Eine gute Verwaltung ist alles

Jeder kennt das Roeder-Institut, wenn auch manchmal unter einem anderen Namen. Jeder sollte diese wundervolle Kurzgeschichte von Horst Eisenlohr kennen. 

Originaltext: 

Das Roeder-Institut oder 

... eine gute Verwaltung ist alles 

von H. Eisenlohr

gefunden auf http://storch.0catch.com/verwaltung.htm, veröffentlicht als "Das Roeder Institut, Wiener Journal 6, 1982".


Ich selbst hatte dem Roeder-Institut Mitte der fünfziger Jahre eine Zeit lang als wissenschaftlicher Assistent angehört, ging dann aber, besserer beruflicher Aussichten wegen, ins Ausland. Angehörige des Roeder-Instituts waren damals überall in der zivilisierten Welt, zufolge seines überragenden wissenschaftlichen Rufes, gefragt und erhielten verlockende Angebote in der Forschung und in Industrielaboratorien. Über mehrere Jahre blieb ich in enger Verbindung zu einigen meiner ehemaligen Kollegen und Chefs. Nach und nach aber wurde der wissenschaftliche Konnex loser und brach schließlich ganz ab. Mehrere Mitarbeiter des Roeder-Instituts waren ebenfalls abgewandert, und es schien mir, daß deren Nachfolger an einer Weiterführung desjenigen Zweiges der Grundlagenforschung, dessen Entwicklung den weltweiten Ruf des Instituts begründet hatte, aus mir unerklärlichen Gründen nicht mehr interessiert waren. So verlor ich also das Schicksal und Wirken meines ehemaligen Instituts mehr und mehr aus den Augen, aber doch nicht völlig. Einmal im Jahr, wenn in unserer Bibliothek das neue Jahrbuch wissenschaftlicher Einrichtungen eintraf, suchte ich die betreffenden Eintragungen über das Roeder-Institut auf und las nach, wer die am Institut tätigen Wissenschaftler waren und welche bedeutenderen Arbeiten vom Institut veröffentlicht wurden. Unschwer war festzustellen, daß das einst so berühmte Institut seine wissenschaftliche Bedeutung verloren hatte. Bei zunächst über die Jahre wachsendem Budget nahm die Anzahl der wissenschaftlichen Kräfte ständig ab; Arbeiten von einiger Bedeutung wurden nicht mehr veröffentlicht. Mit Sorge sah ich dem Zeitpunkt entgegen, wo das Roeder- Institut im Jahrbuch gar nicht mehr erwähnt werden würde. Dieses nun ereignete sich in diesem Jahr. 

Das unrühmliche Dahinscheiden des Roeder-Instituts mußte seine Gründe haben, und ich wollte und mußte sie erfahren. Die Gelegenheit hierzu ergab sich im heurigen Frühjahr. Die Organisatoren einer wissenschaftlichen Konferenz, an welcher aktiv teilzunehmen ich verpflichtet war, hatten die Hauptstadt meines Heimatlandes als Tagungsort gewählt. Ich nahm mir vor, diese Gelegenheit zu einem Besuch des unweit gelegenen Roeder-Instituts zu benutzen. 

Ich sah diesem Besuch mit Spannung entgegen. Aus naheliegenden Gründen hatte ich mir das Institutsgebäude mit teilweise geschlossenen Fensterläden und mit grauer, abbröckelnder Fassade vorgestellt. Ich war daher freudig überrascht, als ich nicht nur das alte Gebäude in neuem Verputz, sondern daneben ein neues, modernes, etwa zehngeschossiges Institutsgebäude erblickte, beide erstrahlend im betriebsam bläulichen Licht der Neonröhren. Der Parkplatz, früher mit Fahrrädern und Kleinwagen dürftig besetzt, schien völlig belegt, und zwar mit meist großen, teuren Limousinen. In großen, silbernen Buchstaben, auch dies eine Neuheit, prangte über dem Eingang der Name Roeder-INSTITUT. Der Eingang selbst, früher von einem hemdärmeligen Hausmeister mehr beobachtet als bewacht, war jetzt von zwei niedrigen, von uniformierten Wachbeamten besetzten Glashäusern flankiert. Man gab mir ein Anmeldeformular, in das ich meinen Namen, die Nummer meines Reisepasses, Datum, Zeit und den Namen des zu Besuchenden einzutragen hatte. Letzteres brachte mich in einige Verlegenheit, denn die Namen einiger meiner ehemaligen Kollegen waren dem Wachebeamten unbekannt. Schließlich aber rettete mich die Erinnerung an den Leiter der Bibliothek des Instituts aus meiner Verlegenheit. Herr B. war noch immer im Amt, und so trug ich seinen Namen in das Formular ein. Der Wachebeamte versah dies nun mit einem Stempel, zeichnete ab und begleitete mich in die Rezeption des Instituts. Ich will die Prozedur, die sich während der nun folgenden halben Stunde abspielte, nicht im einzelnen beschreiben. Es genüge zu berichten, daß meine Eintragungen im Anmeldeformular von einer der ein gutes Dutzend zählenden Damen dieses Büros auf eine Computerkarte übertragen wurde, von welcher dann gut zwanzig Kopien hergestellt wurden; zwei davon wurden mir ausgehändigt mit der Weisung, jeweils eine im Vorzimmer des Oberbibliothekars und beim Verlassen des Instituts beim Wachbeamtem abzugeben. Du lieber Gott, dachte ich, jetzt verstehe ich, warum das alte Roeder-Institut aus den wissenschaftlichen Annalen gestrichen wurde; ganz offenbar hat man es zu einem Forschungslaboratorium mit geheimen Aufgaben für die Landesverteidigung umfunktioniert, und im selben Augenblick bereute ich, hierhergekommen zu sein. Aber ich sollte mich getäuscht haben. Wenig später nämlich, in der vertrauten Umgebung der Institutsbibliothek, berichtete mir der über meinen unerwarteten Besuch sichtlich erfreute Bibliothekar B. in großen Zügen, wie es zu der bemerkenswerten Veränderung des Instituts gekommen war. 

