„Die Kluft“
Steinplastik - Karin Hafermalz
„Sie entstammten dem Meer, waren Geschöpfe des Meeres, aßen Fisch und Seetang und Früchte, die an der Küste wuchsen. …Sie glaubten, ein Fisch hätte sie vom Mond geholt, ohne dass sie diesen Glauben je angefochten oder verteidigt hätten. Wann das gewesen sei? Lange träge, verwirrte Blicke. Sie seien aus den Eiern des Mondes geschlüpft. Der Mond lege Eier ins Meer und verliere so einen Teil seiner selbst, und deswegen sei er manchmal groß und strahlend und manchmal blass und dünn. …Sie lebten in ewiger Gegenwart.“(Doris Lessing, Die Kluft, S. 36 – 37)
Ich hoffe, Sie mit meiner Skulptur zum Nachdenken und zum quasi archäologischen Aufdecken der Ge-Schichten anzuregen, damit Sie eine ge-schichtliche Dreiheit der Gestalt erfahren, erleben: Abstraktion, Negativ-Rahmen und Ursprung, die auch getrennt voneinander - jede für sich - sprechen. Es bleibt „Die Kluft“. Mit „Die Kluft“ habe ich eine Ge-Schichte mit literarischer Vorlage geschaffen. „Die Kluft“ ist ein Roman von Doris Lessing. Die Schriftstellerin bearbeitet darin den Mythos des Anfangs aller Zeiten. Der Roman enthält zwei Zeitebenen der Handlung und durch die aktuelle Lektüre des Romans erleben wir die dritte Zeitebene, in der wir selbst uns befinden.
Oben links: Inselgestalt, unten links: Baugestalt, rechts: Kerngestalt
„Baugestalt“
Der Block ist in der gängigen Restaurierungspraxis die äußere Gestalt der Konservierung der Artefakte. In Silikonklötzen werden Abgüsse kleiner Artefakte geborgen, in Silikon mit umfassenden Gipsblöcken werden Abgüsse großer Artefakte etwa zu Transport- oder Aufbewahrungszwecken eingeschlossen. Die „Baugestalt“ umfasst 140 cm Länge, 100 cm Breite und 40 cm Höhe. Der mittige Spalt endet in der Längenmitte der Gestalt wie gemäß Körperkanon ideal. Die „Brüste“ der Bauschicht entsprechen in ihrer Ansatzhöhe dem Körperkanon und in ihren gleichschenkeligen Ausprägungen (jeweils 10 cm) den auf 140 cm Körperlänge projizierten Ausprägungen normaler weiblicher Brüste. Mit den Brüsten ist sie deutlich als Frau zu erkennen, sie hat einen Spalt: die Kluft. Durch Asymmetrien vermittelt sich dem Betrachter die Vorstellung eines lebhaften Innenlebens des Baus. Verstärkt wird diese Fantasie von den begrenzten Einblicken in die Kluft zwischen den abstrahierten „Beinen“ der Baugestalt. Die Baugestalt bedeutet die dritte Zeitebene, die heutige Rezeption des Buches der Doris Lessing, zeigt den heutigen Stand der Dinge: Die Baugestalt ist die geometrische Abstraktion einer nackten liegenden Frau. Sie ist inspiriert durch die Zeitgenössische Nacktdarstellung (Barbara Haeger, Thomas Reimann, Niki de Saint Phalle). Sie ist karg gebaut, fast achtlos strukturiert verkörperte Zeugin knapper Mittel. Der Spachtelauftrag für ihre Oberfläche ist grob und wie eine Maserung strukturiert. Die abschließende Abstraktionsschicht ist nahezu einfarbig. Sie soll in Farbwahl und Materialauftrag an maurische Bauten erinnern und so die Verbindung zwischen muslimisch-afrikanischer und christlich-europäischer Kultur herstellen. Etwas Urwüchsiges, landschaftlich Anmutendes ist erkennbar und macht neugierig.
Mit der abstrakten Hülle kann auch ein Modell z. B. im Maßstab 1:50 (70x50x20m/5 m dicke Wände, Eingang 5 m breit) für eine Art Halle gemeint sein, die in der marokkanischen Wüste, in der andalusischen Steppe oder auf einem großen Platz in einer südeuropäischen/nordafrikanischen Stadt stehen mag. Diese Halle könnte dann nicht nur gedanklich sondern real betreten werden. Mit schwellender Größe wächst die Wertschätzung der innen liegenden Skulpturen und gewinnt die Halle spirituelle Kultur. Der Zugang zum bzw. der Glaube an einen Mythos wird möglicher. Der Weg der Erkenntnis für den Betrachter ist leichter, je größer, voluminöser der umfassende Bau für das Innenliegende ist.
Die Rezeption des Mythos passiert in unserer Zeit, mit vielen Ungewissheiten über die mutmaßlichen Details. Diese Ungewissheiten werden durch Schatten symbolisiert. Die Schatten befinden sich im Inneren der Baugestalt. Durch den Spalt der Baugestalt dringt allerdings Licht in das Innere[1]. Der Betrachter blickt in den Spalt hinein und erhält die Möglichkeit weitere Schlüsse zu ziehen.
