Fontane


"Es rauscht und rauscht immer, aber es ist kein richtiges Leben."

Zur Topographie des Fremden in Fontanes Effi Briest


von Michael Andermatt, Universität Zürich
In: Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Im Auftrag des Theodor-Fontane-Archivs hrsg. von Hanna Delf von Wolzogen in Zusammenarbeit mit Helmut Nürnberger. Bd. 3: Geschichte – Vergessen – Großstadt – Moderne. Würzburg 2000, S. 189-199.


Als Theodor Fontane am 28. Juli 1890 dem Verleger Adolf Kröner den Roman 'Effi Briest' ankündigte, tat er dies im wesentlichen über die Topographie. Er schriebt:

„[Der Roman] spielt im ersten Drittel auf einem havelländischen adligen Gut, im zweiten Drittel in einem kleinen pommerschen Badeort in der Nähe von Varzin und im letzten Drittel in Berlin. (HFA IV, 4, S. 55)“

Im vollendeten Roman spielen die genannten Handlungsschauplätze schließlich eine zentrale Rolle. Wie sehr sie dies tun, wird einem bewußt, wenn man sich eine Effi Briest ohne Hohen-Cremmen und ohne Kessin vorzustellen versucht. Die Forschung ist sich deswegen einig, daß die Raumgestaltung für 'Effi Briest' ein "konstitutives Element" bildet.

Der Roman 'Effi Briest' erzählt bekanntlich eine "Ehebruchsgeschichte" und handelt in der Bismarck-Zeit. Im "europäischen Kontext des für diese Epoche […] typischen Ehebruchromans" verkörpern Ehe und Karriere die Ordnung von Gesetz, Tugend und Konvention der bürgerlichen Gesellschaft. Fontane hat in einem Brief an Friedrich Stephany darauf hingewiesen, daß für ihn Skandale, wie er sie in der Effi Briest schildert, immer über eine politische oder kulturkritische Dimension verfügen:

„Die Details [solcher Skandalfälle] sind mir ganz gleichgültig – Liebesgeschichten, in ihrer schauderösen Ähnlichkeit, haben was Langweiliges –, aber der Gesellschaftszustand, das Sittenbildliche, das versteckt und gefährlich Politische, das diese Dinge haben […], das ist es, was mich so sehr daran interessiert.“

Ich werde im Folgenden zeigen, daß Fontane in 'Effi Briest' mittels der Raumgestaltung eine Topographie des Fremden entwirft, die mit dem Verlauf und den Krisen der dargestellten Ehe korrespondiert. Der Roman projiziert die Ehekonflikte des Paares Effi–Innstetten auf den dargestellten Raum. Er tut dies über den Gegensatz von 'Natur' und 'Kultur', der als kulturgeschichtliches Ordnungs- und Denkmuster die Geschlechterrollen gleichermaßen wie die Topographie strukturiert. In diesem Vorgehen gerät Fontane der Romanraum zum "Ort der Zivilisationsarbeit". Und eben darin gelangt jenes "versteckt und gefährlich Politische" zum Ausdruck, das Fontane so sehr interessierte.

I

Ort des Fremden im Roman ist in erster Linie Kessin. Bereits die erste Thematisierung des Ortes im Gespräch zwischen Effi und ihren Hohen-Cremmner Freundinnen legt diese Fremdheit fest, indem sie Kessin als das Unbekannte und Ferne einführt. "Was ist Kessin? Ich kenne hier kein Kessin." sagt eines der Mädchen, und Effi erklärt: "Nein, hier in unserer Gegend liegt es nicht; es liegt eine hübsche Strecke von hier fort in Pommern, in Hinterpommern sogar […]." (HFA I, 4, S. 13)

Diese Fremdheit Kessins korrespondiert von Anfang an mit Innstetten, der im selben Gespräch als Landrat des Kessiner Kreises vorgestellt wird und von dessen Name Effis Freundinnen befremdet feststellen: "So heißt doch hier kein Mensch." (HFA I, 4, S. 12)

Zugleich ist dieses Ferne und Unbekannte von Kessin und Innstetten, und zwar ebenfalls von Anfang an, mit Entsagung, Leid und Morbidität verbunden, denn Kessin erscheint im Gespräch der Mädchen gewissermaßen als Innstettens Exil, in das er sich nach enttäuschter Liebe zurückgezogen habe. Nicht gerade das Leben genommen, erklärt wiederum Effi, habe er sich, aber "ein bißchen war es doch so was" (HFA I, 4, S. 13), nämlich: " […] er mochte […] nicht länger hier in der Nähe bleiben […] fing an, Juristerei zu studieren, [saß] bei seinen Akten, […] und so kam es denn, daß er Landrat wurde, Landrat im Kessiner Kreis." (HFA I, 4, S. 13)

