Am Schweigenberge
Der Straßenlärm hallte an den kahlen Wänden lauter. Die hohen Fenster zur Westseite hatten mir nie genügt. Schon gar nicht, als ich vor drei Jahren nach Deutschland zurückkam. Schwermütig, fast widerwillig meine drei Habseligkeiten im VW-Bus abgeholt. Den Zwischenmieter aus psychologischen Gründen nie getroffen. Dafür gelähmt vom gebrauchten Geruch und genervt von harmlosen Rückbleibseln. Getröstet mit amerikanischem Konsumverhalten.
Immerhin zwang mich die bescheidene Wohnung viel unterwegs zu sein. Rast- und rostlos mit dem Aldirad zweimal täglich die Mühlenstraße hoch. Jeden Freitag in kurzweiliger Gesellschaft Werwölfe gespielt. Ich hatte was zu sagen, meiner kärglichen Kehlkopfstimme wurde zugehört. Extrovertiert gespielt mit ambitionierten Ansprechzielen. Gänzlich ohne Mathematik ausgefüllte Nachmittage im Paradies. Frisbee hatte noch was. Feinde wie Freunde gewonnen und zerronnen. Irgendwann sozial gesättigt, dann mürrisch, später angewidert und am Ende total vergiftet. Seitdem Gesellschaftsspiele nie mehr genossen. Einen Winter zuckerfrei dahin gesiecht. Zähe Zinksalbe auf den Lidern beim Klettern, dicken Pullover im billigen Futon-Doppelbett. Frost an den schlecht isolierten Scheiben. Den folgenden Sommer mit Pflastern an den Fingerknöcheln die Waterline gelaufen. Zum 30. Geburtstag veganer Käsekuchen und ein spontan spendiertes Bier. Einsamer als zur Habil, aber besser als Oberwolfach gewesen wäre. Die Slackline nun auf unbestimmte Zeit verstaut. Auf Obi-Kartons sitzend.
Auf dem Weg zum Bahnhof Erinnerungen an meine erste Professurbewerbung in Halle. Als gleichaltrige Partygänger morgens aus dem Kassa stolperten und ich Prioritäten hinterfragte. Als ich der akademischen Willkür noch naiv gegenüber stand. Auf der letzten Reise nach Freyburg jede Kreuzung der Saale bestaunt. Erinnerungen an Fahrten im weinroten Touran im Morgengrauen der Lese. Global Communication gehört und dabei die Uhrschläge mit der Digitalanzeige verglichen. Diese Tage schon vor Beginn abgehakt. Heute, abgewrackte Bahnhöfe. Weitläufige Trost- und Perspektivlosigkeit. Immer wieder die Sätze „Zu DDR-Zeiten…“. Ernten und Kleinbürgertum. Zu viel Zeit für Belanglosigkeiten. Rost brennt.
Keine Ruhe zum Lesen. Leichtigkeit im Magen, Unsicherheit, kein Appetit. Hibbelige Schritte durch die Kleinstadt, misstrauisch dreinschauende Merkel-Gesichter. Der Rucksack rutscht von der ungleichen Schulter. Zehn Jahre Turnen ohne Ergebnis. Am Weinberg die endlose Treppe hoch, auf der ich als Jugendlicher geschuftet habe. Bei Regen mich in pubertäre Träume gesteigert, um das Elend zu betäuben. Zu kostbar die Zeit als kreativer Einzelgänger. Damals mehr als heute. Reben streifen die Ellenbogen. Der Geruch von Mulch und billig lackierten Holzgeländern steigt in die Nase. Zwischen Zinkwanne und Plumpsklo die verrostete Seilbahn ewig außer Betrieb. Eins sein mit der Natur, mein zuverlässigster Freund und arglistigster Feind. Die Kunst Idylle zu sehen, wo keine ist. Kleinod.
Ich überquere die Unstrut an der Mühle. Die Schleuse passierend, weiter Richtung Campingplatz. Erinnerungen an Radtouren und Kanufahren in den Sommerferien mit Christoph. An einer Badestelle erwarte ich zwei langjährige Freunde. Unwichtig wann. Es ist einer der unerwartet warmen Septembertage, wenn man bereits auf Herbst gestimmt ist. Ein letztes Mal Gastgeber sein, solange ich noch Heimat spüre. Es gibt Gepflücktes, Gebackenes und Lagerfeuer ohne Romantik. Stattdessen ruft der Kauz. Drei temperamentarme Individualisten. Warum gerade Kaiserslautern? Es gab interessantere Gespräche.
Ich musste gehen. Keine Lust mehr im Tegut abzutauchen. Das Spiel der Gesellschaft verloren. Ostdeutschland war durchgespielt.