"Violence Elsewhere" Blog

"In diese Mauern müssen Löcher geklopft werden"

Interview mit Annika Reich

19 Oktober 2019

© Jenny Endom

Annika Reich ist eine deutsche Autorin und Aktivistin. Sie hat vier Romane, sowie zwei Kinderbücher veröffentlicht und ist Mitgründerin der feministischen Kolumne ‘10nach8’, die zweimal wöchentlich auf ZEIT Online erscheint. 2015, bewegt von der Krise in der Flüchtlingspolitik in Berlin, gründete Reich zusammen mit einem Netzwerk von 100 Frauen aus der Kunst, Kultur, den Wissenschaften und dem öffentlichen Leben WIR MACHEN DAS.

Weiter Schreiben ist eines der Projekte, das von WIR MACHEN DAS ins Leben gerufen wurde. Das Projekt bietet Autor*innen aus Kriegs- und Krisengebieten eine Publikationsplattform und unterstützt ihren Einstieg in den deutschen Literaturbetrieb.

Annika Reich ist Mitgründerin und Künstlerische Leiterin von Weiter Schreiben. Hier beantwortet sie unsere Fragen zu Weiter Schreiben, beschreibt Zusammenhänge zwischen dem Schreiben und "violence elsewhere" (Gewalt anderswo) und erklärt warum literarische Texte uns anders bewegen als Journalismus.

Weiter Schreiben gibt Autoren aus Kriegs- und Krisengebieten eine Plattform um weiter zu schreiben. Was macht das Schreiben für gerade diese Autoren so wichtig?

Annika Reich: '2017 haben wir Autor*innen aus Kriegs- und Krisengebieten gefragt, was sie sich wünschen. Die Antwort, die wir am häufigsten bekommen haben, lautete: „Weiterschreiben“. Weiter schreiben zu können, heißt aber auch, weiter gelesen zu werden. Denn das Schreiben und das Gelesenwerden gehören zusammen. Für Autor*innen ist es elementar, dass der Prozess des Schreibens nicht abbricht. Schreiben ist nicht nur eine Kunst, es ist auch eine Lebensform, eine Art, die Welt wahrzunehmen, sie sich begreiflich zu machen und sich dadurch in Beziehung zu setzen mit ihr. Das gilt für Autor*innen aus Kriegs- und Krisengebieten in besonderem Maße. Für sie ist der Schreibprozess durch die politische Situation nicht nur unterbrochen worden, sondern das Schreiben ist für einige von ihnen sogar lebensgefährlich geworden. Mussten sie ihre Heimat verlassen, bricht zudem oft der eigene Sprachraum weg, dann ist es umso wichtiger, mit Übersetzungen eine Brücke in den neuen Sprachraum hinein zu bauen.'

"Sprachen, Grenzen, Dokumente. Das alles engt ein, bedrängt, schließt aus. In diese Mauern müssen Löcher geklopft werden, durch diese Löcher müssen Geschichten erzählt und Hände gereicht werden." Martin Kordić

Die Texte, die auf weiterschreiben.jetzt publiziert werden setzen sich nicht nur mit Gewalt auseinander, aber viele haben Krieg und Vertreibung als Grundlage. Was können Texte zu diesen Themen leisten was andere Medien eventuell nicht vermögen?

Annika Reich: 'Wir haben es den Autor*innen freigestellt, über welche Themen sie schreiben. Es sind viele Texte über Krieg, Vertreibung, Gewalt und Flucht entstanden, die auf sehr unterschiedliche Arten vom Grauen oder eben gerade nicht vom Grauen erzählen, aber so geschrieben sind, dass es zwischen den Zeilen spürbar wird. Uns sind aber auch andere Texte geschickt worden: eine erotische Liebeserklärung von einer Frau an eine Frau, Porträts von deutschen Dichter*innen, ein Brief an Heinrich Böll, Texte über Gartenherzen, Kühlschränke und Wäscheleinen und über den Rotlichtbezirk in Amsterdam. Unsere Autor*innen kommen aus Syrien, dem Irak, dem Iran, dem Jemen und aus Afghanistan. Wir veröffentlichen auch Roma- und Sinti-Autor*innen, die in Deutschland, Österreich und Ungarn leben, weil Krisengebiete nicht immer woanders sind, sondern für manche Menschen mitten in Europa.

Durch die Dichte und Atmosphäre der literarischen Texte werden Erfahrungen in Kriegs- und Krisengebieten anders zugänglich als es ein journalistischer Text vermag. Das Vorstellungsvermögen wird hier ganz anders angesprochen. Oder wie einer teilnehmenden Autoren, Martin Kordic, schrieb: „Sprachen, Grenzen, Dokumente. Das alles engt ein, bedrängt, schließt aus. In diese Mauern müssen Löcher geklopft werden, durch diese Löcher müssen Geschichten erzählt und Hände gereicht werden.“'

Unser Forschungsprojekt bezieht sich auf die Beziehung Deutschlands zu Gewalt nach 1945. Besteht eine besondere Verantwortung in Deutschland sich mit Gewalt anderswo auseinanderzusetzen? Versteht sich Ihr Projekt eventuell auch in diesem Zusammenhang?

