
- G.A. Kelly: Konstrukte können zerbrechen – Halt entsteht nicht durch „Antworten“, sondern durch den, der bleibt. 
- Dorothee Sölle: Mystik als Raum, wo Schweigen, Wunden, Körperlichkeit nicht ausgeschieden werden. 
- Fulbert Steffensky: „Glaube ohne Trost ist Glaube“ – genau dort sind Räume des BIOS-Glaubens. 
Konkrete Impulse
- Raum statt Lösung - In der Seelsorge gewinnen Formen an Bedeutung, in denen nicht eine schnelle Lösung gesucht wird, sondern in denen Raum gehalten wird. Statt klärender Problemgespräche entstehen Formate, die eine wache Gegenwart ermöglichen – etwa in der kontemplativen Seelsorge oder in existenzieller Begleitung. Es geht darum, Halt-Räume zu schaffen, die durch ritualisierte Formen des Daseins geprägt sind: Stille, Schweigen, Berührung, Klang. Ein Beispiel hierfür ist eine Gemeindegruppe, die ihr Gesprächsangebot durch eine wöchentliche stille Stunde im Kirchenraum ersetzte. Dort wurde nichts erklärt und nichts beschlossen, sondern lediglich ein Raum der Gegenwart gehalten. Manche Betroffene berichten, dass allein die Möglichkeit, schweigend in einem solchen Raum zu sitzen, mehr Halt schenkt als jede wohlmeinende Deutung. 
 Manche Betroffene berichten, dass allein die Möglichkeit, schweigend in einem gehaltenen Raum zu sitzen, mehr Halt schenkt als jede wohlmeinende Deutung. Nicht mehr das „Problemgespräch“, sondern Halt-Räume mit ritualisierten Formen des Daseins (Stille, Schweigen, Berührung, Klang) wurden als hilfreich erfahren.
 
- Zeitsensibilität fördern 
 Ebenso wichtig ist die Förderung von Zeitsensibilität. Das bedeutet eine strukturelle Entlastung von der gängigen Event- und Programmlogik und die Entwicklung verlangsamter pastoraler Zonen. Dazu gehören Kasualgespräche, offene Räume und individuelle Prozesse mit Langzeitfokus. So musste etwa ein Trauergespräch nicht in 60 Minuten abgeschlossen werden, sondern konnte sich über Wochen hinweg als Serie kurzer Begegnungen entfalten. In einer Gemeinde wurden „offene Donnerstage“ eingeführt, an denen Menschen ohne Termin kommen konnten – ohne Programm, lediglich mit der Zusage: Hier ist Zeit für dich.
- Liturgie als Leib-Raum neu denken 
 Liturgie kann als Leib-Raum neu gedacht werden. Körperlichkeit darf darin ausdrücklich andocken, nicht nur im Rahmen von Taufliturgien, sondern auch in seelsorglichen Ritualen wie der Handauflegung. Manche Erfahrungen zeigen, dass gerade Rituale ohne viel Erklärung eine besondere Tiefe gewinnen: das stille Dasein im Sakralraum, eine Nachtwache, ein „leerer Gottesdienst“, in dem Raum, Kerzenlicht und Stille wirken, ohne Predigt, ohne Liturgieheft.
 Bei einer Krankensegnung etwa stand nicht das gesprochene Wort im Mittelpunkt, sondern die Handauflegung – spürbar, einfach, ohne Kommentar.
 Ein Kirchenkreis experimentierte mit „leeren Gottesdiensten“: geöffneter Raum, Kerzenlicht, Stille – wer kam, blieb, ohne Liturgieheft und Predigt.
 Seelsorge als „Verzicht auf Wirksamkeit“ lernen
 Seelsorge muss zugleich lernen, ein „Verzicht auf Wirksamkeit“ zu sein. Das bedeutet, nicht sofort zu reagieren, sondern mit auszuhalten, mitzufühlen, wie ein seismographisches Gegenüber. Theologisch lässt sich dies im Bild Gottes als „nicht eingreifender Anwesender“ fassen, wie es Johann Baptist Metz in seiner „Mystik der offenen Augen“ entfaltet.
 Eine Pfarrerin etwa entschied bewusst, in Krisengesprächen keine Ratschläge zu geben, sondern das Erlebte mitzutragen. In einer Notfallsituation bestand ihre Seelsorge nur darin, am Krankenbett zu sitzen – stumm, aber spürbar anwesend.
