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Dieser Artikel erschien (stark gekürzt) in der Süddeutschen Zeitung am 16.09.2008. Hier ist die originale Version.

„Glückliche Sprachen“

Guy Deutscher

Wäre Tolstoi ein Sprachwissenschaftler gewesen, hätte er vielleicht gesagt: “Alle glücklichen Sprachen gleichen sich, jede unglückliche Sprache ist auf ihre eigene Art unglücklich.“ Doch eigentlich trifft Folgendes eher zu: Alle unglücklichen Sprachkritiker gleichen sich. Jeder glaubt, seine Sprache sei auf ihre besondere Art unglücklich. In der aktuellen Debatte um den Zustand der deutschen Sprache herrscht allerdings krasse Uneinigkeit darüber, welche die eigentlichen Gebrechen sind, unter denen diese nun leidet. Jürgen Trabant zufolge (SZ vom 22. August) leidet die Sprache heutzutage vor allem an dem überwältigenden Einfluss des Englischen. Laut Peter Eisenberg wiederum (SZ vom 3. Juli) komme die deutsche Sprache mit ihren Anglizismen eigentlich recht gut klar, nur leide sie schrecklich…an den eigenen Sprachkritikern. Deren ‘destruktiver Diskurs’ beschreibe ihre Zukunft so trostlos, dass man schon von jedem Verbesserungsversuch abgebracht werde. Vereint sind diese entgegengesetzten Ansichten immerhin in der Überzeugung, dass die deutsche Sprache, woran sie heutzutage auch immer krankt, darin unbedingt einen Sonderfall abgebe. Laut Trabant sind “der massive Einfluss des Englischen auf das Deutsche, die Anglisierung der Universitäten, der Statusverlust, der Rückzug des Deutschen aus prestigereichen Diskursen” allesamt die Folgen eines besonderen deutschen Traumas. Aus Scham über eine Sprache, die vor zwei Generationen über Europa hinweg „gebellt“ wurde, seien die deutschen Eliten nach dem Krieg schneller und folgsamer zum Englischen übergegangen als andere. Peter Eisenberg glaubt, dass die deutsche Sprache mehr als irgendeine andere unter der Grausamkeit ihrer Kritiker von innen leide: „Es dürfte wenige Sprachen auf der Erde geben, über die so schlecht geredet wird wie über die deutsche. Gut möglich, dass es gar keine gibt.“

Zwar bin ich nicht kompetent genug, um über die gegenwärtige Verfassung des Deutschen zu urteilen, aber im Fall dieser speziellen Debatte könnte ein Blick von außen erhellend sein. Die Deutschen scheinen eine schreckliche Angst vor der Normalität zu haben – sogar die Selbstdiagnose des „Klassenschlechtesten“ ziehen sie dem Eingeständnis vor, „ganz normal“ zu sein. Nur, in dieser Angst sind sie – Verzeihung! – ganz normal. Von außen betrachtet fällt nichts am gegenwärtigen Zustand des Deutschen besonders aus dem Rahmen: weder der Wandel, den es derzeit durchmacht, noch die Heftigkeit der Kritik an diesem Wandel. In meinem soeben auf Deutsch erschienenen Buch über die Evolution der Sprache versuche ich zu zeigen, dass die Entwicklungen, die wir in den heutigen Sprachen beobachten, von genau der gleichen Art sind, wie die Veränderungen, die alle Sprachen seit Jahrtausenden durchmachen. Genau genommen sind die Kräfte hinter dem heutigen Sprachwandel nicht von denen zu unterscheiden, die in grauer Vorzeit die kunstvollen Strukturen unserer Sprachen überhaupt erst geschaffen haben. Allein, mit fast der gleichen Beständigkeit, mit der sich die Sprache ändert, werden Veränderungen von gelehrten Autoritäten als schädlich, verkehrt und gefährlich verschrien. Wenn man sich nicht gerade wie Trabant über den bedrohlichen Einfluss fremder Sprachen beschwert, so wendet sich der Zorn auch gerne gegen schlampige Aussprache (“viele 17-Jährige betreiben das Sprechen wie ein Nebenprodukt des Gummikauens” - Wolf Schneider in der Zeit, 2005), oder gegen "Verkürzung, Vereinfachung, Vergröberung” (der Spiegel, 2006), und wenn nicht gegen Verkürzung, dann gegen Verlängerung und das Anschwellen aufgeblähter Superlative zu einem “Meer des Geschwätzes” (Schneider).

