Nachruf auf Brigitte Schwaiger

...und bitte unterschreiben Sie leserlich!

Ein Nachruf auf Brigitte Schwaiger
Gertraud Klemm, Juli 2010

Eine Woche bevor Brigitte Schwaiger wahrscheinlich den Freitod gewählt hat, hat sie mir einen Brief geschrieben, in dem stand: rufen Sie mich an. Ich habe nicht angerufen. Ich habe es vor mir hergeschoben, zu ehrfürchtig, den Kontrollbereich des geschriebenen Wortes zu verlassen; zu eingeschüchtert von dem psychopathischen Bild, das in den Medien von ihr gezeichnet wurde. Ich nahm mir vor, vor dem Telefonat ihre Briefe noch einmal zu lesen, und „Fallen lassen“, jenes Selbst-Porträt, das grauslich und exhibitionistisch genug war, den Medien Bemerkungen zu entlockten, die ihren Mut anerkannten. Ich recherchierte, las in dem berüchtigten Porträt der Süddeutschen, in dem Brigitte Schwaiger abgeräumt wird wie einen Christbaum: was bleibt vom Genie, wenn man sich an den Schrullen einer psychisch Kranken verbeißt, die ihre Meinung ändert und nicht fotografiert werden will, die einen Beistand für das Interview braucht, die zwei Zigaretten gleichzeitig raucht. Das bleibt: ein dürres Konstrukt aus Neurosen und Psychosen. Im selben Atemzug berichten Nachrichten über die Allüren von Paris Hilton oder Ben Becker, als wären es verzeihbare Schrullen, die wir lieben gelernt hätten.

