Einführung
I. Zwangsarbeit in Bobingen - Versuch einer Annäherung an ein schwieriges Thema
I. Zwangsarbeit in Bobingen - Versuch einer Annäherung an ein schwieriges Thema
1. Einführung
1.1. Zwangsarbeit als Massenphänomen
Zwangsarbeit von Männern und Frauen in Deutschland war zwischen 1939 und 1945 ein Massenphänomen. Es gab kaum ein Unternehmen, kaum einen gewerblich tätigen Betrieb, der nicht dauerhaft von der Arbeitsleistung ausländischer Zivilarbeiter, Kriegsgefangener oder KZ-Häftlinge profitiert hätte.
1.2. Zwangsarbeit im II. Weltkrieg prägt Ortstopographie
Es gab in Städten und Gemeinden kaum ein Viertel, kaum einen Straßenzug, in dem nicht ein Barackenlager und Ausländerunterkünfte das Straßenbild prägten. Ein dichtes Netz von Lagern und Quartieren unterschiedlichster Bauart und Größe überzog die gesamte örtliche Topographie.
1.3. Bedeutung für die deutsche Wirtschaft
Ohne die Arbeitskraft der ausländischen Männer und Frauen wäre nicht nur die gesamte deutsche industrielle Zivil- und Rüstungsproduktion zum Erliegen gekommen, auch die Infrastruktur- und Versorgungseinrichtungen wären zusammengebrochen – mit fatalen Konsequenzen für die einheimische Bevölkerung.
Reichsbahn[1], Reichspost, kommunale Unternehmen konnten ihren Betrieb während der Kriegsjahre nur durch den Einsatz von Zwangsarbeitern aufrechterhalten. „Fremdarbeiter“ wurden auch eingesetzt in der Grundstoffindustrie, in der Landwirtschaft, im Handwerk, in der Bauwirtschaft, im Handel, in der Gastronomie, sogar im Kulturbereich und bei kirchlichen Einrichtungen. Die wichtigsten Arbeitgeber aber waren die vielen mittleren und großen Industriebetriebe, die meist für die Kriegsmaschinerie produzierten.
1.4. Ausländereinsatz basierte auf Terror
Das System „Ausländereinsatz“ in Deutschland basierte auf Entrechtung, Ausbeutung, Terror. Unternehmen wurden keineswegs – wie in der Vergangenheit oft und apologetisch behauptet wurde – zum Einsatz von Zwangsarbeitern gezwungen. Arbeitgeber haben oft genug aus eigener Initiative ausländische Arbeiterinnen und Arbeiter beantragt, geradezu händeringend um die Zuweisung gebettelt[2].
1.5. Der „typische“ Zwangsarbeiter
Wir wissen, aus welchen Ländern die Menschen verschleppt wurden, wie alt sie waren, wo und was sie gearbeitet, wo und wie sie untergebracht waren. Der „typische“ Zwangsarbeiter, oder besser die „typische“ Zwangsarbeiterin war eine 17-jährige Schülerin aus einer Kleinstadt oder einem bäuerlich geprägten Dorf in der Ukraine.
1.6. Geringer Kenntnisstand über den Erlebenshorizont der Zwangsarbeiter
Dennoch: Wir wissen von den Menschen, um die es geht, nur sehr wenig. Die persönliche Erfahrungs- und Wahrnehmungsebene der ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter ist uns nach wie vor fremd. Wir haben kaum Kenntnis vom Alltagsleben der ausländischen Arbeitskräfte im Deutschland der Kriegsjahre, einem Alltagsleben, das geprägt war von Leid und Unrecht, von Zerstörung und Terror, von ruinierter Gesundheit, gestohlener Lebenszeit und verlorenen Perspektiven. Für Gersthofen sind uns die Memoiren des ehemaligen italienischen Militärinternierten Anselmo Mazzi überliefert. Seine Erinnerungen präsentieren uns eine Momentaufnahme über die Bedingungen im Barackenlager der Rüstungsfirma Transehe, ebenso das Tagebuch des IMI Fulvio Depetroni.
Auch die Aufzeichnungen von Giorgio Gregori vermitteln uns genaue Kenntnisse der Lebens- und Arbeitsverhältnisse der italienischen Zwangsarbeiter bei der Firma IG Farbwerke Hoechst in Gersthofen[3].