Nach dem unerwarteten Tod des vormaligen Institutsleiters, Professor W., der dem wissenschaftlichen Ruf des Instituts Weltgeltung verschafft hatte, so begann B. seinen Bericht, übernahm dessen erster Assistent, ein junger, begabter und sehr ambitionierter Wissenschaftler, die Leitung des Instituts. Anfänglich ging alles seinen gewohnten Gang. Aber bald begann der neue Direktor die Last der ungewohnten Doppelfunktion als wissenschaftlicher und administrativer Leiter des Instituts schmerzlich zu fühlen. Immer weniger Zeit, so klagte er gelegentlich, bliebe ihm für seine eigentlichen wissenschaftlichen Interessen. Zwei Jahre nach seinem Amtsantritt wandte er sich deshalb an das zuständige Ministerium mit der Bitte, ihm einen zweiten Direktor zur Wahrnehmung der administrativen Aufgaben beizugesellen. Seinem Wunsch wurde entsprochen, der neue Direktor kam und entpuppte sich als wahres Organisationsgenie. Es sei ihm völlig schleierhaft, so sagte er bei einer von ihm schon wenige Tage nach seiner Amtsübernahme einberufenen Besprechung aller Gruppenleiter, es sei ihm völlig schleierhaft, wie der Institutsbetrieb in den vergangenen Jahren habe funktionieren können ohne die primitivsten administrativen Einrichtungen. So sei doch, um gleich ein sehr krasses Beispiel zu erwähnen, ein moderner Institutsbetrieb ohne die Assistenz einer zentralen Registratur für die ein und auslaufende Korrespondenz gar nicht mehr denkbar. Die Zeit hochspezialisierter Wissenschaftler sei doch viel zu kostbar, um sie mit nebensächlichen Arbeiten wie Korrespondenz mit Firmen, Beschaffung von Labor und Büromaterial, das Anlegen von Karteien etc. etc. zu vergeuden. Die modernsten Methoden der Verwaltung und Bürotechnik seien für unser Institut gerade gut genug, insbesondere im Hinblick auf die internationale Konkurrenz auf allen Gebieten der Wissenschaft. 

