Zeichen der Zeit In welcher Verfassung sind wir?

Die Waldorfschule ist der Prügelknabe der Nation geworden. In 50 Jahren wird sie der Liebling der Nation sein. Die Nation wird der Waldorfschule danken. 1. Warum ist die Waldorfschule der Prügelknabe der Nation? Weil die Nation nach sich selber fragt. In welcher Verfassung befinden wir uns? Die Frage fällt in die geschichtliche Vergangenheit. Die Frage fällt in das Dritte Reich. Hier endet und verendet sie bisher. Also prügelt man die Waldorfschule. Warum? Weil sie im Dritten Reich verboten war. Ist das ein Widerspruch? Ja. Man prügelt etwas, das verboten war. Warum? Weil man das Gegenbild zum Dritten Reich sucht. Das Gegenbild finde ich, wenn ich den Blick um 180 Grad drehe und in die Zukunft richte. Was ansteht, ist die Verfassung, in der wir uns noch nicht befinden. Denn als die Alliierten im Jahr 1945 dem Dritten Reich ein Ende setzten, legten sie im Potsdamer Abkommen fest, dass Deutschland 50 Jahre lang besetzt wird. Dann wird das Land völkerrechtlich autonom und gibt sich eine neue Verfassung. Tatsächlich sind die Truppen erst 1995 aus Berlin abgezogen. Vier Jahre vorher kam es zum Einigungsvertrag, der die Verfassungsarbeit vorbereiten sollte. Vorläufig wurde das Bonner Grundgesetz übernommen, die Verfassung der DDR wurde verdrängt. Was also steht an? Die künftige Verfassung des Bewusstseins steht an. Sie wird alles in den Schatten stellen, was wir bisher als neuzeitliche Verfassungen kennen. Für diese künftige Verfassung Zeichen der Zeit In welcher Verfassung sind wir? leistet die Waldorfschule heute schon die Vorarbeit. 2. Seit meinem 15. Lebensjahr hörte ich im Ausland, wir Deutsche seien Verbrecher. Wir hätten die Grenze der bisherigen Menschheit überschritten – in Richtung auf das Böse. Das bewusst gewollte und öffentlich formulierte Böse. Gegen diese Sätze habe ich mich 30 Jahre lang gewehrt. Eines Tages habe ich sie anerkannt, indem ich nach Deutschland zurückkehrte. Ich sagte zu mir selbst: Ja, ich gehöre dazu. Ich bin ein Verbrecher. Ich habe die Grenzen der bisherigen Menschheit überschritten. Ich bin fähig zum bewusst Bösen. Aber gerade die Anerkennung dieser Sätze berechtigt mich zu folgenden Gegen-Sätzen. Weil ich die Grenze der Menschheit überschritten habe, bin ich ein Wesen freien Willens. Nur wer frei ist, kann sich für das Böse entscheiden. Aber seine Freiheit beweist sich erst dadurch, dass er die Grenze der Menschheit auch in der Gegenrichtung überschreitet. Also in das bewusst Gute. Aus der Nation der Verbrecher wird eine Nation von Heiligen. Was in anderen Nationen die Ausnahme ist, wird bei uns zur Regel. Den Begriff des »Heiligen« beziehe ich nicht aus den Weltreligionen, und ich werde sogleich sagen, warum nicht. Sondern ich berufe mich auf die deutsche Klassik, etwa die »Kritik der praktischen Vernunft« von Kant oder Goethes Gedicht »Die Metamorphose der Pflanzen«. 