Besuch aus Moskau nach 30 Jahren / Beitrag 2
Jewgeni Dolmatowski (1915-1994) war sowjetischer Dichter und Schriftsteller. Als Leutnant der Roten Armee protokollierte er im Gefechtsstand von General Tschuikow im Tempelhofer Schulenburgring die Kapitulationsverhandlungen am 1./2.Mai 1945. Nach der Unterzeichnung des Kapitulationsbefehls durch General Weidling am 2. Mai trug er am Brandenburger Tor Gedichte vor und berichtete von den Ereignissen der letzten Tage. Der Weltöffentlichkeit wurde Dolmatowski bekannt durch das Bild von Jewgeni Chaldej. Es zeigt ihn mit der Hitlerbüste unter dem Arm in der Nähe des Reichstages.
30 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkrieges besuchte Dolmatowski den Schulenburgring. Er wurde insbesondere von der Hauseigentümerin und Bewohnerin der Kapitulationsräume Anni Goebels sehr freundlich empfangen. Goebels mit einem „b“,darauf legte sie immer großen Wert.
Seine Eindrücke von diesem Besuch hat Dolmatowski in verschiedenen sowjetischen Zeitungen und Zeitschriften festgehalten. Die hier wiedergegebene Darstellung stützt sich auf die russische Ausgabe des Buches von Pjotr Abrassimow „300 Meter vom Brandenburger Tor“, erschienen 1985 im Quadriga Verlag, Berlin 1985.
Pjotr Abrassimow war Botschafter der UdSSR in der DDR von 1962-1971 und von 1975-1983 sowie alliierter Kommissar für ganz Berlin. Er war maßgeblich am Vier-Mächte-Abkommen über den Status von Berlin vom 3. September 1971 beteiligt.
„Ja, alles ist richtig, dies ist dasselbe Haus, dieselbe Wohnung. Ich betrachte das Haus von außen: fünf Etagen, mit Erkern, mit großen Fenstern, aus welchen direkt drei Straßen einzusehen sind – nicht zufällig waren hier die Gefechtsstände der Armeen eingerichtet!
Ich muss zugeben, dass mich Erregung befiel, eine elektrisierende Unruhe. Für einen Menschen, der vor einer Tür steht, an die er lange nicht geklopft hat, durch die er lange nicht eingetreten ist. So ist es wohl normal, sich zu erregen. Und heute war das ein besonderer Fall, fast unglaublich.
Kaum hatte ich die Klingel berührt, öffnete sich auch schon die Tür. Entweder hatte man aufmerksam auf uns gewartet oder aus dem Fenster gesehen wie wir gemächlich die Straße entlang geschritten waren.
Auf der Schwelle eine schlanke, weißhaarige Dame in bleigrauem Kleid, die ’etwas hermachte’ wie man so sagt, sehr aufrecht, obwohl nicht jung, sicher älter als ich. Ihre Brille mit dicken, zusammengesetzten Gläsern reflektierte stark und gestattete nicht gleich, festzustellen, was für Augen sie hatte.
‚Ich komme aus der Sowjetunion. Vor 30 Jahren war ich einmal in Ihrer Wohnung, gnädige Frau.’ ‚Ja, ja ich habe schon gehört, lächelte die Frau höflich. Hier haben sich wichtige Ereignisse abgespielt! Ist es denn wahrhaftig möglich, mein Herr, dass Sie hier bei mir waren? Und dreißig Jahre sind seitdem vergangen, kaum zu glauben, ganze dreißig Jahre! Nun, kommen Sie bitte herein, kommen Sie!’
Wir betreten denselben Korridor, in welchem der Bursche von Krebs gesessen hatte – mit vorbereiteten belegten Broten, für den Fall, dass sein Vorgesetzter Hunger bekommen sollte. Links hinten das Zimmer, in dem – für zwanzig Minuten der Geschichte entrückt – der Armeeoberbefehlshaber Wassili Iwanowitsch Tschuikow in einem großen Holzbett geschlafen hatte, rechts die Tür zu dem Zimmer, in welchem die Verhandlungen stattfanden.
Mich überkommt Verblüffung. Ist es denn wirklich möglich, dass ich in der selben Wohnung bin? Es ist erstaunlich, wie zählebig menschliche Lebensgewohnheiten sind: alle Möbel an ihren alten Plätzen, die Stühle genauso abgedeckt mit Leinenüberzügen, vielleicht noch denselben.
Dann nahmen wir Platz unter einem breiten Bild – einer Kopie von Leonardo da Vincis ‚Abendmahl’ – welches ebenfalls noch an seiner Wand hing, es hatte nichts an Glanz verloren, sich nicht im geringsten verändert.
Ich schaute ins Schlafzimmer – mit einer Spitzendecke bedeckt stand dort das Bett in dem Wassili Iwanowitsch ‚auf die Schnelle` geschlafen hatte, während ich gemeinsam mit Wsewolod Wischnewski in seinem Auftrag die Vertreter von Goebbels und Bormann mit einem Frühstück bewirtete, indes der Soldat im Korridor verdutzt auf seinen sorgfältig zurechtgemachten belegten Broten sitzen blieb.
Die Hauswirtin bittet, ihr zu erzählen, was sich in ihrer Wohnung eigentlich abgespielt hat, und wie? Sie selbst berichtet:
‚Wir hielten uns hier auf bis zur letzten Aprilwoche 1945, dann kamen rote Quartiersmacher
(und mir gefällt, dass sie uns so nennt, es ist angenehm, ein „Roter“ zu sein) und siedelten die ganze Familie an einen ungefährlichen Ort um. Und wirklich brachten sie uns per LKW in eine Wohngegend hinter dem Flughafen, wo schon keine Schüsse mehr fielen. Am fünften Mai wurde uns erlaubt, zurückzukehren. Die Wohnung war völlig verräuchert, aber alle Sachen befanden sich an ihren Plätzen, sogar die Teller und diese Gläser hier – Frau Anni zeigt auf die mit Eierlikör gefüllten Gläser – waren abgewaschen und poliert. Verschwunden war nur der Zirkel meines Vaters. Haben Sie ihn nicht damals gesehen, so einen kleinen, vernickelten Zirkel?`
Ich erinnere mich, dass wir damals die Entfernung, die noch bis zur Reichskanzlei blieb, auf der Karte mit dem ganz eng zusammengedrückten Zirkel abmaßen – aber mir ist völlig rätselhaft, wo er hingekommen sein könnte.“
Zum Abschluss des Gesprächs formulierte Anni Goebels einen schriftlichen Gruß an Wassili Tschuikow zu dessen 75. Geburtstag. Eine Kopie der Geburtstagskarte wurde der Hausgemeinschaft im Jahre 1984 aus dem Nachlass von Tschuikow von der Botschaft der UdSSR in der DDR überbracht. Der Glückwunsch enthält die Worte „Wir waren froh, dass der Frieden endlich kam.“