Dies war also vor zehn Jahren, fuhr B. fort, und anfänglich schienen uns manche der administrativen Neuerungen gar nicht so unvernünftig, wenngleich die Mehrzahl der Wissenschaftler den Vorschlägen des neuen Direktors eher skeptisch gegenüberstand. Aber die Zeit war seinen Plänen günstig, die Staatskasse war voll, und die Forschungsinstitute wurden großzügig unterstützt. Zunächst wurden die zentrale Registratur, ein Computer für personale Datenverarbeitung eingerichtet und diverse administrative Hilfskräfte eingestellt. Dem neuen Direktor der Administration standen alsbald kompetente Sachbearbeiter für das Finanzwesen, den Einkauf, die Hausverwaltung, für die Gehaltsabrechnungen und für die soziale Wohlfahrt der Angestellten zur Seite. Doch es zeigte sich nur zu bald, daß jeweils ein einzelner Sachbearbeiter die Flut der anfallenden Arbeiten nicht allein bewältigen konnte. Insbesondere im Krankheits und Urlaubsfalle kam es zu bösen Stockungen im Betrieb, beispielsweise wenn sich bei längerer Abwesenheit des für den Einkauf zuständigen Beamten die Beschaffung eines wichtigen Geräts oder aber auch von Büromaterial übermäßig verzögerte. So erwies es sich denn bald als unumgänglich notwendig, die Schlüsselstellen der Verwaltung doppelt zu besetzen. Diese Doppelbesetzung brachte es indessen mit sich, daß manche dieser Leute zu gewissen Zeiten arbeitsmäßig nicht voll ausgelastet waren. In der wohlmeinenden Absicht, sich dem Institut auch in solchen Zeiten nützlich zu erweisen und wohl auch ein wenig in dem Bestreben, ihre Existenzberechtigung in Evidenz zu halten, begannen einige von ihnen, Formulare und Fragebögen zur Vereinheitlichung gewisser interner Vorgänge zu entwerfen und ihre obligate Verwendung durch den administrativen Direktor sanktionieren zu lassen. Bald gab es keinen tatsächlichen oder denkbaren internen Vorgang mehr, welcher nicht mittels solcher Formulare eingeleitet wurde. War er aber einmal auf diese Weise förmlich eingeleitet, d. h. mit Eingangsstempel versehen, vom jeweiligen Sachbearbeiter ab und von seinem Bürovorstand gegengezeichnet, dann war eine verläßliche, wenn auch überaus langsame Maschinerie in Gang gesetzt, die nur den einen Nachteil hatte, daß etwaige Änderungen von Terminen oder von Gerätespezifikationen, wie sie nun einem in wissenschaftlichen Institutionen vorkommen können, eines so komplizierten Eingriffs in den bis ins Einzelne geregelten bürokratischen Ablauf bedurften, daß sie unbedingt zu vermeiden waren. Merkblätter wurden entworfen, genehmigt und vervielfältigt, um den Antragstellern das korrekte Ausfüllen dieser Formulare zu erleichtern. 

Um Fehlleitungen beim inzwischen stark angeschwollenen internen Aktenverkehr auszuschließen und Bürobezeichnungen auch dem Hauscomputer verständlich zu machen, wurde eine Koordinierungsbüro geschaffen, dessen Direktor sich die Bezeichnung DIRKOO zulegte. Diesem Beispiel folgend, wurden auch alle übrigen, zwar verständlichen aber unmodernen Bürobezeichnungen durch sinnvolle, neutrale Abkürzungen aus der Computersprache ersetzt. So wurde beispielsweise das Büro des Leiters der wissenschaftlichen Gruppe Oxidforschung in LEITOX umbenannt. DIRKOO, heute wohl der wichtigste Mann im Hause, ist ein außerordentlich effizienter Experte auf seinem Gebiet, und sein Koordinierungsbüro ist jetzt die größte Abteilung des Instituts. Jedes Schriftstück, das irgendwo im Hause produziert wird, kommt, bevor es in die zentrale Registratur gelangt, in das Koordinierungsbüro und wird dort in notwendiger Anzahl photokopiert und auf Mikrofilm aufgenommen. Sodann wird sein Informationsgehalt von einem Kybernetiker analysiert und in Computersprache übertragen. Der Computer vergleicht dann diese Information mit allen seit Bestehen des Büros gespeicherten Eingaben. Widersprüchliche Aussagen werden auf diese Weise schnell und sicher entdeckt und können leicht eliminiert werden. 

Durch alle diese Maßnahmen ist die Verwaltungsabteilung des Roeder-Instituts personell schon bald über die Größe der wissenschaftlichen Gruppen hinausgewachsen, und hierdurch ergab sich ein weiteres administratives Problem. Während die Verwaltungsbeamten peinlich auf Einhaltung ihrer achtstündigen täglichen Arbeitszeit bedacht waren, hatten die Wissenschaftler ihre Arbeitszeit, schon im Hinblick auf experimentelle Laboratoriumsarbeiten, aber auch infolge differierender Zeiten geistiger Aktivität, individuell eingerichtet. Derart archaische Zustände konnten in einem wohlgeordneten Institut nicht länger toleriert werden. Stechuhren wurden eingeführt und mehrere Kontrolleure eingestellt, deren verantwortliche Funktion es wurde, die Zeitkarten der Angestellten des Instituts zu überprüfen und DIRKOO zuzuleiten. 