172 3. Alle bisherigen Verfassungen der Neuzeit, auch das Bonner Grundgesetz, beginnen mit einem schlechten Witz. Der Witz lautet: »Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit« (Grundrechte, Artikel 2/1). Ein Witz ist es deshalb, weil dieser »Jeder« der Mensch ist, der sich selber die Verfassung gibt. Kein Feudalherr diktiert uns, was wir zu tun haben. Keine Verfassung gibt mir ein Recht, sondern ich gebe es mir selbst, indem ich die Verfassung erzeuge. Die freie Entfaltung ist die stillschweigende Voraussetzung jeder Verfassung. Die Verfassung verdankt sich der Freiheit und nicht umgekehrt. Sondern das Thema jeder Verfassung ist ein ganz anderes: Wie verhalte ich mich zu meinen ebenfalls freien Mitmenschen? Wie kann ich mich selbst zur Umwelt verhalten? Gegenstand der Verfassung ist nicht der Mensch. Sondern die Beziehungen sind Gegenstand. Hier wird die künftige deutsche Verfassung einen Sprung machen, der die bisherige Grenze der Menschheit hinter sich lässt: den Sprung in das bewusst Gute. Denn alle bisherigen Verfassungen verfallen sofort dem Mittelalter und der Antike. Sie sagen nämlich: »Freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, sofern er nicht die Rechte anderer verletzt«! Der andere Mensch gilt also als die Grenze meiner Freiheit. Und ich selber werde als der potenzielle Verletzer definiert, und zwar grundsätzlich. In dieser Voraussetzung spiegelt sich der Pessimismus der Weltreligionen. Die Religionen wollen uns dauernd verbessern. Also unterstellen sie, dass wir schlecht sind. Nicht etwa böse aus Freiheit, sondern böse von Natur, also zwangsläufig. Also schlecht. Und wenn jemand mal was Gutes macht, dann ist es gleich die göttliche Gnade. Nur die Gottheit kann gut sein. Der Mensch ist grundsätzlich schlecht, also Feind des Anderen. Und deshalb brauchen wir den Staat, der uns vor uns selber schützt. Das ist das Menschenbild der Religionen. Es hat sich unbemerkt in die neuzeitlichen Verfassungen eingeschlichen. Die deutsche Verfassung wird das Gegenteil machen. Als Anregung zitierte ich neulich den Grundsatz von Rosa Luxemburg aus dem Jahr 1918, damals gegen Lenins Pressezensur geschleudert: »Die Freiheit ist immer auch die Freiheit des Andersdenkenden.« Nach dem Vortrag hat man mir entgegnet: »Das ist doch eine Sonntagspredigt! Bring doch bitte die Predigt mal auf den Boden der Tatsachen!« Genau auf den Boden der Tatsachen werde ich den neuen Grundsatz stellen. Auf den Boden selber. Auf den Boden der Erde. 4. Jede Verfassung beschreibt die möglichen Beziehungen zwischen freien Menschen. Die Freien werden vorausgesetzt, sonst gäbe es keine Verfassung, sondern ein Diktat von oben. Aber wenn man die Freiheit schon erwähnt, obgleich sie die stillschweigende Voraussetzung der Verfassung ist, wie laut werden wir dann die bisher verschwiegenen Voraussetzungen feiern, die jeder Beziehung zugrunde liegen! Diese Grundlagen aller Beziehungen werden als Beziehungswesen in ihrer Würde anerkannt. Bisher setzte man sie als materielle Grundlage stillschweigend voraus. Es sind: der Erdboden, die Atemluft, das Licht und die Sprache. Jede mögliche Beziehung muss sich in diesen Materien verkörpern. Die künftige deutsche Verfassung wird die bisher verachteten Materien als Beziehungswesen anerkennen und als Mitarbeiter in die Verfassung aufnehmen. 