Annika Reich: 'Das Projekt war eine Reaktion auf die Krise der Flüchtlingspolitik 2015, die in Berlin hautnah erfahrbar wurde. Deswegen kann ich auf die Frage nur indirekt antworten. In der Nähe meiner Berliner Wohnung lagen tausende Menschen, die aus dem Krieg hierher geflohen waren, tagelang auf dem Boden, Familien schliefen in den Parks und waren teilweise nicht einmal mit dem Nötigsten versorgt. In diesem Moment ist mein eigenes Angekommensein in meinem Selbstverständnis als weltoffene, die Rechte des Einzelnen achtende Europäerin aufgebrochen und ich konnte so deutlich wie nie zuvor erkennen, wie hoch der Preis dafür ist, den andere dafür bezahlen. Natürlich wusste ich auch davor, was der Preis für mein eigenes Angekommensein war. Ich wusste um die anhaltende Kolonialität, um den strukturellen Rassismus und den christlich-weißen Reinheitsgedanken Europas. Ich kannte die Schattenseiten des sich als humanistisch und aufgeklärt verstehenden Europas, ich wusste um die Schattenseiten meiner Identifizierung, und doch gab es einen Teil in mir, der bis dahin nicht erfahren hatte, was das wirklich bedeutet. Ich habe meine Privilegien nur hinterfragt, aber nie von ihnen abgesehen, weil sie der Punkt waren, von dem aus ich sie hinterfragt habe. Ich staune jetzt darüber, dass das funktionieren konnte. Denn ich bin ja, wie die meisten Deutschen über meine Beschäftigung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus und der Shoah politisiert worden. Wie es von diesem Ausgangspunkt, der ja gerade dafür steht, niemanden je wieder aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe bzw. einer Religion auszuschließen, zu einem solchen Selbstverständnis kommen konnte, ist mir inzwischen ein Rätsel.

Bis zum Sommer 2015 ist mir der Krieg nur nah gegangen, aber noch nie nah gekommen. Es kommt mir inzwischen so unwahrscheinlich vor, dass man so lange leben kann, ohne mit dieser Seite des Lebens konfrontiert zu werden, aber es war so. Jetzt ist es anders.'

"Bis zum Sommer 2015 ist mir der Krieg nur nah gegangen, aber noch nie nah gekommen. Es kommt mir inzwischen so unwahrscheinlich vor, dass man so lange leben kann, ohne mit dieser Seite des Lebens konfrontiert zu werden, aber es war so. Jetzt ist es anders."

© Piero Chiussi

Was wünschen Sie sich für die Zukunft von Weiter Schreiben?

Annika Reich: 'Ich würde mir gerne wünschen, dass es diese Projekt nicht mehr braucht, dass Autor*innen auf der ganzen Welt weiterschreiben können, doch das Gegenteil ist der Fall: Ich bekomme zusätzlich zu den arabischsprachigen Exilautor*innen immer mehr Anfragen von türkischen und kurdischen Autor*innen, aber auch von ungarischen und polnischen. Ich wünsche mir, dass es weitergeht mit den Buchveröffentlichungen auf Deutsch, den Stipendien und Preisen, den Lesungen und Festivalteilnahmen. Ich wünsche mir, dass die Arbeit in den Tandems,* dieser wunderbare persönlich-professionelle Austausch, weiter blüht und ich wünsche mir, dass der deutsche Literaturbetrieb und die deutschsprachige Leser*innenschaft sich weiter von den Perspektiven der Autor*innen erschüttern, berühren und informieren lassen. Denn ich bin fest davon überzeugt, dass wir nicht genug darüber lesen können, was es bedeutet, in einem Kriegs- und Krisengebiet zu leben, was es bedeutet, wie in Syrien Teil einer Revolution gewesen zu sein, wie sich der Alltag im Exil gestaltet; aber eben auch, wie ein syrisch-palästinensischer Autor das Amsterdamer Rotlichtviertel wahrnimmt oder wie ein Brief eines irakischen Autors an Heinrich Böll klingt.'

* Weiter Schreiben bringt Autor*innen mit renommierten deutschsprachigen Autor*innen zusammen, um ihnen Zugang zum deutschen Literaturbetrieb zu erleichtern.

Was wünschten Sie, dass Menschen über Ihre Autor*innen und/oder Gewalt anderswo wissen, das in alltäglichen Diskursen außen vor bleibt?

Annika Reich: 'Weiter Schreiben beinhaltet nicht nur das zeitliche Kontinuum, sondern auch eine räumliche Ausdehnung, eine Erweiterung der Perspektive. Allzu oft fehlen die Stimmen von Menschen, die nach Deutschland geflohen sind in der öffentlichen Debatte. Die Autor*innen, die hier versammelt sind, lassen das nicht zu. Sie ergreifen selbst das Wort und erweitern so die durch den dominanten medialen Diskurs geprägten Vorstellungswelten. Ihre Texte vertiefen den transkulturellen Dialog und durchkreuzen so Stereotype und Lesegewohnheiten. Der Brückenschlag geht also in beide Richtungen, denn auch die meisten Deutschen bedürfen eines Zugangs zu Lebensräumen und kulturellen Traditionen von Menschen, die aus der arabischsprachigen Welt nach Deutschland geflohen sind; die meisten wissen kaum etwas über arabischsprachige Literatur, und darüber, wie der Alltag in Kriegs- und Krisengebieten sich gestaltet, weiß man oft noch viel weniger. Wenn wir mehr wüssten von dem, was andere wissen, und wenn wir dieses Wissen in gemeinsam erzählten Geschichten auch anderen zur Verfügung stellen könnten, dann würde – vielleicht – hier und dort das Wissen die Empathie wecken, und die Empathie das Handeln, das Handeln würde aber das Wissen nicht unnütz werden lassen“, schrieb Saša Stanišić, einer der teilnehmenden Autoren dazu.'

2018 erschien eine Anthologie von Texten, die durch Weiter Schreiben entstanden sind im Ullstein Verlag unter dem Titel Das Herz verlässt keinen Ort, an dem es hängt, herausgegeben von Annika Reich und Lina Muzur.

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Haben wir Ihr Interesse an unserem Forschungsprojekt geweckt? Hier können Sie mehr erfahren.

Informationen zu unserer Konferenz 2020 in York finden Sie hier.

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