 Strukturimpulse (systemisch gedacht)
 Damit Seelsorge in diesem Sinn wachsen kann, braucht es auch Strukturimpulse. Gemeinden benötigen nicht nur Leitende, sondern Haltende. Pfarrerinnen und Pfarrer selbst brauchen tragende Mentoring-Strukturen, um in emotional herausfordernden Feldern nicht allein zu bleiben. Supervision, verbunden mit Körperarbeit, kann hier entscheidend helfen. Vor allem aber sollte Seelsorge institutionell von Effizienzdruck entkoppelt werden. Sie darf nicht in Leistungskatalogen oder Checklisten verschwinden, sondern braucht geschützte Räume: Präsenzzeiten, Notfallsprechstunden, ritualisierte Formen, in denen die Gemeinde ein Gespür für Halt entwickeln kann.
 Eine Gemeinde beispielsweise berief neben Kirchenvorstand und Ausschüssen auch „Haltende“: Menschen, die keine Programme leiteten, sondern Präsenzzeiten hielten. In einer Region wurde Supervision mit Körperarbeit kombiniert: Pfarrpersonen übten Atem- und Erdungsübungen, um im seelsorglichen Alltag selbst nicht zu zerbrechen. Eine Landeskirche schuf „offene Präsenzstunden“, in denen Pfarrpersonen einfach ansprechbar waren – ohne Agenda, ohne Terminlisten.
 Die „extremste“ Lösung mitbegleiten
 Die uns am extremsten erscheinende Lösung eines Traumas ist die vollständige Dissoziation in Form einer fugue. Dabei bricht die innere Kontinuität ab, die Person entfernt sich nicht nur psychisch, sondern auch äußerlich, und lebt zeitweise in einer gänzlich anderen Identität. Solche Fälle sind selten – und gerade deshalb in unserem Bewusstsein so eindrücklich. Weitaus häufiger begegnet uns jedoch eine mildere, gleichwohl tiefgreifende Variante: Der Persönlichkeitskern strukturiert sich von Grund auf neu. Alles, was bisher Orientierung gab, verliert seinen Halt. Bezüge, die über Jahre selbstverständlich waren – etwa zur Kirche oder zu vertrauten sozialen Feldern –, werden plötzlich irrelevant. Das familiäre Umfeld bleibt zwar äußerlich bestehen, erscheint Betroffenen aber nicht mehr als „Zugehörigkeit“, sondern eher wie eine Art „Wechselfestplatte“: verfügbar, erkennbar, aber nicht mehr identitätsstiftend.
Glaubensinhalte, die einst Kernüberzeugungen waren, fallen weg; völlig andere, mitunter radikal neue, können an ihre Stelle treten. Zugleich bleibt die Identität des Betroffenen erhalten – jedoch oft in einer Sprache, die theologisch kritisch ist, die nicht mehr in kirchliche Treue zurückwill, sondern die eigene Erfahrung in neue Worte fasst. Das kann als Bruch erscheinen, ist aber in Wahrheit eine Neuordnung: Identität nicht als Festhalten an alten Mustern, sondern als Weitergehen auf einer neuen Spur.
Gerade dieser Prozess lässt sich auch biografisch und kulturgeschichtlich verstehen. Wenn jemand nicht nur innere Strukturen neu ordnet, sondern auch den äußeren Kulturkreis wechselt, dann wird die Dissoziation gleichsam in eine konkrete Bewegung übersetzt: im Beispiel eingangs aus dem europäischen Kirchensystem hinaus in Shivas Hochburg nach Tiruvannamalai. Was äußerlich wie eine Flucht wirkt, ist innerlich eine konsequente Fortsetzung der Suche: ein Loslassen der alten Koordinaten, um Raum für eine andere, vielleicht klarere, vielleicht widersprüchlichere, aber dennoch wahrhaftige Form der Identität zu schaffen.
Eine kirchliche Seelsorge, die derart extreme Prozesse begleiten will, darf nicht in erster Linie Institution oder Deutungshoheit beanspruchen, sondern muss Haltung und Raum anbieten. Es geht weniger um Antworten als um die Fähigkeit, das „Unfassbare“ nicht vorschnell zu fassen.
