Einhundert Jahre Ortszirkel Godesberg – das ist natürlich ein Grund zum Feiern!
Solch ein stolzer Geburtstag ist immer ein willkommener Anlass, um in die Vergangenheit zu schauen und sich die „gute alte Zeit“ vor Augen zu halten. Doch die zwingen die aktuellen Entwicklungen – Stichwort Bologna-Prozess – auch und besonders zu einem Blick in die Zukunft.
Aber doch zunächst ein kurzer Blick zurück auf Godesberg, auf Bonn und seine alma mater, auf Deutschland und auf den CV vor 100 Jahren – wie war das damals?
Godesberg
1909 stolz und noch unabhängig, zwar noch ohne „Bad“ – das kam erst 1925 – und auch ohne Stadtrechte – das kam erst 1935 –, so doch der Sommer- und Alterssitz wohlhabender Bürger. 1899 waren Plittersdorf und Rüngsdorf eingemeindet worden, 1904 Friesdorf, 1915 sollten Muffendorf und schließlich 1935 Lannesdorf und Mehlem folgen. In Bonn und besonders Godesberg wohnten begüterte Familien und um 1910 lebten rund zweihundert Millionäre hier.
Universität Bonn
Die Bonner alma mater war 1818 vom preußischen König Friedrich Wilhelm III. gegründet worden und war – nach Berlin und Breslau – die dritte preußische Universitätsneugründung im Geiste Wilhelms von Humboldt unter den Stichworten Einheit von Forschung Lehre, Bildung durch Wissenschaft sowie Akademische Freiheit.
Berühmte Wissenschaftler lehrten in Bonner, so August Wilhelm von Schlegel (ab 1818 Professor für Literatur), Ernst Moritz Arndt (ab 1818 Professor für Geschichte), Barthold Georg Niebuhr (ab 1825 Professor für Alte Geschichte), Friedrich Argelander (ab 1836 Professor für Astronomie) und August Kekulé von Stradonitz (ab 1867 Professor für Chemie). 1864-67 wurde das damals weltgrößte Chemische Institut errichtet und im Laufe des 19. Jahrhunderts am damaligen Nordrand der Stadt die medizinischen Kliniken.
Mehr und mehr wurde die katholischen Universitätsstadt, wie das ganze Rheinland seit 1815 unter preußischer Regentschaft, zur „Fürsten-Universität“, da die Söhne zahlreicher der regierenden Fürstenhäuser hier studierten, so Prinz Albert von Sachsen-Coburg-Gotha, der spätere Ehemann der englischen Queen Victoria, und vor allem die Söhne des Hauses Hohenzollern, allen voran der spätere Kaiser Wilhelm II., der zwischen 1877 und 1879 am Rhein studiert hatte.
Weitere berühmte Männer studierten in Bonn, so z.B. die Dichter Hoffmann von Fallersleben und Heinrich Heine, die Philosophen Karl Marx und Friedrich Nietzsche und der 1848-Revolutionär und spätere amerikanische Innenminister Carl Schurz. Ferner studierten in Bonn Konrad Adenauer und Joseph Goebbels sowie – in späteren Jahren - Norbert Blüm, Klaus Kinkel, Otto Graf Lambsdorf, Manfred Kanther, Oskar Lafontaine, Günter Verheugen und Guido Westerwelle.
Deutschland
Die Atmosphäre im Deutschen Reiche war zu dieser Zeit durch die Stichworte Flottenbau und Weltmachtstreben gekennzeichnet. Seit der Jahrhundertwende war eine gewisse politische Stabilität durch die Zusammenarbeit von Konservativen, Nationalliberalen und dem katholischen Zentrum erreicht worden, das die wichtigste Stütze der Regierung unter Reichskanzler Bernhard von Bülow war.
Angesichts der schwierigen Wirtschaftslage verdoppelte sich die Mitgliederzahl der Gewerkschaften von 1900 bis 1909 auf über 1,6 Millionen. Die Reichstagswahlen 1907 waren überaus emotional geführt worden, besonders gegen die Sozialdemokratie und die Zentrumspartei, die – trotz Stimmengewinnen – ihre Schlüsselposition im Reichstag verlor.
