14.07.19

"Seid Menschen in Gottes Gegenwart"

Heimatvertriebene wallfahren zur "Böhmischen Madonna" nach Maria Einsiedel


Bereits zum 86. Mal trafen sich Heimatvertriebene seit ihrer Vertreibung aus der Heimat mit einer Fahnenabordnung der Egerländer Gmoi z`Kelsterbach bei "Kaiserwetter" unter alten Lindenbäumen am Gnadenort Maria Einsiedel bei Gernsheim. Besonders Heimatvertriebene aus dem Sudetenland waren es, die kurz nach ihrer Ankunft in Südhessen diesen Wallfahrtsort im hessischen Ried zu "Ihrem" Wallfahrtsort auserwählten, um ihre Sorgen und Ängste der Gottesmutter anzuvertrauen und sich dabei Beistand und Hilfe in ihren Anliegen erhofften. Dies wird auch auf einer Tafel am Vertriebenenkreuz nahe der Einsiedler Kapelle, einem alten Friedhofskreuz aus Nordböhmen, sichtbar, wo es heißt: "Wohin soll ich mich wenden, wenn Gram und Schmerz mich drücken . . . .".

In ihrer sudetendeutschen Heimat erlebten diese Menschen von Kindesbeinen an die Tage der alljährlichen Wallfahrten zu den zahlreichen Wallfahrtsorten, die vor allem der Mutter Gottes und ihrer Mutter Anna geweiht waren. So ist in den vier Bänden "Sudetenland - Marianisches Land" der ehemaligen Ostdeutschen Akademie Königstein im Taunus aus dem Jahre 1954 zu lesen: "Unsere alte Heimat, das unvergessliche Sudetenland, besaß viele Marienheiligtümer. Einem leuchtenden Sternenkranze gleich umrahmten sie unser schönes Land. Große, leuchtende Sterne waren es, die weit über die Grenzen des Landes hinausstrahlten und unzählige kleine, über Berg und Tal verstreut, dazu die unzähligen Kirchen und Kapellen, die den Namen und das Bild der Himmelskönigin trugen."

In diesem Jahr konnte von den Verantwortlichen der Wallfahrt Domkapitular Prälat Dr. Peter Hilger von der Diözese Mainz als Hauptzelebrant für den Wallfahrtsgottesdienst gewonnen werden. "Diese Stätte, diese Kapelle ist Ort der Gegenwart Gottes und damit auch Ort der Lebensgegenwart vor Gott. Hier stehen wir im "Heute", hier stehen wir "nicht von Gestern". Gerade das sagt uns ja Maria: Lebt nicht im Gestern, hadert nicht mit Vergangenem, trauert nichts nach! Lebt im Heute, in der Gegenwart Gottes! - Schon bald nach dem Zweiten Weltkrieg kamen zahlreiche Christen, die ihre Heimat im Osten verloren hatten. Viele von ihnen sind schon in der zweiten, dritten und vierten Generation hier. Für die Menschen, die damals Flucht und Vertreibung erlebt hatten, bedeutete dies, eine neue Umgebung, eine neue Heimat annehmen, erlittenes Leid, schlimme Traumatisierungen verkraften, oft unverstanden sein, neu anfangen müssen. Der damalige Mainzer Bischof Albert Stohr gab geradezu geistesgegenwärtig vielen tausenden Heimatvertriebenen eine neue kirchliche Heimat in unserem Bistum durch Gründung von Gemeinden, durch den Bau von Kirchen und Einrichtungen. Die Heimatvertriebenen brachten einen tiefen und festen Glauben mit. Es kamen heimatlose Vertriebene - sie wurden zu lebendigen Steinen", so Domkapitular Dr. Hilger in seiner Festpredigt.

Eine ganz besondere Ehre wurde dem Gernsheimer Seelsorger Pfarrer Heinrich Bosse zuteil, als Helmut Brandl vom Bund der Vertriebenen - Kreisverband Groß-Gerau und der Kreisgruppe der Sudetendeutschen Landsmannschaft Groß-Gerau nach dem Festgottesdienst das Wort ergriff: "Wir wollen heute einmal Dank sagen für die Möglichkeit, uns immer wieder hier am Gnadenort, auch am Standort der "Böhmischen Madonna", zu treffen. Deshalb wollen wir den Tag heute nutzen, um Pfarrer Heinrich Bosse mit der Verdienstmedaille der Sudetendeutschen Landsmannschaft zu ehren. Das verbinden wir gleichzeitig mit Dank und Anerkennung für die Treue zu unseren Anliegen. Dies tun wir im Auftrag des Volksgruppensprechers Bernd Posselt, der Ihnen lieber Herr Pfarrer Bosse auf diesem Weg die herzlichsten Grüße übermitteln möchte."

Nach dem plötzlichen Tod des unvergesslichen Heimatvertriebenenseelsorgers Wolfgang Stingl im Dezember 2015 und die eingetretene Haltung der Deutschen Bischofskonferenz, 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ihre überdiözesane Seelsorge für Heimatvertriebene und Aussiedler auslaufen zu lassen, sei der Wunsch entstanden, so Brandl, diese Glaubenstradition der vertriebenen Katholiken aus dem Sudetenland und aus Schlesien weiterleben zu lassen. Großen Anteil habe daran Pfarrer Heinrich Bosse, der seit 1998 den Seelsorgedienst am Ort der Gottesmutter verrichte. Er halte an den Wallfahrtstagen stets themenbezogene Predigten, die die Wallfahrer ebenso ergreifen wie sie aufmuntern. Pfarrer Bosse gestalte nicht nur die Wallfahrten, sondern gestalte seit einigen Jahren auch den Tag der Selbstbestimmung mit. Ihn begehen die Sudetendeutschen in Erinnerung an die ermordeten Mitmenschen, die am 4. März 1919 Selbstbestimmung für die Deutschen einforderten.