Die Fremdheit von Innstetten und Kessin resultiert an dieser Stelle deutlich aus der kindlichen Betrachtungsweise der Mädchen. Es ist ein Spezifikum von Fontanes Raumgestaltung, daß die Handlungsschauplätze in perspektivischer Brechung zur Darstellung gelangen. Der Raum kann zwar durchaus auktorial aus der Sicht des Erzählers in Erscheinung treten, aber häufig wird er, wie hier zwischen Effi und ihren Freundinnen, gesprächsweise zwischen den Figuren entwickelt. Fontane erreicht damit eine Dynamisierung des Raumes, "denn die verschiedenen figuralen Raumentwürfe treten nicht nur untereinander in eine dialogische Beziehung, sondern sie messen sich auch am Erzählerraum, wobei sowohl Kongruenz als auch Kontraste entstehen können". Fontanes Raum repräsentiert mithin keine eindeutig feststehende Größe. In der Entstehung und im Nebeneinander verschiedener Raumbilder thematisiert sich das Aufeinanderstoßen unterschiedlicher Wahrnehmungsweisen und Denkmuster. Kessin ist fremd vorerst nur insofern, als damit die kindliche Perspektive von Effi und ihren Freundinnen zum Ausdruck kommt.

Erstmals Widerspruch erwächst dieser Perspektive in der Figur von Effis Mutter. Als Effi, nun mit Innstetten verlobt, kurz vor ihrem Hochzeitstag ihrer Mutter gegenüber "Kessin als einen halbsibirischen Ort" ausphantasiert, "wo Eis und Schnee nie recht aufhörten" (HFA I, 4, S. 28), und sich, weil sie ja nun "so hoch nördlich" (HFA I, 4, S. 28) käme, "einen Pelz" (HFA I, 4, S. 28) wünscht, beginnt sich Frau von Briest Effis "merkwürdiger Vorstellung von Hinterpommern" (HFA I, 4, S. 27) allmählich zu widersetzen. "Aber Effi, Kind, das ist doch alles bloß leere Torheit." (HFA I, 4, S. 28) sagt sie. Und etwas später, als sich Effi für Kessin noch einen "japanischen Bettschirm" (HFA I, 4, S. 30) wünscht, mit "schwarzen und goldenen Vögeln darauf, alle mit einem langen Kranichschnabel… Und dann vielleicht auch noch eine Ampel für unser Schlafzimmer, mit rotem Schein." (HFA I, 4, S. 30) entgegnet Frau von Briest ihrer Tochter: "Du bist eine phantastische kleine Person […]. […] Es kommt dir vor wie ein Märchen, und du möchtest eine Prinzessin sein." (HFA I, 4, S. 30) Sie erklärt dann aber Effi: "Du bist ein Kind. Schön und poetisch. Das sind so Vorstellungen. Die Wirklichkeit ist anders […]." (HFA I, 4, S. 30f.)

Dieses Gespräch ist seinem Inhalt und seinem Verlauf nach für die Entwicklung der Topographie des Fremden in 'Effi Briest' paradigmatisch. In ihm ist angedeutet und vorweggenommen, was Fontane über weite Passagen des Romans genauer ausführen wird: Effi und ihre Raumvorstellungen erweisen sich als kindlich oder poetisch und werden von ihrer Umgebung als der Wirklichkeit unangemessen zurückgewiesen. Ist es vorerst Effis Mutter, die den Gegenpart einnimmt, so ist es nachher Effis Gatte Innstetten und dann auch ihr Liebhaber Crampas.

Effis Kessin nimmt dabei als fremder Raum grundsätzlich zwei Erscheinungsformen an. Es repräsentiert einerseits, wie das oben über das Element des Winterlich-Nördlichen angedeutet ist, einen Raum der Ödnis und der Angst und andererseits, dafür steht das poetisch-exotische Element, einen Raum der Sehnsucht und des Glücks. Zwischen diesen beiden Raumvorstellungen schwankt Effi für längere Zeit. Kessin macht als Raum der Fremde dabei markante Veränderungen durch. Insgesamt bildet es einen Kommentar zur Befindlichkeit Effis in ihrer Ehe.

