Die Shattenwelt


Die angenehme, überraschend warme Brise brachte seine verkräuselten Barthaare leicht ins Wiegen während er mit nachdenklicher Miene, in seinem Mantel eingemummelt, auf einem der geometrisch zum sich durchkreuzen angelegten Betonwege entlangschlenderte. Sein Hut hatte er weit über seine Stirn gezogen um das Vergessen seiner Sonnenbrille zu kompensieren. Ins Wiegen wurden auch Lavendel- und Schilfstängel, deren Büsche die unbetonierten Flächen zwischen den Wegen bewuchsen, gebracht. Die Sonne hing tief im Firmament und alles was lebte erfreute sich an den letzten Minuten ihrer großzügigen Wärmespende. Kinder tobten, Bälle bellten und Hunde rollten, oder war es andersrum? Ahornbäume erschienen in ihren orangenen und Ginkgobäume in ihren goldenen, pyramidenähnlichen Kronen.

Der Park, über dessen Wege er schlenderte, war von Wolkenkratzern eingegrenzt. Aus den aneinandergereihten dominosteinartigen grau-blauen Glasquadern ragten, im figurativen und wortwörtlichen Sinne, insbesondere drei hervor.

Im Süden umhalbkreisten die 31 C-förmigen Etagen des Unicredit Gebäudes mit ihrer konkaven Seite den Gae Aulenti gewidmeten Platz. An einem Ende des Glaskonstruktes schoss eine Glasspirale, welche in einer


Stachelschweinborsten-ähnlichen Form endete, in die Luft, von der man denken könne, sie habe die Aufgabe Flugzeuge aufzuspießen.

Im Norden leisteten die Zwillingswohnblöcke der “Stehenden Gärten”, deren Fassaden mit aberhunderten mit Bäumchen und Büschelchen bepflanzten Balkonen versehen waren, einander Gesellschaft. Diese waren die stolzen Vorführkinder der Mailänder Ökoarchitekturinitiative. Der Herbst hatte seine Wirkung auf jene diminutiven Zierpflanzen ausgeübt und so waren die sonst monotonen, grau-beplatteten Wände von einer Art lebendigen Fleckentapete überzogen welche jede Schattierung des Grün-, Gelb- und Orangespektrums angenommen hatte.

Mittlerweile hatter er die südöstliche Ecke des Parks erreicht, wo ein ihm noch nie zuvor aufgefallener, nun sein strahlendes Herbstkleid tragender Ahornbaum seine Aufmerksamkeit erregte. Er schaffte es gerade noch so seine Kamera ans Auge zu heben und ein Foto zu machen bevor plötzlich seine gesamte Umgebung ihrer farbigen Magie und aufmunternden Ausstrahlungskraft beraubt wurde. Die Sonne war frühzeitlich hinter den Gebäuden im Westen der Stadt verschwunden; und mit ihr das Licht, die Hoffnung und Wärme des nun vergangenen Tages. Nun hatte die Schattenwelt das Sagen.