Logbuch Erden:leben – Eintrag vom 5. Dezember 2021 (Michael Evers)

Naturzeichnen mit Kirsten Uchman und Jörn Budesheim im Gewächshaus Kassel Wilhelmshöhe

Naturzeichnen im Winter – das Gewächshaus auf der Wilhelmshöhe in Kassel ist ein wunderbarer Ort im Dezember. Man betritt eine andere Jahreszeit, eine künstliche zwar, doch Lebensfrische fühle ich sofort auf der Haut. Die Wintersonne, die durch das Glasdach fällt und manche Gewächse leicht bescheint, andere in schattige Zonen taucht, erzeugt eine Atmosphäre, die mich sofort hineinzieht in mein träumendes Betrachten. Mitten in grünen Texturen sitzend, fallen die Gedanken und Gefühle, die ich mitbringe, langsam von mir ab. Ein Anderes umhüllt mich; von tropischen Pflanzen umgeben, ist das Gespräch der Vögel in der Voliére die Begleitmusik beim Abtasten der grünen Formen mit dem Bleistift. Für einen Moment verliere ich mich in der Beobachtung der lebenden Gestalten, kurz vergisst sich das grübelnde Ich im Anblick des Objekts. Die Wahrnehmung erweitert sich; in der Außenwelt melden sich Strukturen, in der Psyche erwärmt sich die Einbildungskraft. Ist die Natur außen oder innen? Cezanne sagt: Sowohl als auch -­ so las ich es in dem Text Der Zweifel Cezannes von Merleau-Ponty.

Wir sind zu dritt diesmal. An diesem erhöhten Ort, neben dem Schloss Wilhelmshöhe und inmitten des Bergparks, ist die Stimmung leicht heute. Nach den Phasen des Zeichnens treffen wir uns, tauschen uns aus, betrachten die Ergebnisse. Mit unseren unterschiedlichen Ansätzen werden auch die verschiedenen Denkweisen spürbar. Es ist eine Suche und ein Spielen mit dem, was wir sehen. Es ist der Versuch, die Dinge neu wahrzunehmen, im Experimentieren sich intensiv zu fühlen und etwas Wesentliches zu formulieren. Im Ästhetischen wird das Geheimnis bewahrt. Ich erinnere mich an eine Zeile von Nietzsche: „Unendlich ist das kleinste Stück der Welt!“ Im zeichnerischen Prozess scheinen die Pflanzen das Sehen an sich zu saugen; im Fluss des Agierens treffe ich formale Entscheidungen und beobachte, was sich entwickeln will. Dann denkt das Zeichnen selbst. Die Linie spricht; der Rhythmus der Hand weiß die Richtung.

Was bedeutet „Nachhaltigkeit“ für die Kunst? Die Dinge, die hier entstehen, sind keine Kuratorenkunst mit aufwendigen Produktionen, elektrischen Anschlüssen und belehrenden Texten. Wir zeichnen nur. Die Versenkung im Sehen ist beglückend. Ich richte mich auf die lebende Substanz, auf das Aus-sich-selbst-Entstehende, auf die Vitalkräfte des Grünen. Diese künstlerische Praxis in ihrer Einfachheit ist die Ästhetik der Reduktion. Eine Meditation über Blätter ist ebenso unspektakulär wie transformativ.

Die Logik der Moderne, mit ihrer Folge von Brüchen, Innovationen, Negationen und Erweiterungen, kommt an ihre Grenze angesichts der Begrenztheit der irdischen Natur. Die „Modernisierungsfront“ verliert ihre Legitimation, denn die Selbstvernichtung droht. Die Wüste wächst. Wir sind, wie die anderen lebenden Wesen, in erster Linie Bewohner der Biosphäre mit ihren Gesetzen; wir sind dafür verantwortlich, dass das Plündern aufhört. Ebenso, wie der Planet für uns begrenzt ist, ist die Erweiterungsdynamik des kreativen Ichs in der Außenwelt begrenzt. Die technokratisch-ökonomische Übernutzung der Natur kommt zur Ruhe in der Bleistiftzeichnung.

Naturzeichnen im Sinne einer reduktiven Ästhetik ist ein integrativer Teil der ökologischen Transformation. In Anlehnung an Duchamp muss ich zudem sagen, dass ich am Denken interessiert bin und nicht nur an visuellen Produkten. Die Erscheinung ruft die Frage nach dem Wesen auf. Das Sinnliche und das Intelligible ergänzen sich, sind komplementär: Zeichnungen sind Einladungen zum Nachdenken über die Natur und über unser Verhältnis zu ihr. In der Wahrnehmung verwandeln wir das Gesehene in Gedanken. Was ist Leben, warum wuchert es überall? Viele naturphilosophische Konzepte geben Antworten auf diese Fragen, bei dem Vorsokratiker Heraklit ist es das „Feuer“, das das Sein in die Erscheinung treibt, bei Aristoteles die „Seele, bei Schopenhauer der „Wille“. Heute sind metaphysische Ideen abgeschafft. Jetzt ist die Evolution die „Akteurin“; für mich als Künstler jedoch ist das naturwissenschaftliche Erklärungsmodell unbefriedigend, denn die Ursache für das Leben, das ich dort sehe im Gebüsch, nennt es mir nicht.