II

Denn Kessin ist in Fontanes Roman vor allem der Ort, an dem für Effi der Ehealltag beginnt. Die Fremdheit Kessins steht deshalb für die Fremdheit, die Effi gegenüber Innstetten und der Ehe empfindet. Effi hat mit Baron von Innstetten einen "Mann von Charakter, von Stellung und guten Sitten" (HFA I, 4, S. 18) geheiratet, nach Frau von Briest einen "Karrieremacher" (HFA I, 4, S. 40).

Innstetten ist aber nicht nur "ein Mann von Prinzipien" oder "von Grundsätzen" (HFA I, 4, S. 35), sondern darüber hinaus auch ein "schöner Mann" (HFA I, 4, S. 34), mit dem Effi "Staat machen kann" (HFA I, 4, S. 34) und der überall "in Gunst" (HFA I, 4, S. 69) steht. Da man an höchster Stelle für Innstetten "eine Vorliebe" (HFA I, 4, S. 68) hat – "Bismarck", heißt es, "halte große Stücke von ihm und auch der Kaiser" (HFA I, 4, S. 13) – ist sein Karriereerfolg so gut wie sicher. Insgesamt repräsentiert Innstetten die Position von "Haltung und Klugheit" (HFA I, 4, S. 69) oder in den Worten Luise von Briests: er hält "in allem das richtige Maß" (HFA I, 4, S. 34).

Es erstaunt nicht, daß im Roman zur Charakterisierung der Ehe von Effi und Innstetten sehr bald schon der Begriff der "Musterehe" (HFA I, 4, S. 32) fällt. Man muß ihn wörtlich nehmen, obwohl oder gerade weil diese Ehe schließlich scheitert. Fontane inszeniert mit dem Paar Effi–Innstetten das Muster einer preußisch-deutschen Standesehe und verteilt dabei paradigmatisch die Rollen.

Innstetten repräsentiert als Karrierist in seinen eben genannten Eigenschaften ein Männlichkeitsmuster, das für Vernunft, Fortschritt und den Prozeß der Zivilisation steht. Norbert Elias hat dieses Muster als die "Verhöflichung des Kriegers" beschrieben; er versteht darunter das Folgende: „Überlegung, Berechnung auf längere Sicht, Selbstbeherrschung, genaueste Regelung der eigenen Affekte, Kenntnis der Menschen und des gesamten Terrains werden zu unerläßlichen Voraussetzungen jedes sozialen Erfolgs.“

Indem Effi die Ehe mit Baron von Innstetten eingeht, begibt sie sich in den Bannkreis dieser Werte, in deren Zentrum – wieder mit Norbert Elias gesprochen – eine "mehr oder weniger automatische Selbstüberwachung" und die "Unterordnung kurzfristiger Regungen unter das Gebot einer gewohnheitsmäßigen Langsicht" stehen. Selbstkontrolle und Verzicht werden zum Motor für Fortschritt und Karriere. Max Weber hatte diese Verhaltensdisposition in der protestantischen Ethik verortet.

Paradigmatisch ist Fontanes Rollenverteilung auch in der Konzeption der Figur Effi, denn diese repräsentiert in ihrer von der Forschung vielfach besprochenen Kind- und Naturhaftigkeit das Weiblichkeitsmuster, das Innstettens Position komplementär entspricht: Effi steht für das 'Andere' der Vernunft. Inhaltlich ist dieses Andere der Leib, die Phantasie, das Begehren, die Gefühle – all das, was sich die abendländische Zivilisation als 'Natur' jenseits von 'Vernunft' und 'Kultur' denkt. Bezeichnenderweise lehnt Effi als "Naturkind" (HFA I, 4, S. 37) deshalb ab, was ihr die Mutter als "Musterehe" (HFA I, 4, S. 32) in Aussicht stellt. Effi ist vielmehr für Folgendes:

"Ich bin … nun, ich bin für gleich und gleich und natürlich auch für Zärtlichkeit und Liebe. […] aber gleich hinterher kommt Glanz und Ehre, und dann kommt Zerstreuung – ja, Zerstreuung, immer was Neues, immer was, daß ich lachen oder weinen muß. Was ich nicht aushalten kann, ist Langeweile." (HFA I, 4, S. 32)