Bemerkenswert an solchen Beschwerden ist, wie sie sich über Jahrhunderte hinweg gleichen. Jürgen Trabant argumentiert leidenschaftlich, dass die heutigen Probleme des Deutschen beispiellos und auf das Trauma der „gebellten Sprache“ zurückzuführen sind. War also vor dem Krieg alles in bester Ordnung? Die Sprachkritiker der damaligen Zeit hätten hier Einwände erhoben. "Alles Mögliche gibt es (heute]", schreibt Kurt Tucholsky 1918, "nur keine anständigen richtigen deutschen Wörter. Sondern ein lallendes Gestammel wichtigtuerischer Journalisten und aufgeblähter Bürokraten." Und 1929 fügt er noch düsterer hinzu: "Es ist schon einmal besser gewesen: vor dem Kriege... Man blättere nach, und man wird von damals zu heute einen bösen Verfall der deutschen Sprache feststellen." Man blättere also nach. Beispielsweise in der Fackel aus der Zeit um die Jahrhundertwende; da beklagt sich Karl Kraus über "die Verpestung der deutschen Sprache durch die Tagespresse" (1907) und fordert "Strafbestimmungen gegen die öffentliche Unzucht, die mit der deutschen Sprache getrieben wird" (1903).

Nun ja, vielleicht hielten diese Sprachkritiker ihre Situation tatsächlich für düster, aber immerhin hatten sie nicht mit der destruktiven Überschwemmung von Anglizismen zu kämpfen! Wirklich? Im Jahre 1899 hatte der Allgemeine Deutsche Sprachverein Anlass zu der folgenden Erklärung gesehen: “Mit dem immer wachsenden Einfluss englischen Wesens mehrt sich neuerdings in bedenklicher Weise die Zahl der aus dem Englischen stammenden Fremdwörter. Auch in dieser Spracherscheinung treten die alten Erbfehler des deutschen Volkes wieder hervor: Überschätzung des Fremden, Mangel an Selbstgefühl, Missachtung der eigenen Sprache.“ Diese Erklärung war eine Reaktion auf eine Vorlesung von Hermann Dunger, der unter dem Titel „wider die Engländerei in der deutschen Sprache“ Hunderte von Beispielen junger Lehnwörter aus dem englischen versammelte, welche die Reinheit und den Charakter des Deutschen gefährdeten. Ärgerlich fand Dunger vor allem, dass diese Flut der Anglizismen so neu war. Nur wenige Generationen früher, meinte er, habe das Deutsche kaum englische Lehnwörter aufgewiesen.

Waren die Sprachhüter der früheren Generationen also zufriedener? Natürlich nicht. Ihnen missfiel bekanntermaßen der französische Einfluss, ebenso wie die um sich greifende Tendenz zur Vereinfachung, Verkürzung oder Verlängerung. In den 1850er Jahren sah Arthur Schopenhauer die edle deutsche Sprache vorangegangener Generationen „der Willkür und Laune und dem stupiden Unverstande höchst unwissender Sudler, Zeitungsschreiber, Buchhändlerlöhnlinge und geldbedürftiger Bücherfabrikanten jeder Art“ preisgegeben. Deutsch habe eine Sprachschändung zu erdulden, „zu der keine andre Nation ein Analogon aufzuweisen hat“. Und natürlich, schrieb er, war es schon einmal besser gewesen: kurz vor dem Ansturm der „seit einigen Jahren methodisch betriebenen Verhunzung der deutschen Sprache“. Wann das gewesen sein soll? Schopenhauer weiß es ganz genau: „Zur Zeit, als es noch gute Schriftsteller in Deutschland gab“, im goldenen Zeitalter Schillers und Goethes. Tatsächlich? Im Jahre 1819 – noch zu Goethes Lebzeiten – verglich Jacob Grimm das Deutsch seiner Tage mit der Sprache früherer Jahrhunderte, und er klagte: "Vor sechshundert Jahren hat jeder gemeine Bauer Vollkommenheiten und Feinheiten der deutschen Sprache gewußt, d.h. täglich ausgeübt, von denen sich die besten heutigen Sprachlehrer nichts mehr träumen lassen." Das gegenwärtige Deutsch ist also nicht mehr das, was es einmal war – aber das war es nun allerdings nie.

Haben all diese Veränderungen, und insbesondere der gewaltige Einfluss anderer Sprachen, dem Deutschen über die Epochen hinweg geschadet? Lassen Sie uns einen ehrwürdigen Zeugen zur Verteidigung rufen: die deutsche Sprache selbst. Wie lautet nochmal die Anklage? “Der massive Einfluss des Englischen auf das Deutsche, die Anglisierung der Universitäten, der Statusverlust, der Rückzug des Deutschen aus prestigereichen Diskursen”. Also wollen wir mal sehen: “Der massive (Entlehnung aus dem Frz., 17. Jh.) Einfluss (Lehnübersetzung aus Lat. influentia, 14. Jh.) des Englischen, die Anglisierung (Suffix „-isieren“ entlehnt aus der Infinitivform frz. Verben) der Universitäten (aus dem Lat., 14. Jh.), der Statusverlust (aus dem Lat., 16. Jh.), der Rückzug des Deutschen aus prestigereichen (aus dem Frz., 19. Jh.) Diskursen (aus dem Lat., 16. Jh.)”. Die gute Nachricht: die Artikel sind rein deutsch. (Artikel, aber hören wir damit auf.)