"Inselgestalt"
Die abstrakte Baugestalt birgt die Inselgestalt aus 3-D-Puzzleteilen (125x80x25 cm). Mit der Inselgestalt habe ich mich bildnerisch der literarischen Vorlage bedient. Die Landschaft wie eine liegende Frau zu gestalten, war meine Idee. Auch im Roman schildert Doris Lessing den Lebensort der „Spalten“ (Urfrauen) als Insel. Die roten Felsen, die auch die Höhlen bergen und gleichzeitig fruchtbare Grundlage für Vegetation bieten, bilden den nördlichen Teil der Insel: „Es gibt diese Höhlen, so viele, wie ich Finger und Zehen habe, und sie sind groß und reichen tief in die Klippen hinein.“[2] Die östlichen Ausleger der roten Felsen lassen den geschieferten[3] Zugang zum Meeresbad zu: Als für Menschen unzugänglich erweisen sich die Felsenformationen am Spalt bzw. in der breiten südlichen Kluft der Insel. Nur das Wasser und der Sand gelangen dorthin und prägen eine urwüchsige und vegetationslose Gegend: „Die Felsspalte ist jener Felsen dort, der nicht der Eingang zu einer Höhle ist, er ist blind, und er ist das Wichtigste in unserem Leben. Das war schon immer so. Wir sind die Spalte und umgekehrt, und wir haben immer dafür gesorgt, dass dort keine jungen Bäume wachsen und vielleicht groß werden, und keine Büsche. Die Felsspalte ist eine glatte Kluft im Fels, und darunter ist ein tiefes Loch. Jedes Jahr, wenn die Sonne dort drüben auf den Berggipfel fällt, immer in der kalten Zeit, haben wir eine von uns getötet und den Leichnam vom oberen Ende der Kluft hinunter in das Loch geworfen. Du sagst, ihr habt die Knochen gezählt, aber ich verstehe nicht, wie das gehen soll, wo die Knochen doch schon zu Staub geworden sind. Du sagst, wenn man jedes Jahr einen Leichnam hinuntergeworfen hat, ist es nicht schwer, anhand der Knochen herauszufinden, wie lange das schon so geht. Nun, wenn du das so wichtig findest …“[4] Die Spalte bzw. die Kluft ist gemäß des Mythos’ der Doris Lessing das spirituelle Zentrum für die urzeitlichen Bewohnerinnen der Insel. Dagegen lädt mein westlicher Sandstrand mit Kalksteilwänden, Rinnsalen und Pflanzen zum Verweilen ein, ist jedoch nur durch Höhlenwege zu erreichen. In den Höhlen leben die „Spalten“, am Sandstrand haben die „Zapfen“ einen ihrer Lebensräume geschaffen: „Inzwischen war jedem klar, dass das Land durchlöchert war wie ein altes Stück Holz, über das die Bohrwürmer hergefallen waren. Höhlen und Tunnel und Schächte und ganze Welten unterirdischer Flüsse und Seen.“[5]
Die Insel ist als Objekt die Repräsentation der mittleren Zeitebene als Skulptur. Sie schützt, sichert, bewahrt und verbirgt das innenliegende Artefakt als ein heiliges Relikt des Anfangs aller Zeiten. Die zu betrachtende Zeitebene ist die der griechischen Archäologie, die die Artefakte der urzeitlichen Geschehnisse birgt, deutet und erläutert. In der Geschichte von Doris Lessing ist ein Archäologe und Geschichtsschreiber beauftragt, die Funde/den Fundort zu erforschen. Diese zweite Schicht entstand als eine Negativform der innersten Schicht. Die Inselgestalt schmiegt sich stark an die Kerngestalt an, ermöglicht theoretisch einen rustikalen Abguss der Kerngestalt. Die so zu gewinnende zusätzliche Kerngestalt wäre sozusagen aus sich selbst und aus der Landschaft heraus geboren. Dieses Klonen entspricht genetisch der Parthenogenese, also dem Ursprungsthema im Buch „Die Kluft“ von Doris Lessing. Frauen pflanzen sich dem Kluft-Mythos gemäß parthenogenetisch fort, d.h. Frauen (so genannte „Spalten“) gebären ausschließlich Frauen. Die Definition von Parthenogenese ist nach der Künstlerin und Heilerin Marianne Wex „biologisch … die Fähigkeit weiblicher Pflanzen, Tiere und Menschen, sich ohne die Beteiligung eines anderen Geschlechts, aus sich selbst heraus fortzupflanzen.“[6] Die vielgestaltige und fantasievoll zerklüftete Natur ist das Bild für unsere vergleichsweise unvollkommene Kulturgeschichte mit ihren Überlagerungen, Quellen und Grenzen. Der Stil ist expressiv. Die „Spaltenvenus“ in einer Landschaft zu bergen, war für mich nahe liegend.
„Kerngestalt“
Die „Kerngestalt“ war der Beginn der eigentlichen Arbeit. Mit ihrem 120 cm langen Ausmaß entspricht sie etwa zu zwei Dritteln einer heutigen großen Frau. Das Motiv für ihre Gestalt war eine Passage aus Doris Lessings Buch.