Hier formuliert sich das Gegenteil von dem, was Disziplin, Kontrolle und zivilisatorische Vernunft zuläßt. Widersprüchlichkeit, ständiger Wechsel und der Wunsch nach unmittelbarer Glücksbefriedigung charakterisieren Effis Haltung genauso wie ihre jugendlich-naturhafte Wildheit, die leitmotivisch den Roman durchzieht. Während Innstetten für das vernünftige Maß und die Ordnung der zivilisierten Welt steht, repräsentiert Fontane in der siebzehnjährigen Kindfrau Effi, dem "Naturkind" (HFA I, 4, S. 37), eine kaum domestizierte Naturhaftigkeit. Effi selber bringt die Sache auf den Punkt, denn zu den vielfach gerühmten Grundsätzen Innstettens sagt sie kurzerhand: "Ach, und ich … ich habe keine." (HFA I, 4, S. 35)

III

Mit ihrer Heirat verläßt Effi den Raum ihrer Kindheit, der im Roman im Schauplatz Hohen-Cremmen repräsentiert ist. Das sonnige Hohen-Cremmen mit seiner paradiesgartenhaften Natur und der Abgeschlossenheit der hufeisenförmigen Hausanlage bildet eine Art zeitentrücktes Reservat. Die "Sonnenuhr" (HFA I, 4, S. 7), die im Zentrum dieser Topographie steht, deutet dies – gemäß dem bekannten Sprichwort – an: sie zählt die heitern Stunden nur. Hohen-Cremmen figuriert klar als Effis eigentlicher Ort, als "ihre Heimstätte" (HFA I, 4, S. 214), von der sie selbst sagt: "hier ist meine Stelle" (HFA I, 4, S. 283), und bildet damit deutlich den Gegenpol zum Fremdraum Kessin.

Der Wechsel zwischen Hohen-Cremmen und Kessin erfolgt in der Topographie des Romans mittels der Hochzeitsreise über Italien. Von diesem Italien erfährt man neben verschiedenen Städtenamen indes fast nur, daß Innstetten Effi alle berühmten Galerien und Bauwerke vorführt. "Er weiß übrigens alles so gut, daß er nicht einmal nachzuschlagen braucht" (HFA I, 4, S. 41), schreibt Effi ihren Eltern nach Hohen-Cremmen und etwas später auch: "das lange Stehen vor den Bildern strengt mich an. Aber es muß ja sein." (HFA I, 4, S. 41).

Innstetten gestaltet die Hochzeitsreise als Bildungsreise und versucht dabei Effi in die Geschichte der Kunst und Kultur einfzuführen. Damit erscheint er erstmals deutlich als Erzieher seiner Frau. Er führt sie in eine kulturelle Ordnung ein, über die er souverän verfügt, von der Effi dagegen als "Naturkind" kaum etwas zu wissen scheint und für die sie sich offensichtlich auch nicht besonders interessiert. Das Verhältnis von Erzieher und Schülerin entspricht genau der über den Kultur-Natur-Gegensatz strukturierten Paarbeziehung. Pointiert gesagt: Innstetten versucht als Mann des zivilisatorischen Maßes und der Ordnung seine Frau anzuleiten, sich aus ihrem Naturzustand zu erheben. Briest kommentiert das Geschehen zu Hause mit der Feststellung: "Das ist eben das, was man sich verheiraten nennt." Und seine Frau reagiert mit: "Also jetzt gibst du das zu. Mir gegenüber hast du’s immer bestritten, immer bestritten, daß die Frau in einer Zwangslage sei." (HFA I, 4, S. 42)

Im Gegensatz zu Briest, der sich mit seiner beliebten Formulierung "Das ist wirklich ein zu weites Feld." (HFA I, 4, S. 42) allen weiteren Überlegungen zu diesem Thema entzieht, beginnt nun Fontane erzählend das "weite Feld" des Kultur-Natur-Konflikts zu vermessen und schildert die Ankunft und den Beginn des Ehealltags in Kessin.

Waren es auf der Hochzeitsreise die kulturgeschichtlich relevanten Bilder und Bauwerke, in deren Ordnung Innstetten Effi einzuführen versuchte, so ist es nun die gesellschaftliche Ordnung von Kessin. Die Fahrt des Paares in der offenen Kutsche vom Bahnhof Klein-Tantow bis zur landrätlichen Wohnung setzt den ehelichen Bildungsprozeß fort und gerät schließlich für Effi zur Fahrt auf der Geisterbahn.