Zu dieser Zeit kündigten die ersten Wissenschaftler, meist jüngere, ihr Dienstverhältnis mit dem Roeder-Institut. Als Grund ihrer Kündigung führten sie an, in ihrer Arbeit von der Verwaltung des Instituts nicht nur nicht unterstützt, sondern, im Gegenteil, in einem unerträglichen Ausmaß behindert zu werden und keine Zeit mehr zur Veröffentlichung ihrer wissenschaftlichen Arbeiten zu finden. Die hierdurch freigewordenen Budgetmittel wurden zum weiteren Ausbau der Verwaltung verwendet. Die längst notwendig gewordene Stelle eines stellvertretenden Verwaltungsdirektors wurde beim Ministerium beantragt und genehmigt. Eine seiner Maßnahmen war die Einführung von Monatsberichten. Jeder Angestellte wurde zur Ausfertigung eines monatlichen Berichts über seine Tätigkeit verpflichtet. Von diesem Bericht, für dessen Anfertigung drei Tage in Anrechnung gebracht werden durften, waren jeweils sechs Kopien an das Koordinierungsbüro und die zentrale Registratur zur internen Verteilung abzugeben. Eine Kurzfassung war außerdem in dreifacher Ausfertigung der Dokumentationsstelle auszufolgen. Obwohl sehr bald weitere Wissenschaftler das Institut verließen, vergrößerte sich der Verwaltungsapparat weiter. Hatte man zunächst die notwendigen zusätzlichen Büros durch Auslagerung der Laboratorien in die Kellerräume gewonnen, so mußte nun doch der Bau eines neuen Verwaltungshochhauses ins Auge gefaßt werden. Es ist das moderne, zehngeschossige Bauwerk, sagte B., das Sie sicher vorhin von der Straße aus gesehen haben werden. 

Als sich vor einigen Jahren die allgemeine Rezession bemerkbar machte, blieb auch das Budget des Roeder-Instituts nicht unbetroffen. Die nicht unbeträchtlichen finanziellen Kürzungen konnten jedoch vom Finanzreferenten des Instituts durch einen entsprechenden Abbau der Planstellen für Wissenschaftler und Streichungen im wissenschaftlichen Arbeitsprogramm so gut abgefangen werden, daß die Finanzabteilung, im Hinblick auf die mit anhaltender Rezession und steigender Inflation zu erwartenden wachsenden Aufgaben personell aufgestockt werden konnte. Als weitere Budgetkürzungen notwendig wurden, war es bereits selbstverständlich, daß diese gänzlich von den wissenschaftlichen Gruppen absorbiert werden mußten. Es ist klar, daß diese Entwicklung zu einem Spannungszustand zwischen den Wissenschaftlern des Instituts einerseits und der Verwaltung andererseits führen mußte. In diesem kalten Institutskrieg mußten die Wissenschaftler notwendigerweise unterliegen, und zwar schon deshalb, weil eben den Verwaltungen die Auszahlung der Gehälter obliegt und weil aus diesem Grunde die Verwaltungsbeamten gerne in den Fehler verfallen, sich als die Arbeitgeber und die Wissenschaftler als die lästigen, geldfordernden Arbeitnehmer zu betrachten, deren Monatsleistung sich zudem noch der Meßbarkeit nach verwaltungsmäßigen Kriterien entzieht. 

Das neue Hochhaus wurde vor zwei Jahren fertiggestellt. Es beherbergt derzeit etwa 650 Angestellte, während im alten Institutsgebäude jetzt etwa 250 Verwaltungsbeamte tätig sind. Insgesamt sind derzeit 900 Angestellte des Roeder-Instituts mit ihrer eigenen Verwaltung beschäftigt. Wissenschaftler gibt es hier keine mehr. Die letzten sind vor zwei Jahren vom Verwaltungsdirektor als Folge weiterer Budgetkürzungen gekündigt worden. Sie waren ohnehin schon lange als störende Fremdkörper im Institut betrachtet worden. Die Bibliothek ist eigentlich das einzige Überbleibsel aus der vorbürokratischen Phase des Instituts. Immerhin erfordert sie ja einigen Verwaltungsaufwand. Wir haben sie erst kürzlich reorganisiert. DIRKOO hat angeordnet, jedes Buch und jede Zeitschrift zweifach zu photokopieren und die Bände in den Regalen der Größe nach zu ordnen. Dieser Anordnung verdanke ich zehn neue Mitarbeiter und meine Ernennung zum Oberbibliothekar. Kürzlich besuchte uns der Herr Minister mit seinem Stabe. Die Herren waren von der vorbildlichen Verwaltung des Instituts und von der Arbeitsleistung der Angestellten tief beeindruckt. Der Herr Minister versicherte uns seiner wohlwollenden Fürsprache bei den nächsten Beförderungs und Gehaltsverhandlungen. Was hat es da schon zu bedeuten, daß wir nicht mehr im Jahrbuch wissenschaftlicher Einrichtungen aufscheinen?"