EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN
LAMENT
Mitarbeit bei der Vorbereitung: Lautarchiv der Humboldt-Univesität, Militärhistorisches Museum Dresden, Rundfunkarchiv Potsdam. Mitredaktion und Mitarbeit der Zusammenstellung des Booklet. Biografie Paul van den Broeck. Über den "Fall" Paul van den Broeck erschien ein ausführlicher Artikel zur Premiere in Diksmuide 2014 in der Zeitung "De Standaard" von Peter Vantyghem . Der Umstand, dass Blixa Bargeld Texte eines flämischen Dadaisten für die Performance und das Album LAMENT entdeckt hatte, löste in Belgien größte Verunsicherung unter Literatur-/Kunst- und Geschichtswissenschafltern aus.
Hier die Biografie, die im Booklet auf englisch abgedruckt ist:
"Paul van den Broeck
*22. Juli 1882 in Antwerpen, † Sommer 1940 ? bei Pau nahe der spanischen Grenze
Abgesehen von einer kleinen Anzahl an erhaltenen Gedichten, ist wenig über Paul van den Broeck bekannt.
Er scheint eine gesundheitlich und psychisch labile Kindheit in einem Landheim verlebt zu haben, wo er aufgrund des zwielichtigen Milieus und der sexuell offensiven Sprache für einen kleinen Skandal sorgte. Über seine Jugend oder berufliche Laufbahn ist gar nichts überliefert, erst durch seinen Eintritt in die Armee taucht der Name wieder auf.
Obwohl Pazifist (und in fortgeschrittenem Alter), meldet er sich 1915/1916 trotz ärztlicher Freistellung zum Militärdienst; aus vermutlich ähnlichen Beweggründen wie sein berühmter Schriftstellerkollege Alain (Émile-Auguste Chartier) . Er wollte sich offenbar so wie dieser ein eigenes Bild machen, da er allen Berichten über diesen Krieg nicht traute, eben auch nicht den Verlautbarungen von Künstlerkollegen.
Ein Grund warum fast nichts von seinem Werk überliefert wurde, könnte darin liegen, dass er selbst vieles vernichtete, da ihm es wohl zuwider war, Teil des „war poetry boom“ (Robert Graves) werden zu können.
Das Wenige jedoch zeugt von einer eigenwilligen und vielformigen Melange aus Futurismus, Expressionismus, Dadaismus und dem frühen Surrealismus.
Im Jahr 1919 unternimmt er verschiedene Reisen um Kontakte zu knüpfen, zumeist vergeblich: Erste Station ist das Cabaret Voltaire in Zürich wo er zwar Walter Serner kennenlernt, die DADA-Szene wird jedoch von Huelsenbeck und Tzara dominiert und ignoriert ihn.
Auch in München gelingt ihm keinerlei Anschluss an die künstlerisch-politisch Aktiven. Die sich überschlagenden Ereignisse um den Versuch eine Räte-Republik zu errichten, verhindern dies.
Danach besucht er das Museum in Köln wo er die frühe Kölner DADA Gruppe um Max Ernst zu treffen hoffte, da er wie diese, die dortige Sammlung schätzte, um die flämischen Meister Hieronymus Bosch und Pieter Bruegel, sowie den deutschen Romantiker Caspar David Friedrich im Original zu studieren.
Ein Treffen ist jedoch nicht dokumentiert.
Allein in Berlin findet er flüchtigen Anschluss, wo er seinen schon bekannteren Dichterkollegen und vor der Verhaftung geflohenen Landsmann Paul von Ostaijen besucht, diesem jedoch wegen seines flämischen Patriotismus kritisch entgegenstand, ihn aber künstlerisch besonders in der Verbindung von dem noch jungen Medium Film mit Dichtung sowie Musik fördert (siehe Ostaijen´s „De Jazz van het Bankroet" von 1920)
Im Verlaufe seines Aufenthaltes in Berlin ergeben sich durch von Ostaijen Bekanntschaften mit Else Lasker-Schüler, George Grosz, Salomon Friedländer(Mynona), Paul Scheerbart und Carl Einstein, dem er später noch einmal begegnete; im spanischen Bürgerkrieg.
Henri Michaux trifft er 1931 nach dessen Chinareise, mit dem er sein Einzelgängertum gemein hatte.
Vermutlich macht sich Paul van den Broeck wie viele seiner Künstler-Zeitgenossen auf nach Spanien, um gegen die Diktatur zu kämpfen. Enttäuscht von den Künstlerkreisen und deren Mechanismen erscheint dieser Weg noch der Einzige, der den frühen Ansprüchen an etwas „Neues“ Genugtuung bieten könnte. Zunächst auf Mallorca, wo er Harry Graf Kessler und Robert von Ranke Graves begegnet, schliesst er sich dem Kommando Durruti an, den er offensichtlich aus dessen Exilzeit kannte :1930 erhielt Durruti eine Aufenthaltserlaubnis in Belgien, wo er zwei Jahre in relativer Ruhe leben konnte.
Danach gilt er als verschollen.
Wer wen beeinflusste, lässt sich letztlich nicht mehr nachweisen."
Text: Hartmut Fischer, veröffentlicht auf englisch in: LAMENT Einstürzende Neubauten, Berlin 2014