Effi hat kaum Zeit, ihre Eindrücke von der neuen Umgebung zu formulieren, und schon kommt das Gespräch auf den fatalen Chinesen, der später Effi als Spuk verfolgen wird und den Fontane bekanntlich einen "Drehpunkt für die ganze Geschichte" genannt hatte. Die Dynamik des Geschehens folgt dabei einer Gesetzmäßigkeit, welche ganz dem Kultur-Natur-Gegensatz verpflichtet ist und auf der Topographie des Fremden basiert.

Effi nämlich findet vorerst all das Fremde, das sie nun sieht und das ihr Innstetten erläutert, "entzückend" (HFA I, 4, S. 45). Den Wirt Golchowski, an dem man vorbeifährt, bewundert sie als "Starost[en]" (HFA I, 4, S. 44) und Kessin und seine Bewohner hält sie "für eine ganz neue Welt" (HFA I, 4, S. 45) und "Allerlei Exotisches" (HFA I, 4, S. 45). Effi wiederholt hier ihre poetisierende Sicht auf das Fremde, wie wir sie aus dem Gespräch mit ihrer Mutter kennen, und versucht auf diese Weise eine Welt erstehen zu lassen, die ihren Wünschen und Sehnsüchten entspricht. Sie übergeht dabei konstant Innstettens belehrenden Diskurs, aus dem ein sehr viel nüchterneres, ja geradezu deprimierendes Bild von Kessin als Provinznest entsteht.

Als Effi davon zu sprechen beginnt, daß man in Kessin wohl gar "einen Neger oder einen Türken, oder vielleicht sogar einen Chinesen" (HFA I, 4, S. 45) habe, nimmt Innstetten Effis Worte schließlich auf und entgegnet:

"Auch einen Chinesen. Wie gut du raten kannst. Es ist möglich, daß wir wirklich noch einen haben, aber jedenfalls haben wir einen gehabt; jetzt ist er tot und auf einem kleinen eingegitterten Stück Erde begraben, dicht neben dem Kirchhof. Wenn du nicht furchtsam bist, will ich dir bei Gelegenheit mal sein Grab zeigen; es liegt zwischen den Dünen, bloß Strandhafer drum rum und dann und wann ein paar Immortellen, und immer hört man das Meer. Es ist sehr schön und sehr schauerlich." (HFA I, 4, S. 45f.)

Absicht oder Ungeschick: Innstetten wendet Effis Exotik aus dem Lebensfrohen ins Morbide. Tod, Gefängnis, Furcht und Ödnis kennzeichnen dieses andere Bild von Kessin, alles Werte, die Effis Angstbild von der Fremde, das sie schon zuvor an Exil, Abgeschiedenheit und Kälte band, bestätigen und bestärken.

IV

Innstettens Erziehung seiner Frau, sein Versuch, sie in die zivilisatorische Ordnung überzuführen, beginnt spätestens an dieser Stelle des Romans sich als fragwürdig zu erweisen. Kultivation scheint hier nicht ins Leben zu führen, sondern vielmehr zu Vernichtung, Sinn-Entleerung und Tod. Ein zentrales Bild für diesen Vorgang ist die Kälte. Sie beginnt die Topographie von Kessin jahreszeitlich als Winter mit Schnee und Eis zu bestimmen und charakterisiert damit das Vorankommen von Effis Abtötung und Zivilisierung. Daß Effi Innstetten dabei einmal als "frostig wie einen Schneemann" (HFA I, 4, S. 67) empfindet, gehört genauso in diesen Zusammenhang wie das seltsame Gerücht, das Fontane die Kessiner über Innstetten verbreiten läßt; diese erzählen sich nämlich, "Innstetten würde als Führer einer Gesandtschaft nach Marokko gehen, und zwar mit Geschenken, unter denen […] vor allem auch eine große Eismaschine sei." (HFA I, 4, S. 173)

Innstetten als Kolonisator mit der Eismaschine: Der Verlauf der Handlung bestätigt dieses Bild nachdrücklich. Vor allem gerät, weil Innstetten seine Kultivationsbemühungen mit zweifelhaftem Erfolg fortsetzt, das landrätliche Haus Effi zum "Spukhaus" (HFA I, 4, S. 100). Dies geschieht allerdings weniger dadurch, daß Innstetten – wie Crampas Effi später weismacht – den Spuk für seine Frau "aus Berechnung" (HFA I, 4, S. 134) inszeniert. Kessin wird Effi unheimlich und schauerlich vielmehr deshalb, weil der Prozeß ihrer Zivilisation die Wunschbilder vom glücklichen Leben zunehmend zu Angstbildern entstellt. Der "Angstapparat" (HFA I, 4, S. 134), der dies bewirkt, resultiert nicht aus Innstettens "Kalkül" (HFA I, 4, S. 134), sondern folgt gesetzmäßig der Logik des Zivilisationsprozesses.