Für Augsburg, Bobingen, Meitingen und Langweid fehlen uns solche Augenzeugenberichte aus erster Hand. Nicht weil sie nicht existent wären, sondern weil über den Komplex des subjektiven Erlebnishorizontes der Zwangsarbeiter zu wenig geforscht wurde.
1.7. Ursache des defizitären Kenntnisstandes
Die Quellen, mit welchen Historiker über dieses Thema arbeiten, sind überwiegend Produkte des NS-Behördenapparats. Die Gestapo fragte nicht nach Hunger oder Übermüdung, nach Heimweh oder nach verzweifelter Angst vor einem brutalen deutschen Vorarbeiter, sondern konzentrierte sich ausschließlich auf das Delikt, fokussierte auf die vermeintliche sicherheitspolizeiliche Gefahr und auf die folgerichtig anzuwendenden Disziplinierungsmaßnahmen. Dies wird bei der Dynamit AG in Bobingen immer wieder deutlich[4]. Der NS-Staat nahm die Lebens- und Arbeitssituation der ausländischen Männer und Frauen ausschließlich unter dem Aspekt ihrer Leistungsfähigkeit und -steigerung wahr.
1.8. Erforschung der Alltäglichkeit des Arbeitseinsatzes
Ein Desiderat der Forschung blieb lange die Untersuchung der Alltäglichkeit und Normalität des Arbeitseinsatzes. Charakteristisch war für diese Normalität keineswegs eine homogene, allgemein verbindliche und überall gleichförmige Lebenserfahrung. Erst durch lokal bezogene Studien – daher auch die Notwendigkeit der Archivarbeit vor Ort – und die Befragung der Betroffenen in Oral History Projekten war eine Differenzierung und Individualisierung der Alltagserfahrung der Zwangsarbeiter möglich. Solche Studien liegen mittlerweile – dank der Förderung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ – für fast alle deutschen Regionen vor[5]. Die vom Autor im Augsburger Online-Gedenkbuch publizierten Biografien sind ein kleiner Beitrag zur Geschichte des Alltags aus der Sicht ehemaliger Zwangsarbeiter[6]. Einige Biografien handeln von Zwangsarbeitern, die in Bobingen tätig waren[7].
1.9. Differenzierung des Alltags abhängig von verschiedenen Faktoren
Die Lebenslage des Einzelnen war auch ganz entscheidend abhängig von seiner Gruppenzugehörigkeit, denn die Reichweite der sozialen Deklassierung und die Intensität von Lebensrisiken stand in ursächlichem Zusammenhang mit dem von der NS-Führung etablierten System aus Rassenhierarchie und Ungleichbehandlung der einzelnen Ausländergruppen[8]. Daneben spielten weitere Faktoren eine Rolle: die Umwelt, das Umfeld, in dem Zwangsarbeit stattfand, also regionale, lokale Mentalitäten, konfessionelle Dispositionen, ökonomische Strukturen, Wirtschaftszweige, Betriebsgrößen usw. usf.
1.10. Leiden der Ostarbeiter nach ihrer Rückkehr in die Heimat
Zur lebensgeschichtlichen Zäsur, welche die Verschleppung nach Deutschland bedeutete, kommt noch ein weiterer Aspekt: die Repressalien und Schikanen, die neuerlichen Verfolgungen und Ausgrenzungen, denen etwa die sogenannten „Ostarbeiter“ nach der Rückkehr in ihre Heimat ausgesetzt waren. Aus den Gesprächen mit den Betroffenen erfahren wir, dass diese Menschen Opfer zweier Diktaturen wurden – und immer noch sind.
Es klingt absurd: den sowjetischen Machthabern galten die nach Deutschland verschleppten Männer, Frauen und Kinder als Kollaborateure, als Verräter. Sie hatten deshalb nicht nur unter den bösartigen Verdächtigungen der Geheimdienste, der Staatsführung und der kommunistischen Parteikader zu leiden. Auch ihre Ausbildungsmöglichkeiten, ihr berufliches Fortkommen wurden erheblich behindert. Nicht wenige wurden sogar Opfer neuerlicher Deportation, wurden zur jahrelangen Zwangsarbeit nach Sibirien geschafft. Aus Furcht vor Repressalien haben wohl die meisten von ihnen bis in die 90er Jahre hinein über ihr Schicksal während des Krieges geschwiegen[9]. Umso wichtiger ist es, ihre Schicksale, so bruchstückhaft und subjektiv auch immer die Erzählungen sein mögen und durch den Filter von über 70 Jahren verändert sind, festzuhalten.