Ich war 16, als ich zum ersten Mal mit ihren Texten in Kontakt kam. In „Wie kommt das Salz ins Meer“ und in „Der Himmel ist süß“ fand ich Sätze geschrieben, die sich in meiner traurigen Seele verhakten wie ein Klettverschluss. Ich war erlöst von meiner Einsamkeit. Im lakonischen Ton ihrer Texte fand ich eine Restsüße, die mich tröstete und in der ich mich zu spiegeln gedachte. Was auch immer sie schrieb – es fiel bei mir auf fruchtbaren Boden. Es war nicht wie bei Hesse, Kafka oder Flaubert, die ich las und wo ich das Gefühl hatte, mir würde Allgemeinbildung zwischen die Gehirnwindungen gespickt. Nein; Brigitte Schwaiger bereitete mir eine sprachliche Heimat, in der ich seufzend wurzeln konnte, um mich endgültig mit Doris Lessing, Max Frisch oder Ingeborg Bachmann aus den Grauen der Pubertät zuzurückziehen. Schwaiger war es auch, die mir den Mut zu Schreiben gab, weil sich die sprachliche Verwandtschaft so ermutigend anließ. Der Welt gefielen diese Schmerzen, die sie und ich in der Ödnis des normalen Lebens hatten! Endlich waren meine Depressionen für etwas gut! Ich molk sie und fabrizierte erste Texte, über die wir lieber kein Wort verlieren. Ich schrieb weiter, wechselte meine Idole und Ideale, verschliss ganze Ahnengalerien von Vorbildern. Brigitte Schwaiger jedoch war und blieb der Mutterboden. Ich las „Wie kommt das Salz ins Meer“ und „Der Himmel ist süß“ einmal, zweimal, fortlaufend. Ich las ihre übrigen Bücher, ja, zugegeben, mit enden wollender Begeisterung; aber es schmälerte meine Liebe zu ihrer Sprache nicht. Die fünf Bücher nach „Wie kommt das Salz ins Meer“ schrieb Brigitte Schwaiger, wie ich später erfuhr, unter dem Druck, eine Familie ernähren zu müssen, und sie bläute mir ein: denken Sie beim Schreiben nie an Verlage oder Geld. Wie viele Autoren kennen wir denn, die Familien ernähren?
„Fallen lassen“ las ich mit Entsetzen. Es war immer noch sprachgewaltig, aber da waren die Fakten, die dazwischen hervor ragten. Jetzt war es heraußen: sexueller Missbrauch, Abtreibungen, und noch mehr Unglück. Die Kritik war gnädig, aber ich wurde das Gefühl nicht los, dass sie sich vor lauter „Eh klar“ die Hände rieb und den Mut belohnten – immer noch nicht das Werk.
Selbst zu schreiben machte mich offener für Schwaigers Seelen- Unheil. Als ich mich vor ein paar Jahren dem Schreibzwang beugte und meinen Brotberuf an den Nagel hängte, blickte auch ich der Existenzangst zum ersten Mal in die Augen. Dieser unmenschliche Druck, dem sie ausgesetzt gewesen sein musste, noch dazu im der Doppelnatur als Ernährerin – es bleibt beim Versuch, sich ihn vorzustellen. Besser vorstellen kann ich mir die Einsamkeit dieser Arbeit, und das Vakuum, in das man hineinarbeitet. Niemand fragt, niemand kontrolliert, niemand kann halfen. Es ist eine saugende Leere, wenn da keiner ist.
Einem glücklichen Zufall habe ich zu verdanken, dass sie mit einem Text von mir in Berührung kam und mir ausrichten ließ: „Dieses Mädchen muss schreiben.“ Ich unterstrich den Satz rot und hängte ihn in mein Sichtfeld, ganz gehorsame Schülerin: als Mahnung, nicht aufzugeben,  als ewiges Feedback in der Stille, als Piloten in der Schreibwüste, wenn man Autorin ist und unbekannt und die Berufung ganz, ganz leise. Dann kam die Aufforderung, ich möge ihr schreiben. Es kostete mich Monate, mich zu einem Beginn zu überwinden, und weitere Wochen, bis ich es wagte, den Brief wegzuschicken.  „Wie fange ich ihn nur an, diesen ersten Brief“, würgte ich damals die Einleitung hervor. „Indem ich Ihnen mitteile, daß die Sprache Ihrer Prosa die erste war, die nicht gleichgültig an mir vorüber gegangen ist, oder an meinem pubertären Widerwillen abgeprallt. Ist das zu übereifrig?“
Was zurückkam, war prompt, roch unglaublich stark nach kaltem Rauch und war tatsächlich mein Brief – mit ihren Bemerkungen, zwischen die Zeilen gekritzelt. Sie kommentierte meine Prosa, meine Lyrik, sie lobte, und sie wurde nicht müde, an der Unleserlichkeit meiner Unterschrift herumzunörgeln, was mir entsetzlich auf die Nerven ging, ich jedoch demütig über mich ergehen ließ. Sie ließ mich wissen, dass sie verliebt sei, und dass es zu heiß sei zu denken, zu kalt, die Wohnung zu verlassen. Sie lektorierte unaufgefordert und entschuldigte sich dafür, wenn es sie zu sehr anstrengte. Sie warnte mich davor, meinen autobiografischen Stoff nicht unter einem Pseudonym zu publizieren, was ich in den Wind schlug. Sie korrigierte seelenruhig meine Rechtschreibfehler und warnte mich vor der Kälte der Verlage, und sie diagnostizierte meine Schweißausbrüche vor dem Abschicken meiner Manuskripte an Verlage lapidar als berechtigte Instinkte. Ich war glücklich, befremdet, besorgt wegen des fühlbaren Auf und Ab. Nein, Freundinnen waren wir nicht. Wir kommunizierten mit den Fingerkuppen, dazwischen dickes Glas.
Wir entdeckten Gemeinsamkeiten: die nächtlichen Diktate im Kopf, die berechtigte Sorge, Kreativität entspringe dem Unglück; die herzhafte Missgunst gegenüber Bestseller-Autoren, unsere Ahnung, dass die Stimme der Autorinnen weniger wiegt als jene ihrer Kollegen.
Kaum ist sie tot, klappen die Mäuler auf und plappern. Ich lese immer und überall, sie hätte nicht anknüpfen können an ihren Erfolg. Bis zuletzt. Sie konnte nicht anknüpfen. Dieser Satz konzentriert die ganze Blödheit und Eindimensionalität des Buchmarktes; ich will ihn entwurzeln und seinen Urhebern in den Rachen zurückschieben. Dann lasse ich kraftlos die Wut sinken. Es ist der Satz, der bleibt, wenn ich das Netz auswerfe um nach der Anerkennung zu fischen, die ihr gerecht würde. Die Linearität der Verkaufszahlen, das bleibt. Die Reihenfolge von Erfolg und Misserfolg, gepaart mit den Grauen der Psychiatrie.
Schwaiger verloren stellte den kleinen Raum, in den ich mich zurückziehen konnte, um mich an meinem großen Vorbild zu wärmen. Aus diesem Raum spreche ich, um freizulegen, was im Brei der Nachrufe zu versinken droht: die wortgewaltige Autorin Brigitte Schwaiger, meine Mentorin, und nicht mehr und nicht weniger.
Ich starre auf die Briefe, auf die Gedichte, die sie mir geschenkt hat, auf Prosa-Fragmente. Verwenden Sie sie doch, hat sie keck geschrieben. Und, nicht gerade schmeichelhaft für uns beide: „Abfälle von meinem Schreibtisch, für Sie, GK.“
Ich kann sie nicht re-installieren. Das können andere besser. Eine posthume Würdigung böte sich an; die österreichische Lösung. Zu Lebzeiten kam nicht viel an öffentlicher Würdigung – ein oberösterreichischer Kulturpreis 1984. Das Ministerium hat schon mal einen Anfang gemacht und via Claudia Schmied ausrichten lassen, Österreich habe eine viel gelesene Autorin verloren. Da ist noch einiges drin, würde ich meinen.
Ich kann die Versatzstücke verwahren, die zurückbleiben. Ihre kostbare Zuwendung, die mich adelt. Die dankenden Worte, meine Texte seien inspirierend für sie, der kalte Rauchgeruch der Briefe. Mir bleibt der kleine, versteinerte Raum, dort kann ich ihrer gedenken und mich in meinen Gram verbeißen, bis mir die Kiefer müde werden. Alle ihre Bücher bleiben, die Metaphern, die in meinem Wortschatz verankert sind, ihr Werk und das, was nur ich habe, getippt auf Schreibmaschine, die Beistriche und Punkte so fest angeschlagen, dass sie sich auf der Rückseite durchdrücken, über die ich meine Fingerkuppen führen kann. Es ist nicht wenig. Brigitte Schwaiger war meine Mentorin. Was will ich mehr. 

„Aus einem Totenhaus komm ich
Und in ein Totenhaus geh' ich
Dazwischen ist mir nichts
den Gott, den wünsch' ich mir als Sonne
die alles überstrahlt und wärmt
Was aus den Leiden ich gelernt.
BS, 15.12.08, sehr früh“

Bild: Haeferl, CC BY-SA 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0>, via Wikimedia Commons