Begleitung bedeutet hier, den Bruch nicht zu skandalisieren, sondern als existenziellen Ernstfall wahrzunehmen. Eine Kirche, die Dissoziation und radikale Neuorientierung miterlebt, kann Betroffene unterstützen, indem sie Halt-Räume schafft: nicht als Rückholstation in alte Zugehörigkeiten, sondern als gastfreundliche Umgebung, in der das Suchen selbst geachtet wird.
Das setzt voraus, dass kirchliche Begleitung aushält, dass zentrale Inhalte wegfallen, dass Gottesbilder zerbrechen, dass Sprache schärfer, kritischer, sicher sogar aggressiver wird. Eine seelsorgliche Haltung kann sich dann weniger an dogmatischer Reinheit messen, sondern an einer „tragenden Gastfreundschaft“. Manchmal bedeutet das: schweigend mitgehen, ohne sich provozieren zu lassen. Manchmal bedeutet es: liturgische Formen anbieten, die nicht erklären, sondern leiblich und symbolisch Halt geben – Kerze, Klang, Handauflegung, Raum.
Wenn die Identität sich neu formt, kann Kirche eine „Zeugin“ bleiben – nicht als Richterin oder Rückführerin, sondern als mitgehende Instanz, die sagt: Dein Weg darf so radikal sein, und doch bleibt er ein Weg vor Gott. Gerade in Fällen, in denen Menschen ihren Kulturkreis wechseln oder ihre Glaubenssprache völlig umschichten, braucht es eine Kirche, die nicht Besitzansprüche stellt, sondern Weggefährtin bleibt.
Trauma, Dissoziation, Virtualität
Forschungen zum Zusammenhang von Dissoziation und dem Erleben von Realität als Virtualität2 haben in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. So zeigte eine nicht-klinische Studie von Frederick Aardema und anderen (2010), dass Virtual-Reality-Erlebnisse das Gefühl verstärken können, die objektive Realität sei weniger präsent. Dreißig Teilnehmende berichteten nach einer VR-Erfahrung von verstärkter Depersonalisation und Derealisation – Phänomene, die als Kernsymptome von Dissoziation gelten. Die reale Welt erschien weniger geerdet, weniger unmittelbar zugänglich. Auch van der Kloet und Kolleg:innen (2018) konnten nachweisen, dass gesunde Proband:innen bei virtuellen Körperwechseln – etwa wenn sie sich in VR von außen selbst betrachten – akute Dissoziation erleben. Besonders deutlich wurde das Gefühl von Distanz zum eigenen Körper, eine klassische Form der Depersonalisation. Taveira et al. (2022) ergänzen diesen Befund: Virtual-Reality-Erlebnisse können dissoziative Symptome hervorrufen, meist jedoch nur vorübergehend und ohne krankhaften Charakter. Weitere Studien belegen, dass Menschen mit einer Neigung zu Dissoziation oder mit starker Immersionserfahrung besonders sensibel reagieren: Sie berichten häufiger, dass die reale Welt weniger präsent wirkt, beinahe wie „hinter Glas“ oder träumerisch entrückt. Damit bestätigt die Forschung, was in der klinischen Literatur längst diskutiert wird: Derealisation und Depersonalisation sind zentrale Ausdrucksformen von Dissoziation – und sie lassen die alltägliche Wirklichkeit wie eine Virtualität erscheinen.
Die Erfahrung, dass Realität wie Virtualität wirkt, kann als Ausdruck tiefer Dissoziation verstanden werden. Wenn das Ich – wie im Bild des BIOS-Resets – auf seinen innersten Kern zurückfällt und alles Gewohnte in Frage steht, erscheint die Welt bisweilen wie simuliert, als sei die Verbindung zu ihr brüchig geworden. Für die Seelsorge bedeutet das eine besondere Herausforderung: Sprache reicht nicht, theologische Formeln greifen ins Leere. Es braucht Bilder, Rituale, Präsenz, manchmal auch die leibliche Erfahrung von Nähe und Halt, um dieser Wirklichkeit einen Raum zu eröffnen.
Kirche und Theologie bewegen sich dabei stets zugleich in realen wie in virtuellen Räumen. Gotteserfahrungen lassen sich nicht in eine rein reale Sprache bannen. Sie ereignen sich in Imaginationen, die selbst schon auf Virtualität verweisen. Letztlich sind beide Dimensionen – die reale und die virtuelle – nicht voneinander zu trennen, sondern als Einheit zu begreifen: als ein Raum, in dem Wirklichkeit und Möglichkeit ineinanderfließen und in dem das Unsagbare Resonanz findet.