[1] Die deutsche Bahn sieht sich nicht als Rechtsnachfolger der Deutschen Reichsbahn. Dennoch beteiligte sich die Deutsche Bahn mit einem Millionenbeitrag an der Stiftung EVZ zur Entschädigung von Zwangsarbeit. https://www.welt.de/politik/ausland/article13391193/NS-Opfer-wollen-Deutsche-Bahn-in-den-USA-verklagen.html ; http://www.zug-der-erinnerung.eu/ Hunderttausende von Menschen wurden per Reichsbahn in die Konzentrationslager verfrachtet und Hunderte von Ukrainern, Russen, Italiener, Polen zur Arbeit bei der Reichsbahn gezwungen, z.B. in der Bahnmeisterei Meitingen und in Langweid . Der „Zug der Erinnerung“, der mit einer Ausstellung an die Zwangsarbeit bei der Deutschen Reichsbahn erinnerte, durfte nicht einmal die Gleise der Bundesbahn kostenlos nutzen. http://www.zug-der-erinnerung.eu/appelle.html. Lokale Studien für München: https://www.zwangsarbeit-archiv.de/buecher_medien/literatur/z00081/index.html; für Göttingen: http://www.zwangsarbeit-in-goettingen.de/texte/reichsbahn.htm
[2] Grundlegend zur Geschichte der Zwangsarbeit: Ulrich Herbert, Fremdarbeiter. Politik und Praxis des „Ausländer-Einsatzes“ in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, Berlin 21999; Ulrich Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge, München 2001; Mark Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und Häftlinge im Deutschen Reich und im besetzten Europa1939–1945,München2001; Andreas Heusler, Die Lebens- und Arbeitssituation der Zwangsarbeiter in der deutschen Kriegswirtschaft, in: Klaus Barwig/Dieter B. Bauer/Karl-Joseph Hummel (Hrsg.), Zwangsarbeit in der Kirche. Entschädigung, Versöhnung und historische Aufarbeitung, Hohenheimer Protokolle Bd. 56, Stuttgart 2001; https://www.bundesarchiv.de/zwangsarbeit/literatur/Bibliographie_Zwangsarbeit/index.htm
[3] Anselmo Mazzi, Memorie Di Un Internato Militare Italiano N. 8744, Arezzo 1978; Giorgio Gregori, Due anni in terra straniera, 1978; Neuauflage 1993; liegt auch in deutscher Übersetzung vor. Fulvio Depetroni (maschinenschriftliches Manuskript), Diario. (in deutscher Übersetzung); Dokumentarfilm über das Projekt des Paul-Klee-Gymnasiums Gersthofen: https://vimeo.com/329844750; password: 8744
[4] Vgl. hierzu die Unterlagen von Arolsen Archives zum devianten Verhalten von italienischen und slowakischen Arbeitern bei der „Gesellschaft zur Verwertung chemischer Produkte“, insbesondere der Brüder Angelo, Josef und Pio Scotton sowie des Slowaken Emile Benes und des Franzosen Letailleur Marcel, gegen welche die Firma immer wieder zu repressiven Maßnahmen griff.
[5] Siehe hierzu: https://www.zwangsarbeit-archiv.de/
[6] https://gedenkbuch-augsburg.de/opfergruppen/zwangsarbeiter/
[7] Hierbei handelt es sich insbesondere um Alexander Bojko und Olexandr Nadtotschji, Alexandra Bespatjia geb. Timtschenko, Maria Lawrenko, Nina Roschtschina, Giorgio Gregori und Aldo Moscatelli. Sie wurden von mir allesamt besucht und mit symbolischen Summen ausgestattet.
[8] Vgl. hierzu grundlegend: Ulrich Herbert, Fremdarbeiter. Politik und Praxis des „Ausländer-Einsatzes“ in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches; Bonn 1999, insbesondere Kapitel VII: Rassismus und Sachzwang: Die Praxis des Ausländereinsatzes, S. 221-274.
[9] Dies bestätigen all die von mir mit Zwangsarbeitern geführten Interviews, vgl. www.zwangsarbeit-gersthofen.de