Denn der Spuk mit dem Chinesen erweist sich in kulturtheoretischem Zusammenhang deutlich als jene Wiederkehr des Verdrängten, als die Sigmund Freud das Unheimliche beschrieben hat. Die zivilisatorische Disziplinierung beseitigt nach Freud die verbotenen Wünsche nicht einfach, sondern verdrängt sie ins Unbewußte. Das Unheimliche, sagt Freud, "ist nichts Neues oder Fremdes, sondern etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Prozeß der Verdrängung entfremdet worden ist". Bei Effi ist der Chinese die Wiederkehr ihres verdrängten Verlangens nach Glück, Liebe, Vergnügen und Unterhaltung. Man sieht das deutlich daran, daß Effi die Geräusche aus dem oberen Stockwerk des Kessiner Hauses, die sie nachts ängstigen, anfangs nicht mit dem toten Chinesen verbindet, sondern mit langen "Schleppenkleidern" (HFA I, 4, S. 53) und der Vorstellung, "als tanze man oben, aber ganz leise" (HFA I, 4, S. 53). Erst nachdem Innstetten dann Effi die ihr unbekannten Hausräume zeigt und sich dieser Fremdraum – exemplarisch für Innstettens zivilisatorisches Wirken – "unter seiner Führung" (HFA I, 4, S. 59) als "öde", "ärmlich" und weitgehend "leer" (HFA I, 4, S. 61) erweist, tritt der tote Chinese an die Stelle der enttäuschten Hoffnung von Fest, Ball und Tanz. Das Wunschbild der poetisch-märchenhaften Fremde entstellt sich auf diese Weise über den Vorgang der Zurückweisung, Umwertung, Verdrängung und Wiederkehr zum Angstbild morbider Exotik.

Die Topographie des Kessiner Hauses bereitet diese Entstellung des Glücks zum Unheimlichen vielfach vor. So ist Effi am Abend ihrer Ankunft in dem "einfachen, etwas altmodischen Fachwerkhause" (HFA I, 4, S. 48) vorerst "wie gebannt von allem, was sie sah, und dabei geblendet von der Fülle von Licht" (HFA I, 4, S. 50). Sie realisiert dabei Fremdheit als einen Raum des "viel, viel andere[n] und zum Teil sehr Sonderbare[n]" (HFA I, 4, S. 50). Wieder ist es Innstetten, der seine Frau mit Erklärungen zum Verständnis anleitet. Was an der Flurdecke aufgehängt ist, sind "ein junges Krokodil" (HFA I, 4, S. 50) und "ein Haifisch" (HFA I, 4, S. 50) und – wie Effi selber erkennt ̵ "ein Schiff mit vollen Segeln, hohem Hinterdeck und Kanonenluken" (HFA I, 4, S. 50). Das "Sonderbare" kommt an sich schon in die Nähe des Unheimlichen. Darüber hinaus aber repräsentiert diese Flurausstattung, die im übrigen wie die "Geschichte von dem Chinesen" (HFA I, 4, S. 48) auf den früheren Hausbesitzer und Seefahrer Thomsen zurückgeht, gleichsam in Modellform das Szenario von gewaltsamer Kolonisation und Naturbezwingung. Der Haifisch und das junge Krokodil sind die Siegestrophäen der Aneignung, die der Seefahrer, um die erfolgreiche Naturbeherrschung zu dokumentieren, von seinen Eroberungszügen mit nach Hause bringt. Da Innstetten indes in seiner Ehe ein Kolonisator der Natur ist wie Thomson als "Chinafahrer" (HFA I, 4, S. 84), sieht Effi an der Flurdecke in entstellter Form vorweggenommen, was ihr selber widerfahren wird. Die aufgehängten, ausgestopften Meerestiere sind wie der etwas spätere Spuk Zeichen einer kolonisierten und zum Tod entstellten Fremde.