Belastet wurde die innenpolitische Lage auch durch die sogenannte Daily-Telegraph-Affäre, die einen Skandal auslöste. Es handelte sich dabei um die Veröffentlichung von Gesprächen in Form eines fiktiven Interviews, die Wilhelm II. in England geführt hatte und in denen sich der Kaiser – wie schon so oft – überaus undiplomatisch gezeigt hatte. Auch die Notwendigkeit einer Reichsfinanzreform, da die Staatsverschuldung durch die Kosten für den Flottenbau erschreckende Ausmaße angenommen hatte, belastet das innenpolitische Klima in Deutschland. Im Sommer 1909 wurde Reichskanzler von Bülow entlassen, es folgte sein Stellvertreter Theobald von Bethmann Hollweg, dessen Amtsantritt im In- und Ausland positiv kommentiert wurde.
Und wie stand es um den Cartellverband 1909?
Im CV war intensiv und überaus kontrovers die Bildung eines Altherrenbundes diskutiert worden, der dann schließlich 1908 gegründet worden war.
Auf der universitären Bühne tobte der sogenannte „Akademische Kulturkampf“, der sich 1901 an der Berufung katholischer Professoren entzündet hatte. Nachdem an den Universitäten Bonn, Breslau und Freiburg konfessionell gebundene katholische Geschichtsprofessuren eingerichtet worden waren, sollte auch an der neu gegründeten Universität Strassburg solch ein zweiter Geschichtslehrstuhl für einen Katholiken eingerichtet werden. Doch da sich die Fakultät weigerte und sich sogar an den Kaiser mit der Bitte um Unterstützung wandte, unterstützte Wilhelm II. die Einrichtung eines konfessionell gebundenen katholischen Geschichtslehrstuhls in Strassburg. Dies führte zu einer erregten Diskussion in der akademischen Öffentlichkeit um den protestantischen Charakters der deutschen Universitäten.
Parallel forderten 1904 die schlagenden Verbindungen an der Universität Jena – mit dem Argument der akademischen Freiheit – das Verbot der katholischen Verbindungen, was allerdings letztlich zu einem Erstarken der katholischen Korporationen führte.
Der Bonner CV bestand damals aus drei Verbindungen – Bavaria, Ripuaria und Staufia, denn Alania wurde erst 1910 in den CV aufgenommen, Novesia 1919, Ascania 1920 und Borusso Westfalia schließlich 1927.
Das war also die Zeit, in der der Godesberger Zirkel gegründet wurde, eine Zeit, in der Deutschland – und damit auch der CV – von Höherem träumte – vom Platz an der Sonne – so die Losung des ehemaligen Reichskanzlers Bernhard von Bülow.
Das soll uns als kurzer Blick zurück genügen.
Und heute – wie sieht es heute aus mit der Bonner Universität und dem CV?
Die Universität Bonn, in der sogenannten Exzellenzinitiative nur mäßig erfolgreich, kämpft – wie alle Hochschulen – mit der Umsetzung der Beschlüsse von Bologna, also dem Versuch, durch die Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen, der Modularisierung der Studiengänge und der Einführung eines Leistungspunktesystems (sogenannte credit-points) das deutsche Hochschulsystem international auszurichten und einen sogenannten Europäischen Hochschulraum zu schaffen.
Dazu kommen neue administrative Rahmenbedingungen, so z.B. durch die Einführung von sogenannten Hochschulräten – quasi als Aufsichtsräte – die die Akademischen Senate ersetzen sollen.
Und schließlich muss der Verlust des Lehramtsstudiums noch verkraftet werden.
Was bedeutet das alles aber für den Studenten und die Studentenverbindungen?
Für den Studenten bedeutet das zunächst einmal eine Verschulung des Studiums. Die akademische Freiheit, die die meisten von uns noch erleben durften – und die eine Säule der preußischen Universitäten in Berlin, Bonn und Breslau war –, die gibt es künftig nicht mehr: O alte akademische Freiheit, nun bist Du ganz verschwunden – so könnte man betrübt singen.