5. Der Boden der Erde ist ein Wesen. Woran erkenne ich ein Wesen? An seinem freien Willen. Woran erkenne ich den freien Willen? Er kann gut oder böse sein. Wenn er böse ist, ist er Eigenwille und richtet sich auf sich selbst. Wenn er gut ist, richtet er sich auf das andere Wesen und macht dessen Offen- 173 barung möglich. Was man »den Anderen« nennt, ist Inhalt und Ziel des guten Willens. Der Boden kann eigenwillig sein und wird mir gegenüber böse. Er verwandelt sich in Schlamm, und mein freier Gang versackt im Morast. Derselbe Boden kann gütig sein. Er kann das Andere möglich machen. Das Andere bin ich, dieser Mensch, der sich auf festem Boden frei bewegen kann, nach rechts oder links, wie er will. Dem festen Erdboden verdanke ich also meine Bewegungsfreiheit. Ich trabe meinen Lebensweg. Aber derselbe Erdboden begnadet auch den anderen Menschen dort drüben mit derselben Freiheit der Bewegung. Obwohl der andere Mensch dort seinen Lebensweg in Gegenrichtung trabt. Selbst wenn der andere Mensch mein Gegner ist, bewegt er sich dank derselben Erde wie ich. Also ist meine Freiheit auch immer die Freiheit des Anderen. Hiermit habe ich den Satz von Rosa Luxemburg auf den Boden der Tatsachen gestellt. Auf die Tat des Bodens. Wem also gehört der Boden? Das Bonner Grundgesetz sagt: »Entweder mir. Oder dir.« Die Antwort ist falsch. Die DDR hat gesagt: »dem Staat«. Das ist schon richtiger, aber der Staat setzt das Misstrauen zu den schlechten Staatsbürgern voraus. Auch falsch. Der Boden gehört weder mir, noch dir, noch dem Staat. Der Boden gehört dem Boden. Er gehört sich selbst, denn er wird als Wesen anerkannt. Der Boden ist das freie Beziehungswesen, das die Bewegungsfreiheit aller Menschen ermöglicht: Grundlage aller Beziehungen. Beziehungen aber sind der Gegenstand einer jeden Verfassung. 6. Die künftige deutsche Verfassung wird die bisher stillschweigend vorausgesetzten Materien der Erde als Wesenheiten anerkennen. Was ein Wesen ist, habe ich gesagt. Ich könnte es ausführen, etwa auch für die Atemluft, das Licht und die Sprache. Aus Platzgründen beschränke ich mich auf die Sprache. Am Beispiel der Sprache werde ich erklären, warum die Waldorfschule eine Vorarbeiterin der deutschen Verfassung ist, ohne es zu wissen, und zwar durch das, was sie seit 1919 getan hat und heute noch täglich tut. Die Sprache ist ein Wesen, also hat sie einen freien Willen, also kann sie gut oder böse sein. Gut ist sie, wenn sie das Andere möglich macht. Sie stellt sich zur Verfügung, damit Menschen sich gegenseitig ansprechen können. Sie gibt sich den Menschen hin. Ihre Hingabe an den Menschen ist dessen Sprachbegabung. Die Gabe kann auch entzogen werden. Dann wird der Mensch sprachlos. Er verstummt. Oder er versteht gar nichts mehr. In diesem Fall macht die Sprache ihren Eigenwillen geltend. Sie wird böse. Sie macht uns darauf aufmerksam, dass sie nicht zwangsweise gut ist. Sondern unsere Sprachbegabung ist ihre freiwillige Gabe. Wenn ich diesen Sachverhalt verdränge – und die letzten Jahrtausende haben ihn verdrängt –, dann lebe ich im Aberglauben, dass ich selber sprachbegabt sei, als sei das Sprechen meine private Leistung, und auf die stummen Wesen blicke ich mit Verachtung herab. So hat man seit der Antike gesagt, die Sprache sei das unterscheidende Merkmal des Menschen gegenüber dem Tier, und das Tier hat man dementsprechend verachtet. Die Waldorfschule macht das Gegenteil. 