Armenisch Deutsche Korrespondenz

ADK 149 / Jg. 2010 / Heft 3

"Nicht ich bin der Mörder"

Der Prozess Talaat Pascha als szenische Lesung

Dichte Wirkung mit scheinbar einfachen Mitteln: Stepan Gantralyan, Birte Flint, Anja Haverland, Margot Binder, Tuncay Gary (v.l.)

VON RAFFI KANTIAN

Im Atelier von Jost Merscher in Hannover wurde am 5. und 6. Juni 2010 „Der Prozess Talaat Pascha“ gegeben. Das Publikum bestand mehrheitlich aus Deutschen, einige Armenier und Türken waren allerdings auch vertreten.

Unsere Leser kennen das Thema: Talaat Pascha, einer der Hauptverantwortlichen des Völkermords an den Armeniern 1915, wurde am 15. März 1921 in der Berliner Hardenbergstraße von Soghomon Tehlerian erschossen. Der Fall wurde am 2. und 3 Juni 1921 am Landgericht III zu Berlin verhandelt und endete mit dem Freispruch des Angeklagten. Noch im selben Jahr erschien der stenographische Bericht des Prozesses.

Warum dieses Projekt? Dazu Heinz Böke, zuständig für Projektleitung, Organisation und Konzepterstellung: Zum einen geht es um Aufklärung hierzulande, weil „in der deutschen Öffentlichkeit die Rolle und die politische Verantwortung des eigenen Landes bei dem ersten modernen Massenmord eines Staates an seinen Bürgern noch immer nicht hinreichend bekannt sind“. Aber Böke will mehr. Das Projekt soll mit einem interkulturellen Ansatz zur Völkerverständigung und Versöhnung beitragen. Für das Engagement spricht auch, dass das Projekt privat initiiert ist, ehrenamtlich geleitet und nichtkommerziell betrieben wird.

Grundlage der „szenischen Lesung“ bildete der stenographische Prozessbericht. Er ist neu zusammengesetzt und auf dasWesentliche konzentriert worden. Karten und Bildmaterial sowie eine Broschüre mit dem Text und historischen Hintergrundinformationen von Tessa Hofmann – sie hat das Projekt fachlich beraten und an der Konzeption mitgearbeitet - standen zur Verfügung.

Der Abend (5. Juni) fing mit einleitenden Worten von Jost Merscher zum historischen Hintergrund an, gefolgt vom bekannten armenischen Lied „Kilikia“, das Stephan Gantralyan, am Piano von Vincent Julien Piot begleitet, bewegend interpretierte.

Um es vorweg zu sagen: Die anschließende Vorstellung war sehr dicht und stark. Woran lag das? Fangen wir „Äußerlichkeiten“ an. Auf Dekoration – denkbar wäre die ansatzweise Nachbildung des Gerichtssaals – wurde verzichtet. Die Darsteller ihrerseits verzichteten auf historisierende Kostüme. Sie trugen entweder schwarze Hose und weißes Hemd (Schauspielerinnen) oder einen dunklen Anzug (Schauspieler). Offenbar sollten die Zuschauer nicht unnötig von den Fakten abgelenkt werden. Die Darsteller saßen seitlich an der Wand und standen erst dann auf, wenn sie dran waren. Sie nahmen ruhigen Schrittes ihren Platz auf der Bühne ein und lasen ihren Text vor. Sie gestikulierten nicht, auch wurden siedabei nicht laut, achteten penibel auf eine betont unemotionale sachliche Tonlage.

Dass sie nicht „schauspielerten“, unterstrichen sie zusätzlich dadurch, dass sie ihren Text nicht frei sprachen, sondern wie Chorsänger „vom Blatt“ lasen. So extrem von „unnötigem Beiwerk“ befreit, wirkten die Texte bei aller betonten, ja fast „aseptischen“ Sachlichkeit, auf die Zuschauer ungleich intensiver. Sie waren gezwungen, sich – ohne jede Ablenkung – noch mehr auf den Inhalt zu konzentrieren – und darin steckte sehr viel Dramatik und Emotion.

Zusätzlich zu dieser versteckten Emotionalität sorgten das überaus dramatische Eingangslied „Kilikia“, das die Zuschauer emotional auf das Kommende vorbereitete, und Vincent Julien Piots musikalische Einlagen – freie Variationen zu „Kilikia“und andere – für eine offen vorgetragene Emotionalität. Piots musikalische Interventionen“ sorgten dafür, dass der Bogen der emotionalen Spannung die ganze Zeit bestehen blieb.

Weitere Feinheiten erhöhten den Reiz der Vorstellung. So spielte der Armenier Gantralyan nicht etwa Tehlerian, sondern dessen Verteidiger, der Türke Tuncer Gary – zuständig für die Regie und den Gerichtsvorsitzenden, also zwei Schauspieler mit ausländischen Wurzeln spielten Rollen von Deutschen. Umgekehrt übernahmen die Schauspielerinnen den Part von Armeniern und auch von Deutschen. Margot Binder (Österreich) war Tehlerian durch das gesamte Stück hindurch, während Anja Haverland (Deutschland) und Birte Flint (Deutschland) unterschiedliche Rollen besetzten (männliche, weibliche, Deutsche, Armenier). Gerade darin lag der Reiz: Ein Armenier spielte einen deutschen Rechtsanwalt, eine Österreicherin spielte den armenischen Täter, ein Türke spielte den deutschen Gerichtsvorsitzenden usw. Damit brachen sie ihre durch die kulturelle Herkunft gesetzten Grenzen auf, trugen so zur Versöhnung bei.

Zum Schluss gab es Informationen über die Operation Nemesis und die völkerrechtlichen Auswirkungen des Prozesses („Genozidkonvention“ der UNO 1948). Eine Aussprache mit dem Publikum rundete den Abend ab. Es gab viel Applaus für dieses gelungene dokumentarische Theaterstück, für sein klar durchdachtes Konzept. Es heißt, bei den diesjährigen armenischen Kulturtagen soll es in Köln aufgeführt werden.

Nachtrag: Türkische Nationalisten hatten offenbar so ihre Probleme mit dem Stück und verteilten anschließend draußen Material mit ihrer Sicht der Dinge – alles sehr friedlich.

ADK 149 / Jg. 2010 / Heft 3