Diese akademische Freiheit aber – geben wir es ruhig offen zu – wird heute natürlich verklärt. Im Grunde bedeutete das nichts anderes als, dass jeder im Studium tun und lassen konnte, was er wollte: Was zählte, war die Leistung im Examen, der Weg dahin war egal. Dieser Weg ist heute reglementiert, zementiert, verschult und verbürokratisiert.
Zählte früher allein das Examen am Ende, so besteht ein heutiges Studium aus vielen kleinen Examina – das sogenannte Credit-point-System. Jedes Studienfach ist nun modularisiert, d.h. es gibt eine Vielzahl von sogenannten Modulen, also Lehreinheiten, die aus mehreren Lehrveranstaltungen zu einem gemeinsamen Teilgebiet eines Studienfachs bestehen. Für das Bestehen eines jeden Moduls gibt es Punkte, die sogenannten Credit-points, so dass heute also vom ersten Semester an gilt: Burschen heraus, ab sofort ist jeder Gang scharf!
Das alles bedeutet natürlich, dass der Druck, zeitlich wie inhaltlich, auf den Studenten wächst, da man es sich kaum erlauben kann, die Regelstudienzeit zu überschreiten oder auch nur bestimmte credit-points nicht zu schaffen.
Vor diesem Hintergrund ist dann die Fragen von jungen Studenten oder besorgten Eltern zu hören, ob man sich denn den Eintritt in den CV überhaupt zeitlich leisten kann? Eine durchaus berechtigte, ja notwendige Frage, auf die wir eine Antwort geben müssen.
Wir alle wissen, was der CV zu bieten hat, denn sonst würden wir nicht mehr dabei sein; in Abwandlung des berühmten lateinischen Zitats könnte man sagen: „Nicht nur für das Studium, sondern besonders für das Leben lernen wir im CV und durch den CV“.
NUR: Wie können wir das vermitteln? Wie können wir jungen Leuten deutlich machen, dass die Mitgliedschaft im CV gerade in der heutigen Zeit wichtige Erfahrungen und Einsichten vermittelt, die man im Beruf und im Leben braucht und die man bestimmt nicht auf einer Universität vermittelt bekommt – und schon gar nicht unter den Vorzeichen von Bologna.
Hier hat der CV also viel zu bieten, nur: in den aktiven Verbindungen besteht das große Problem der mangelnden Präsenz der Altern Herren. In der Regel sind bei normalen Veranstaltungen einige wenige ältere Bundesbrüder auf den Häusern, meist die pensionierten, die zwar über viel Lebenserfahrung verfügen, aber nicht mehr aktiv im Berufsleben stehen. Die fehlenden jungen Alten Herren sind beruflich und privat massiv eingebunden – außerdem haben sie in der Regel nach dem Studium ihre alma mater verlassen und müssen sich in einer neuen Stadt mit Familie einleben.
Und genau an dieser Stelle kommen die CV-Zirkel ins Spiel, denn diese sind vor Ort und haben deutlich mehr Mitglieder AM ORT als eine CV-Verbindung, gelegentlich sogar mehr als eine CV-Verbindung im Bundesland oder gar im ganzen Bundesgebiet.
Ich möchte daher behaupten, dass die Zukunft des CV und seiner aktiven Verbindungen in den Händen der Zirkel liegt. Gerade im „Bologna-Sturm“, d.h. im Zeitalter der kurzen Studienzeiten und der Verschulung des Systems, kann und muss die Verbindung ein sicherer Hafen sein, doch das kann künftig nur gelingen, wenn wir die Aktiven nicht alleine lassen.
Daher sollten die Zirkel künftig ihre Programme mit den aktiven Verbindungen abstimmen, um unseren Anspruch zu erfüllen, die Generationen zusammenzubringen.
