Besuch am späten Abend
Die Kirchturmuhr schlug zweimal. Es war zweiundzwanzig Uhr dreißig. Barfuß und im Nachthemd schlich Mina aus ihrem Zimmer über den dunklen Flur. Im Schein ihres Gelehrtenlichts konnte Mina alles sehen, wie bei Kerzenschein.
Vier Tage waren vergangen, seit sie das Licht von dem Gelehrten Dr. Jefimowitsch bekommen hatte. Anfangs hatte Mina es merkwürdig gefunden, Licht auszustrahlen. Mittlerweile hatte sie sich daran gewöhnt.
Am Treppenabsatz machte sie halt. Vorsichtshalber hatte sie den Spiegel der Meeresgöttin dabei, um sicher zu gehen, dass die Luft auch "rein" war.
Der kleine, runde Spiegel war zwar biegsam, trotzdem sah er wie ein gewöhnlicher Handspiegel aus. Kein Mensch würde je etwas anderes vermuten.
Mina hob ihn in Augenhöhe. Ihr Spiegelbild zeigte er klarer, als jeder andere Spiegel. Aber das war nebensächlich. In den Spiegel sehend dachte Mina an ihren Bruder. Es dauerte einen kurzen Moment, bis sich die Spiegeloberfläche, wie Wasser im Wind, zu kräuseln begann. Mina sah ihr Spiegelbild verschwimmen - dann hinabtauchen. An der Spiegeloberfläche erschien sogleich ihr Bruder. Mina konnte ihn sehen, als wäre er direkt vor ihr. Tim saß in seinem Zimmer am Schreibtisch und bastelte an seinem Modelflugzeug. Sobald würde er sein Zimmer nicht verlassen, dessen war sich Mina sicher.
Tim war jedoch nicht ihr einziges Problem. Das Bild von ihm verwischte, als Mina an ihre Eltern dachte. Erst verschwommen, dann überaus klar erschienen sie an der Spiegeloberfläche. Sie waren im Wohnzimmer. Mama Zinkgraf zupfte die welken Blätter von den Topfrosen. Papa Zinkgraf saß auf der Couch mit seinem Laptop auf den Knien.
Mina nahm den Spiegel herunter und atmete tief durch. Die Lippen fest aufeinander gepresst schlich sie die Treppe hinunter. Die Tür zum Wohnzimmer stand einen Spaltbreit offen. Auf Zehenspitzen eilte Mina vorbei.
In der Küche zog sie die unterste Schrankschublade auf. Sie steckte ihre Hand hinein und tastete zwischen den darin liegenden Tischdecken herum. Da lag sie - die Steinschleuder.
Den ganzen Tag lang hatte Mina gegrübelt, ob ihr Plan richtig war. Es ist falsch mit Steinen zu schießen, auch wenn es die Situation erfordert, meldete sich auch jetzt wieder ihr Gewissen.
"Nur für den Notfall", flüsterte Mina.
Sie nahm die Steinschleuder heraus und schob die Schublade zu als plötzlich Schritte erklangen. Schnell huschte Mina hinter die Tür.
Das Küchenlicht ging an. Mama Zingraf trat zum Abfalleimer und warf die welken Blätter hinein.
"Möchtest du ein Stück Apfelkuchen?", rief sie.
"Gerne", antwortete Papa Zinkgraf aus dem Wohnzimmer.
Teller klapperten. Die Kühlschranktür klickte auf und zu.
Mina hielt die Steinschleuder fest umklammert. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals.
Zwei Minuten später erlosch die Neonröhre. Mama Zinkgraf kehrte ins Wohnzimmer zurück.
Mina eilte aus der Küche, über den Flur und die Treppe hinauf.
Zurück in ihrem Zimmer atmete sie erleichtert auf.
"Das war ganz schön knapp, Tjarko", keuchte sie.
Der kleine Riesenschnauzer blickte vom Bettvorleger auf. Vor seinen Pfoten lag ihr Filzpantoffel - nass und zernagt.
Mina sah den kleinen Hund von hellem Licht umschienen. Seit sie das Gelehrtenlicht besaß, sah sie um alle Licht.
Die letzten Tage hatte sie damit verbracht, das Licht der anderen genau zu betrachten. Viel Licht zu haben, war überaus gut. Denn das Licht bewirkte, dass man sich glücklich und ausgeglichen fühlte.
Ihre Eltern, Tim sowie die meisten Nachbarn konnten sich glücklich schätzen. Sie waren reich an Licht. Es gab aber auch welche in der Nachbarschaft die nur mäßig leuchteten. Eine darunter, Frau Uhlschnauber nämlich, hatte Mina sehr genau unter die Lupe genommen.
Das Fenster stand weit offen. Warmer Wind und das Zirpen der Grillen drangen herein. Mina schaute hinaus, zum Haus schräg gegenüber. Dort wohnte Frau Uhlschnauber. Oben auf der Fensterbank stand, wie gestern und vorgestern Abend auch schon, eine wassergefüllte Glasschüssel.
"Tjarko, ich schwör dir, die spritzt zum letzten Mal Katzen nass", raunte Mina.
Sie zog die Nachttischschublade auf, nahm die Steine heraus, welche sie am Nachmittag im Garten gesammelt hatte und legte sie auf die Fensterbank. Danach schob sie die Spieltruhe vor das Fenster und setzte sich oben auf den Deckel.
Ein Auto fuhr vorbei. Nach einer Weile noch eins. Die Kirchturmuhr schlug dreimal. Weder eine Katze noch Frau Uhlschnauber ließen sich blicken.