Weder der Sprachwandel, noch die Beanstandung desselben ist also neu. Jutta Limbach in der FAZ (24. April): “Es ist ein deutscher Aberglaube, zu meinen, dass man einem geschätzten Kulturgut am besten dient, wenn man seinen Zustand bejammert und seinen Verfall prophezeit”. In diesem Genre brillieren die Deutschen ganz ohne Frage. Aber ist dieser Aberglaube spezifisch deutsch? Gibt es wirklich so wenige Sprachen auf der Erde, über die so schlecht geredet wird wie über die deutsche?

Über die französische Sprachkritik haben wir bereits einiges von Jürgen Trabant erfahren. Nur so viel als Beispiel sprachlicher Selbst(ver)achtung: Laut Gaston Paris, einem der führenden französischen Sprachwissenschaftler des 19. Jh., wurde seine eigene Sprache schon in Schande geboren, weil sie von Anfang an tief im Morast des Verfalls steckte: das Französische war aus dem Vulgärlateinischen hervorgegangen, aus der Sprache der Massen, die „allmählich das richtige und instinktive Gefühl für die Gesetze der Sprache verloren hatten“, und infolgedessen war die neu entstandene Sprache „der Sprache, die ihr vorangegangen war, an Schönheit und Logik unterlegen“. Paris bezog sich auf die allgemein anerkannte Wahrheit, dass das Französische niemals der Schönheit seines klassischen lateinischen Vorfahren nahekommen würde, dessen höchster Gipfel der Reinheit im goldenen Zeitalter Ciceros erreicht worden war. Eine allgemein anerkannte Wahrheit? Nun ja, beinahe. Zumindest eine abweichende Stimme hätte es gegeben: Cicero war sich sicher, dass das Latein seiner Tage nicht mehr dasselbe war wie früher. Im Jahre 46 v. Chr. schaute er sehnsuchtsvoll auf das Latein des vorangegangenen Jahrhunderts und erklärte: „Aber es pflegten doch dazumal fast alle richtig zu reden. Doch hat der Gang der Zeit verschlechternden Einfluss gehabt.“

Heutzutage sind genau dieselben Klagen über die Flut der Anglizismen überall in Europa und darüber hinaus zu hören. Nur sind sich in jedem Land die Klageführer einig, dass ihre Sprache besonders gefährdet sei, mehr als andere Sprachen. Einer Sprache, so könnte man meinen, sollten diese Gefahren jedoch erspart bleiben: das Englische muss doch in einem besseren Zustand sein. Nach Ansicht englischer Sprachhüter leider nicht. Der bekannte BBC-Journalist und Sprachkritiker John Humphries hat in einem Buch über “Die Verstümmelung und Manipulation der englischen Sprache” (2004) behauptet, dass das englische Englisch heutzutage besonders gefährdet sei: durch seine Ähnlichkeit mit dem amerikanischen Englisch sei es besonders ungeschützt vor amerikanischem Einfluss: “es ist leichter, das englische Englisch zu beschädigen, als das französische Französisch”. Zumindest eine Sprache muss also glücklich sein: das amerikanische Englisch. Da haben die Kritiker bestimmt nichts zu beklagen. Glauben Sie? In Amerika fühlt man sich dagegen durch den massiven Einfluss des Spanischen bedroht und beschwert sich über das ‚Spanglish’ und die zunehmende Zweisprachigkeit.

In meinem Heimatland Israel malen die Sprachkritiker den gegenwärtigen Zustand des Hebräischen in Farben, die den Ton der deutschen Kritiker als blasses Grau erscheinen lassen. Niemand geringeres als Ehud Olmert, gerade noch Premierminister, erklärte vor nicht allzu langer Zeit, dass „die israelische Straße keinen Respekt vor Ihrer Sprache hat. Das heutige Hebräisch klingt wie Gestammel: arm, fehlerhaft, voll fremder Wörter und Ausdrücke, die den Ohren wehtun”. In der hebräischen Fassung meines Buches versuche ich zu erklären, dass die Veränderungen im Hebräischen – nicht nur der massive Einfluss fremder Lehnwörter, sondern auch Verkürzung, Verlängerung und so weiter – nichts anderes als normal sind, und dass sie den Wandlungsprozessen Dutzender anderer Sprachen gleichen. Auch bei intelligenten und gebildeten Gesprächspartnern treffen diese Feststellungen jedoch oft auf schockiertes Unverständnis. „Normal“? Wir?

Guy Deutscher, 16.9.2009