V

Es wären hier weitere Bilder entstellter Fremde oder der Wiederkehr des Verdrängten zu besprechen. Ich denke dabei etwa an Effis Gespräch mit Crampas über die versunkene Stadt Vineta, in dem sich der Sehnsuchtsraum zu Heines "Seegespenst", einer "Hinrichtung" und dem mexikanischen Kriegsgott "Vitzliputzli" (vgl. HFA I, 4, S. 136–138) entstellt, oder an Effis Urlaub mit Innstetten auf Rügen, wo sich das anfangs als mediterran empfundene Saßnitz über die Entdeckung des Nachbardorfes Crampas und der "Opfersteine" (HFA I, 4, S. 211) zu einem "Sorrent, als ob es sterben wollte" (HFA I, 4, S. 212), verwandelt. Schließlich verliert selbst Hohen-Cremmen bei Effis Besuch nach der Urlaubsreise seine sonnige Natur und entstellt sich als nächtlich-morbider Raum – "ungerufen" (HFA I, 4, S. 218), wie es heißt – zum deprimierenden Doppelbild Kessins. Auch der "Schloon" (HFA I, 4, S. 159), jenes im Sommer bedeutungslose Rinnsal, das im Winter plötzlich den Boden unterspült und einen wahren "Sog" (HFA I, 4, S. 159) entwickelt, wäre natürlich in diesem Zusammenhang zu besprechen. Aber darauf kann ich hier leider ebenso wenig mehr eingehen, wie auf die Veränderung der Kessiner Topographie bei Effis Ausritten mit Crampas, wo sich mit Dünen, Strand und Meer vorübergehend eine Landschaft in Szene setzt, die Effi weitgehend entspricht und ihr deshalb weniger fremd ist.

Daß sich Effi in Kessin dann aber erneut fremd und gar "wie eine Gefangene" (HFA I, 4, S. 169) fühlt, liegt an der Trostlosigkeit ihrer Ehebruchsituation und zeigt, daß ihr Sehnsuchtsbild der Fremde endlich zerstört und vom "Komödienspiel" (HFA I, 4, S. 169) eines öden Provinzalltags ersetzt ist. Die usurpatorische Entwertung des Fremden, in die die kolonisatorischen Bemühungen von Innstetten und Crampas schließlich münden, ist topographisch eindrücklich in dem Satz repräsentiert, den Effi kurz vor dem Umzug nach Berlin äußert: "Es rauscht und rauscht immer, aber es ist kein richtiges Leben." (HFA I, 4, S. 187)

In Berlin wird Effi dann mit dem Auffinden der Crampasschen Liebesbriefe von der entstellten Sehnsucht ein letztes Mal eingeholt. Die Entdeckung ihres längst vergangenen Verhältnisses macht Effi unverhofft zur "ausgestoßenen" (HFA I, 4, S. 254) Ehebrecherin, und so führt sie – fast schon am Ziel von Karriere und Erfolg – inmitten Berlins das Leben gleichsam einer lebendig Begrabenen. Nach dem provinziellen Kessin wird Effi damit die preußisch-deutsche Kapitale in potenzierter Form zur trostlosen Fremde.

Das Fremde in Fontanes Effi Briest – so läßt sich zusammenfassend formulieren – steht letztlich für den preußisch-deutschen Ehealltag, wie er sich dem Blick des Anderen der Vernunft darbietet. Effis Blick auf Innstetten und Kessin läßt den Normalfall einer preußisch-deutschen Beamtenkarriere verfremdend als exotische oder morbide Fremde aufscheinen. Es erweist sich dann aber, daß das scheinbar so fremde Kessin Berlin in vielem doch sehr ähnlich ist. Kessin ist Berlin im Zustand entstellter Ähnlichkeit. Insgesamt läßt Fontane in der Gestaltung seiner Topographie zivilisationskritisch aufscheinen, was Horkheimer und Adorno in ihrer 'Dialektik der Aufklärung' an die Adresse der Aufklärer formulieren:

„Es widerfährt ihnen, was dem triumphierenden Gedanken seit je geschehen ist. Tritt er willentlich aus seinem kritischen Element heraus als bloßes Mittel in den Dienst eines Bestehenden, so treibt er wider Willen dazu, das Positive, das er sich erwählte, in ein Negatives, Zerstörerisches zu verwandeln.“


[Anmerkungen und Nachweise der zitierten Literatur in der im Titel genannten Publikation.]