Mina hob den Spiegel in Augenhöhe, um nach Frau Uhlschnauber zu sehen, da hörte sie draußen eine Tür knarren. Vorsichtig beugte sie sich über die Fensterbank.
"Raus mit dir, Hänsel", ertönte Frau Kleinschmieds Stimme. "Und bring mir keine Maus mit, hörst du?"
Die Haustür knarrte zu.
Mina sah den hell leuchtenden Kater aus dem Vorgarten flitzen. Auf leisen Sohlen streifte er um die parkenden Autos herum.
Im nächsten Moment erschien auch schon Frau Uhlschnauber an ihrem Fenster. Die grauen Haare auf Lockenwickler gedreht, schaute sie zur Straße hinunter.
Im Gegensatz zu Mina erblickte Frau Uhlschnauber Hänsel erst im Schein der Straßenlaterne.
"Pss-pss-pss-pss. Na, komm", lockte sie mit sogleich honigsüßer Stimme. "Pss-pss-pss-pss."
Hänsel blieb stehen - starrte zu ihr hoch.
Frau Uhlschnauber legte ihre Hände an die Glasschüssel. "Pss-pss-pss-pss."
Mina verfolgte alles mit schmalen Augen.
Hänsel fiel kein zweites Mal auf Frau Uhlschnauber herein. Er rannte weg. Einige Häuser weiter sah Mina ihn in einem Vorgarten verschwinden.
Sichtlich enttäuscht ließ Frau Uhlschnauber von der Glasschüssel ab.
Mina starrte zu ihr hinüber. Frau Uhlschnauber starrte auf die Straße hinunter. Eine Weile lang passierte nichts. Bis plötzlich eine buschige Katze angelaufen kam.
Mit "pss-pss-pss-pss", lockte Frau Uhlschnauber sie an.
Die Katze blieb stehen und starrte zu ihr hoch.
"Pss-pss-pss-pss. Na, komm", rief Frau Uhlschnauber mit hoch verstellter Stimme.
Die Katze sprang über die niedrige Mauer, die den Vorgarten abgrenzte.
Frau Uhlschnauber hoch die Glasschale aus dem Fenster. "Pss-pss-pss-pss. Miez-miez-miez. Pss-pss-pss-pss."
"Na warte", zischte Mina.
Schnell legte sie den Spiegel auf die Fensterbank. Sie griff nach einem Stein, spannte ihn in das Gummi der Steinschleuder, zielte hoch, über Frau Uhlschnaubers Kopf und - Schuss. Der Stein prallte hörbar gegen die Hauswand.
Laut schreiend ließ Frau Uhlschnauber die Glasschüssel fallen. Scherben klirrten. Die Katzte jagte davon.
Mina hätte vor Freude in die Luft springen können. Um von Frau Uhlschnauber nicht entdeckt zu werden, lehnte sie sich jedoch rasch zurück. Ein untrügliches Gefühl, jemand stünde hinter ihr, schreckte sie sogleich herum. Tatsächlich!
"Omi!" Mina presste die Hand aufs Herz. "Meine Güte hast du mich erschreckt."
Oma Zinkgraf, von hellem Licht umschienen, stand in der Ecke. Sie trug ein geblümtes Kleid und Gummistiefel. Vor fünf Monaten war sie gestorben; eingeschlafen in ihrem Sessel und nicht wieder aufgewacht. Sie war ein Geist oder anders ausgedrückt ein Ny.
Dass Mina ihre verstorbene Großmutter ganz normal sehen konnte, verdankte sie dem Gelehrtenlicht.
"Was in aller Welt." Das liebe Gesicht der kleinen, runden Frau war puderrot.
Eiligst kam sie auf Mina zu. Unmittelbar vor ihr, blieb sie stehen und stemmte die Hände in die Hüften.
"Du schießt Steine auf alte Menschen? Du wirst zwölf Jahre alt. Schäm dich, Mina! Ich hab dich für reifer gehalten", schimpfte sie.
"Omi, weißt die was die machen wollte?" Mina versuchte leise zu sprechen. Weder Frau Uhlschnauber noch Tim, dessen Zimmer gleich nebenan war, sollten sie hören. "Die lockt Katzen in ihren Vorgarten und spritzt sie dann nass."
"Himmel, Kind, was redest du da?" Oma Zinkgraf schüttelte den Kopf.
"Denkst du ich lüg dich an?"
"Das wäre nicht das erste Mal."
"Aber es stimmt. Ich schwörs."
Mina zeigte aus dem Fenster. Frau Uhlschnauber starrte in ihren Vorgarten hinunter und beweinte die zerbrochene Glasschüssel.
"Gestern wäre Hänsel ihretwegen beinahe überfahren worden."
"Selbst wenn, gibt die das lange kein Recht, die Frau mit Steinen zu beschießen", entgegnete Oma Zinkgraf.
"Das hab ich auch nicht. Ich hab gegen die Hauswand geschossen."
"Du hättest die Frau treffen können, Mina."
Nebenan knarrte die Haustür.
Frau Kleinschmied, die Frau Uhlschnaubers Schrei gehört hatte, kam aus dem Haus gelaufen und fragte, was los sei.
"Kümmern Sie sich um Ihren eigenen Dreck", wetterte Frau Uhlschnauber. "Und ich warne Sie zum letzten Mal! Passen Sie auf Ihren Dreckskater auf. Der lungert ständig in meinem Vorgarten herum."
Oma Zinkgraf hob die Augenbrauen.
...