Auch in Bezug auf das Spannungsverhältnis von Bildung und Ausbildung spielen die Zirkel eine wichtige Rolle: Während durch Bologna der Ausbildungsaspekt massiv in den Vordergrund rückt (in den Bologna-Dokumenten ist von employability die Rede), könnte der in den Zirkeln vor Ort organisierte Sachverstand genutzt werden, um eine Art studium generale anzubieten, das zum einen den Bildungsaspekt aufgreift und zum anderen dieses in einem offenen, ehrlichen und authentischen Dialog mit den jungen Cartellbrüdern vermittelt.
Wenn wir uns einmal vor Augen führen, welche Berufe z.B. im Godesberger Zirkel vertreten sind, dann ist das ganze Spektrum einer großen deutschen Universität vertreten. Und wenn wir dann noch daran denken, dass der direkte, offene und ehrliche Umgang das Verhältnis im Cartellverband kennzeichnet, dann wird deutlich, welche Chancen sich für eine Studentenverbindung im Bologna-Prozess bieten. Im Beruf stehende Zirkelmitglieder könnten z.B. jungen Aktiven im Studium die Möglichkeit bieten, einmal ins Berufsleben hinein zu schnuppern, um die Praxis ein wenig kennen zu lernen. Der Zirkel mit einer Art Mentoren-Funktion für die aktiven Cartellbrüder vor Ort.
Ein Anfang wäre z.B. gemacht, wenn die Zirkel künftig ihre Stammtische auf den Häusern der Verbindungen durchführen würden – also: Raus aus der bequemen Runde mit immer denselben Cartell- und Bundesbrüdern und immer denselben Themen und (wieder) rein ins aktive Verbindungsleben!
Aber es gibt noch zwei weitere „Fronten“, an denen die Zirkel mit ihrem fachlichen und gesellschaftlichen Potential aktiv werden sollten und müssen – nämlich Kirche und Universität.
Wenn es uns als CV nämlich nicht gelingt, in beiden Bereichen wieder stärker Fuß zu fassen, dann wird der CV auf Dauer keine Zukunft haben.
Schauen wir uns doch in den Korporationen um und zählen die Priesteramtskandidaten oder – trauriger noch – die Zahl der dann wirklich geweihten jungen Cartellbrüder. Wir müssen aufpassen, dass wir kein katholischer Verband ohne Priester werden. Hier muss die Tendenz gebrochen werden, dass die Verantwortlichen in den Priesterseminaren die Mitgliedschaft in einer (auch katholischen) Verbindung mit Vorbehalten sehen – auch eine Aufgabe für die Alten Herren in den Zirkeln vor Ort.
Ebenso wichtig ist die Präsenz an der Universität: Es muss uns gelingen, hier deutlich zu machen, dass die Mitgliedschaft im CV nicht vom Studium ablenkt oder dieses stört, sondern – im Gegenteil – den Studienerfolg sichert. Die Zirkel könnten z.B. regelmäßig eine hochkarätige Vortragsveranstaltung an der Universität durchführen, um den CV dort zu präsentieren.
Auch die Werbung an Schulen sollte künftig eine Aufgabe der Zirkel sein, das aber professionell organisiert und auf die Bedürfnisse der jungen Studenten bezogen.
Das wiederum bedeutet aber auch, dass wir ein Anforderungsprofil für unsere jungen Studenten entwickeln, das mehr sein muss als: Männlich – Katholisch – Student.
Das Motto muss künftig „Fordern und Fördern“ lauten und beschreiben, was wir von künftigen CVern konkret erwarten (z.B. Engagement in der jeweiligen Kirchengemeinde der Verbindung, Sprachkenntnisse, Auslandsaufenthalte), aber auch und besonders, was wir bieten – und das auch im Sinne konkreter Hilfe und Unterstützung, z.B. dadurch, dass die Zirkel den Aktiven Seminare der CV-Akademie finanzieren, z.B. um Kompetenzen in den Bereichen Rhetorik, Zeit- & Selbstmanagement, Präsentationstechniken, Umgangsformen sowie Bewerbung & Vorstellung zu erlernen.
Also muss es künftig nicht mehr nur Burschen heraus! heißen, sondern auch Philister heraus! oder noch besser Zirkel, wacht auf! heißen.
Festrede anläßlich des Zirkel-Jubiläums 2009