November 1, 2020

Asien-Pazifik ist das Vorbild in der Pandemiebekämpfung. Wann fangen wir an, es ernst zu nehmen?

„Wir müssen lernen mit diesem Virus zu leben,“ schallt es einem seit Monaten entgegen. Das ist als globale, langfristige Aussage sicher richtig. Falls es jedoch so gemeint ist, das die großflächige Ausbreitung von Sars-Cov-2 in der Bevölkerung nicht zu verhindern sei, so ist dies nachweislich falsch. Während Österreich und Europa in die zweite Welle der Pandemie taumeln, lebt es sich in vielen Gesellschaften Ost- und Südostasiens und des pazifischen Raums ganz gut ohne das Virus.

Auf Taiwan gab es seit nunmehr über 200 Tagen keine einzige dokumentierte heimische Übertragung. Sportereignisse finden vor vollen Stadien statt, das öffentliche Leben läuft mit wenigen Einschränkungen normal und die Wirtschaft wuchs im ersten Halbjahr 2020 mit knapp 1 Prozent. Und auch wenn immer wieder kleinere Ausbrüche gibt, sind auch in Festland-China, Hongkong, Japan, der Mongolei, Kambodscha, Neuseeland, Südkorea, Thailand und Vietnam die Neuinfektionen auf niedrigstem Niveau. Auch Australien hat einen Ausbruch in Viktoria wieder eingefangen können und verzeichnete am 5. November 2020 11 COVID-19 Infektionen (im ganzen Land!). Existieren diese Gesellschaften auf einem anderen Planeten? Oder gibt es aus der Region Erkenntnisse, die auch für uns relevant sind?

7-Tage Inzidenz an Covid-19 Neuinfektionen pro Millionen Einwohner in Österreich, der EU und ausgewählten Ländern/Regionen in Asien-Pazifik (Quelle: ourworldindata.org)

Man könnte einwenden, Maßnahmen die in asiatischen Kulturen vertretbar sind, wären in Europa nicht durchsetzbar. Dagegen sprechen die positiven Beispiele aus Neuseeland und Australien. Ein weiterer Einwand ist die Insellage vieler dieser Gesellschaften. Nur trifft dies auf China, Kambodscha, die Mongolei, Thailand und Vietnam offensichtlich nicht zu. Auch am politischen System und den wirtschaftlichen Ressourcen scheint es nicht zu liegen. Das Spektrum reicht von  Einparteien-Regimen bis hin zu etablierten Demokratien und umfasst sowohl Entwicklungsländer als auch Industriestaaten.

Angesichts dieses beeindruckenden Erfolges wäre zu erwarten, dass Ostasien und die pazifische Region im Fokus der Aufmerksamkeit stehen. Im öffentlichen Diskurs findet die Region jedoch so gut wie nicht statt. Stattdessen verbrachte man in Europa einen Sommer damit, das „schwedische Modell“ mit seiner zumindest fragwürdigen Bilanz rauf und runter zu diskutieren. Es ist höchste Zeit, dass wir diese Nabelschau beenden und uns in der Bekämpfung der Pandemie an den weltweit erfolgreichsten Modellen orientieren.

Auch wenn es in der Region Asien-Pazifik eine breite Palette an Maßnahmen gibt, so fallen doch Gemeinsamkeiten auf. Erstens ging man in diesen Gesellschaften nicht – wie hierzulande – davon aus, dass die Verbreitung des Virus nicht zu verhindern sei. Mit den partiellen Ausnahmen Südkoreas und Japans war und ist es dort das Ziel, die Infektionen soweit wie möglich auf null zu reduzieren. Zweitens überwachen alle ihre Außengrenzen rigide und beschränken internationale Reisen weitgehend auf Geschäftstätigkeit. So werden in der international vernetzten Metropole Hongkong alle ankommenden Reisenden intensiv befragt, auf COVID-19 getestet und müssen dann eine 14-tägige Quarantäne ableisten. Diese wird mit Hilfe einer App, einem elektronischen Armband und Stichproben kontrolliert.

In Europa dagegen galt und gilt die Prämisse, die Verbreitung des Virus lasse sich nicht stoppen, nur verlangsamen. So verkündete die deutsche Bundeskanzlerin Anfang März, dass sich 60-70 Prozent der Bevölkerung infizieren würden. Angesichts der Situation in Ostasien darf man sich fragen, ob man sich nicht eine selbst-erfüllende Prophezeiung eingeredet hat. Auch eine engmaschige Überwachung des Grenzverkehrs hat man nach der Wiederöffnung der EU-Binnengrenzen nicht ernsthaft versucht. Als ich kürzlich per Nachtzug von Wien nach Hamburg fuhr, konnte ich bei Ankunft einfach so aus dem Bahnhof spazieren. Niemand wollte meinen Covid-Test sehen, obwohl der für die Einreise bereits vorgeschrieben war. Ich musste noch nicht einmal ein Formular ausfüllen.

Inzwischen sind wir in der unschönen Lage, dass das Virus schon in alle Winkel der Gesellschaft vorgedrungen und nicht mehr durch lokale Maßnahmen einzudämmen ist. Und sicherlich ist Europa mit seinen offenen Grenzen und eng verzahnten Volkswirtschaften anders als Asien-Pazifik. Jedoch stehen uns inzwischen Mittel zur Verfügung, die neue Wege der Pandemie-Bekämpfung ermöglichen. Auch wenn man nicht alle grenzüberschreitenden ArbeitnehmerInnen in 14-Tage Quarantäne schicken kann, könnten wir nicht mit Antigen-Schnelltests zumindest einen Großteil der derzeit infektiösen Reisenden abfangen? Sollten wir vielleicht auch hier über eine andere Zielvorgabe als eine vage „Senkung der Fallzahlen“ nachdenken? In der Slowakei hat man sich entschieden, Neues zu versuchen. Mit Schnelltests wurde erstmals außerhalb Chinas die ganze Bevölkerung durchgetestet. Das Resultat dieses Experiments bleibt abzuwarten.

Vielleicht ist eine Virus-Eliminierungsstrategie in Europa ja tatsächlich nicht (mehr) umsetzbar. Vielleicht wären die Kosten dafür zu hoch. Aber sollten wir angesichts der potenziell desaströsen Alternativen nicht zumindest darüber reden? Was ist eigentlich der Plan, wenn es mit einem effektiven Impfstoff nächstes Jahr doch nichts wird? [1] Bleibt uns dann nur die Wahl zwischen einem kollabierenden Gesundheitssystem oder regelmäßigen Lockdowns und einer kollabierenden Wirtschaft?  Sicher ist, der pazifische Raum macht uns vor, dass ein anderer, erfolgreicherer Umgang mit der Pandemie möglich ist. Deshalb muss man sich dort auch nicht mit den schmerzhaften Nebenwirkungen von Maßnahmen herumschlagen, die man braucht, wenn man schon die Kontrolle verloren hat.  Wann fangen wir an, diese Erfahrung ernst zu nehmen?

[1] Inzwischen sieht es durch die Zwischenergebnisse der Pfizer/BioNTech Phase 3 Studie zumindest etwas besser aus.