Die „Kerngestalt“ repräsentiert den Ursprung aller Zeiten. Sie ist nicht anspruchsvoll akademisch korrekt sondern eher naiv und expressiv um ihrer selbst Willen gestaltet. Im Unterschied zur klischeehaften Ausdruckslosigkeit der Pop-Art oder der klinisch reinen Werbeobjekte ist meine Aktfigur ein naives Memo für die Wiederaufnahme des lebendigen, fleischigen Körpers und des freien Geistes in ein geschütztes Hier und Jetzt. Meine Figur ist im vom Betrachter unabhängigen Erleben begriffen. Sie schaut in den Himmel. Ein Betrachter ist für sie selbst nicht von Belang. Der Akt findet in der Natur statt, es gibt keine (absichtsvolle) Pose einer Art Gliederpuppe sondern die (absichtslose) Körperhaltung der rituell empfangenden „Spalte“. Wir sehen keine ‚gebleckte’ Arbeitshaltung, sondern eine entspannte Ruhehaltung. Sie begehrt den männlichen (öffentlichen) Blick nicht, denn sie befruchtet sich selbst. Daraus folgen auch die offene Haltung der Beine, die friedlich geöffnete Vagina sowie die ruhenden Füße und Hände. Indem die Dreieckigkeit und ungleichmäßige Ausrichtung der Brüste der Baugestalt den ungleichseitigen Reckrichtungen der Brüste der Kerngestalt im Inneren entsprechen, deute ich den Zusammenhang des Weiblichen über alle Zeit an. Genauso sind die Flächigkeit der Gestalt, Sparsamkeit bzw. die Entmaterialisierung durch das Auslassen von Requisiten sowie das Verschmelzen mit dem Untergrund für mich wichtige Aussagen.
Mit der Arbeit an ihr habe ich erfahren, wie die Größe einer Plastik, ihr Anblick und der Ausstellungsort einander entsprechen müssen. Ich habe sie lange bearbeitet, mit Öl gepflegt sie wiederum bearbeitet, sie gelegt, umgelegt, von allen Seiten bearbeitet und wiederum gepflegt: ihre Nägel gefeilt, Wimpern betont, Haar gelegt, ihre Poren vor Eindringlingen (Ohrenkneifer!) geschützt, sie letztendlich komplett geschlossen. Ich habe ihre Farbigkeit in der Natur gesehen, schmutzige Beine und Arme – verfilzte Haare. Ihre Schamlippen üppig gestaltet wie nach einer Geburt. Ihre gesamte Patina ist daher von Arbeitsspuren gezeichnet. Der Anblick der Gestalt der „Spaltenvenus“ in meinem Gartenatelier verursachte bei mir einen unwiderstehlichen Drang, sie in ihrer Entblößung, derer sie sich selbst gar nicht bewusst gewesen war (so der Mythos), vor der heutigen Außenwelt zu schützen. Die geöffnete Beinhaltung bei Frauen wirkt immer noch und ganz besonders im öffentlichen Raum obszön. Selbst im musealen Kunstgeschehen ist die gelassene Akzeptanz des freizügigen weiblichen Vollakts nicht gegeben, wie die Ausstellung „Diana und Actaeon – Der verbotene Blick auf die Nacktheit“ 2008/2009 in Düsseldorf eindrucksvoll demonstrierte.
Das Alter bzw. die Mythologie der „Kerngestalt“ für den Betrachter begreiflich zu gestalten war mir ein Anliegen, sowie im Arbeitsprozess zunehmend die Unfassbarkeit der „Spaltenvenus“ sicher zu stellen und sie gut aufzubewahren. Die Wertschätzung der Spalten-Venus entsteht durch die Hierarchie der Komposition. Je schwieriger der Zugang zu einem Gegenstand wird, desto größeren Wert und Schutz erhält er. Die Spaltenvenus im Inneren der Plastik ist ohne Beschädigung nur zu sehen, wenn die umgebenden Elemente sorgsam gelüftet werden. Auch die Landschaftselemente sind nur heil und unversehrt, wenn der umgebende Bau abgehoben wird.
[1] Ein Nebengedanke während der Erstellung der Plastik war, als äußere Gestalt für dieses Nichtwissen, ja für die Verweigerung des Erfahrungswissens über Parthenogenese eine nahezu ungestaltete Frauengestalt ohne Kopf, Arme und Beine (ohne Spalt) zu bauen, die auch an eine Burka erinnern mag. Eine Burka verhindert das Eindringen der Sonne und somit auch ungewollte Parthenogenese in einer patriarchalischen Welt.
[2] D. Lessing, Die Kluft, 2007, S. 18
[3] Allgemein und bergmännisch werden als Schiefer deutlich parallel angeordnete, in dünnen, ebenen Platten spaltbare Gesteine bezeichnet.
[4] D. Lessing, Die Kluft, 2007, S. 17
[5] D. Lessing, Die Kluft, 2007, S. 215
[6] S. Wex, M. – Parthenogenese heute – 1992 S. 15
Enthüllung der Spaltenvenus (Kerngestalt)