Die konsequenteste Form einer solchen Auffassung zeigt sich im Hinduismus. Dort ist die göttliche Wirklichkeit nicht auf eine einzige dogmatische Form beschränkt, sondern sie enthält auch das Gegenteil in sich. Gott verkündigt sich ebenso durch sein Nicht-Sein wie durch seine Gegenwart. Darum ist es für Brahmanen (hinduistische Priester) keinerlei Problem, wenn Atheisten predigen – im Gegenteil: es verweist auf die Weite einer Tradition, die auch Bruch, Leere und Widerspruch nicht ausschließt, sondern in das göttliche Ganze integriert, das sich selbst zu negieren im Stande ist.
So entsteht ein Bild, das für unsere Kirche herausfordernd sein könnte: Begleitung nicht als Bewahrung des Eigenen, sondern als Bereitschaft, selbst die radikalsten Formen von Identitätswandel, Zweifel oder Fremdheit in einen geistlichen Raum zu halten. Gerade dort, wo alles zerbricht, bleibt noch die Möglichkeit, im Schweigen, im Ritual, im gemeinsamen Atem etwas von Transzendenz zu ahnen.
Fazit
Kirche kann nicht heilen. Aber sie kann halten. Nicht durch Moral. Nicht durch Lehre. Sondern durch Räume und Zeiten, in denen Menschen nicht allein sind und niemand fliehen muss, wenn es weh tut.
**Faktenkasten
– PTSD (post traumatic Stress Disorder)3 in Deutschland / Europa**
- Prävalenz gesamt: 1–3 % aktuell, 7–8 % im Lebensverlauf 
- Frauen: etwa doppelt so häufig betroffen wie Männer . 
- Häufige Ursachen: Gewalt- und Missbrauchserfahrungen, Krieg und Flucht, Unfälle, schwere Krankheiten . 
- Kirchengemeinde mit 3.000 Mitgliedern (Durchschnitt): - 30–90 Menschen mit akuter PTSD. 
- 200–240 Menschen mit erlebter oder partiell fortbestehender PTSD. 
- 300–450 weitere mit traumabezogenen Symptomen (Dissoziation, Panik, Albträume). 
 
- Folgeprobleme: hohe Komorbidität (Depression, Angststörungen, Suchterkrankungen). 
- Besonderheit für Seelsorge und Kirche: viele Menschen mit Traumahintergrund bleiben unsichtbar – sie meiden Gespräch, Sprache oder Institutionen, tauchen aber in nicht zu persönlichen Gemeindegruppen und Gottesdiensten und Ritualen auf, die ein Inkognito gewähren. 
Quellen:
- Jacobi et al. (2014): Prävalenz psychischer Störungen in Deutschland. Der Nervenarzt 85:77–87. 
- Wittchen & Hoyer (2011): Klinische Psychologie & Psychotherapie. Springer. 
- Kessler et al. (1995): Posttraumatic stress disorder in the National Comorbidity Survey. Arch Gen Psychiatry 52(12). 
- Maercker, A. (2019): Posttraumatische Belastungsstörungen. Springer. 
1Kann ein ev. Gottesdienst das überhaupt leisten? Nein! Und auch der Kirchraum als solcher ist nicht fähig, dieses Raumprinzip zu verkörpern. Sinnvoller ist es, eine Scheune, ein freies Feld, ein Stück Wald als einen solchen Raum zu definieren.
2Vgl. Zum folgenden: Aardema, F., O’Connor, K., Côté, S., & Taillon, A. (2010). Virtual reality induces dissociation and lowers sense of presence in objective reality. Cyberpsychology, Behavior, and Social Networking, 13(4), 429–435. https://doi.org/10.1089/cyber.2009.0164 van der Kloet, D., Dijkstra, K., von Oertzen, T., Giesbrecht, T., & Merckelbach, H. (2018). Out-of-body experience in virtual reality induces acute dissociation. Journal of Behavior Therapy and Experimental Psychiatry, 59, 12–17. https://doi.org/10.1016/j.jbtep.2017.10.004 Taveira, M., Lemos, A., & Ferreira, A. (2022). Virtual reality-induced dissociative symptoms: A systematic review. Cyberpsychology, Behavior, and Social Networking, 25(6), 376–384. https://doi.org/10.1089/cyber.2021.0173