7. Die Waldorfschule hat die Sprache immer schon als ein Wesen eigenen Rechtes gewürdigt. Die Sprache selbst darf sich aussprechen. Sie muss also gar nicht mehr eigenwillig oder böse werden, damit wir auf sie aufmerken. Wir Menschen müssen nicht verstummen, nur damit wir auf die Gabe der Sprache achten lernen. Sondern die Sprache selbst darf sprechen, etwa täglich im rhythmischen Teil des Hauptunterrichts; 174 oder in den Fächern Sprachgestaltung und Eurythmie; oder in den Monatsfeiern und Jahresfesten. Hier dürfen die Laute der Sprache tönen, wie sie sich selber wollen. Das Aschenputtel wird zur Prinzessin. Die Sprache ist keine Dienstmagd mehr, kein Medium, das unsere Botschaften selbstlos transportiert. Aus der Küche, wo sie unsere Suppe kocht, kommt sie in den Ballsaal und tanzt im Kleid des Mondes, der Sonne und der Sterne: Vokale und Konsonanten tanzen und tönen sich selbst. Auf diese Weise wird die Sprache als Eigenwesen anerkannt. Aber die Waldorfschule geht noch weiter. Bisher habe ich erst erzählt, was wir unter »Kunst« verstehen. Kunst befreit die bisherigen Elemente der Welt aus den Ketten der Dienstbarkeit und anerkennt sie als Wesen eigenen Rechts. So sprechen wir auch vom »Wesen der Farbe« oder vom »Wesen des Klanges«. Aber was verstehen wir unter »Erziehungskunst«? 8. Im Fachunterricht, der in Epochen erteilt wird, benützen wir die Sprache selbstverständlich ebenso gedankenlos wie unsere Zeitgenossen es tun, und wir wären undankbare Empfänger, würden wir die Gabe der Sprache nicht ausschöpfen. Aber darin sind wir bloße Zeitgenossen. Waldorfschule werden wir erst dadurch, dass wir die Gabe der Sprache an die bisher stummen Mitbewohner der Erde weiterschenken. Wir sprechen nicht nur über Themen wie Tiere, Pflanzen und Mineralien. Sondern wir fragen nach dem Wesen dieser vermeintlichen Themen und bringen die Wesen zur Sprache hin. Wir wollen, dass die Wesen sich selbst aussprechen. Wir stellen die Fragen und lassen die Wesen antworten. Wir stellen unsere Aufmerksamkeit zur Verfügung, damit die Wesen sprechen. Sicher sprechen sie nicht deutsch oder chinesisch. Sie sprechen, indem sie sich verhalten. Was macht die Maus den ganzen Tag? Die Maus wird es mir sagen. Indem sie es macht. Und ich anerkenne ihre Antwort. Ich frage den Baum: Was machst du im Jahreslauf? Und wie? Der Baum antwortet mir. Er spricht sich aus. Wie? Durch das, was er tut. Er zeigt es mir. Ich muss nur hingehen, jeden Tag, ein ganzes Jahr lang. Dann höre ich die Antwort. Und was macht die Waldorfschule jeden Tag, das ganze Jahr hindurch, seit 82 Jahren? Sie genießt die Sprachbegabung wie jeder andere auch. Zweitens anerkennt sie die Sprache als Eigenwesen. Drittens gibt sie die Gabe an jene Wesenheiten weiter, die bisher stumm und ungehört geblieben sind. Sie macht die Wesen der Natur sprachbegabt. Dadurch wird sie sprachschöpferisch für »Andere«. Das heißt »Erziehungskunst«. Diese Haltung der Güte ist die künftige deutsche Verfassung des Bewusstseins. 9. Ich schreibe hier keinen politischen Appell. Ich sage den Waldorfschulen nicht: »Geht auf die Barrikaden!« Sondern ich sage: »Danke! Was ihr macht, ist gut. Macht weiter so. Gut im Sinn der künftigen Verfassung. Wie ihr deren Vorarbeiter seid, so ist mein heutiger Dank nur der Vorklang des Dankes, den alle Menschen aussprechen werden. In 50 Jahren. Alle Menschen nämlich, rund um die Erde, deren Bewusstsein in einer Verfassung lebt, die man mit Selbstachtung als ›deutsch‹ bezeichnen kann.«


Wilfrid Jaensch (Dozent am Waldorflehrerseminar, Berlin)