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Jens Holzinger
Feldpost
Frau G. steht auf ihrem Platz in der Fabrik vor dem langen Fließband, auf dem im Abstand von eineinhalb Metern die großen Granaten vorbeiziehen wie eine feierliche Prozession heiliger Männer. Wenn man nach links blickt, verliert sich das Fließband in der endlosen Weite der Montagehalle, nach rechts begrenzt in großer Entfernung eine hohe Mauer die Halle. Aber Frau G. blickt weder nach links noch nach rechts, denn sie hat eine Aufgabe. Von 7:30 morgens bis 18:30 abends steht sie an dieser Stelle und schlägt mit einem großen Hammer auf die Zünder in den Granatenköpfen. Sie hat keine Vorstellung davon, was dieser Hammerschlag für einen Sinn im komplizierten Produktionsablauf dieser Vernichtungswaffe hat, aber sie ist davon überzeugt, dass ihre Aufgabe über Sieg und Niederlage entscheiden könnte. Deshalb konzentriert sie sich elf Stunden am Tag (natürlich abzüglich zweier halbstündiger Pausen) auf ihre wichtige Aufgabe und wagt nicht, auch nur einen Hammerschlag zu versäumen oder zu schwach auszuführen.
Frau G. ist sich vage bewusst, dass neben ihr zu beiden Seiten Frauen arbeiten, die ähnlich wichtige Aufgaben haben wie sie. Doch sie hat keine Vorstellung davon, ob diese Frauen die gleichen Handgriffe ausführt oder ob sie vielleicht noch bedeutendere Aufgaben haben. Insgesamt mögen in der Fabrik Tausende von Frauen arbeiten, die, genau wie Frau G., mit Schürze und Kopftuch vor endlosen Fließbändern stehen und einzelne Handgriffe ausführen, die, jeder für sich genommen, keinen Sinn ergeben, zusammen genommen jedoch den Sieg bringen werden. Es gilt, den Feind zu vernichten. Nur deshalb ist Frau G. hier. Und den anderen Frauen mag es ebenso gehen.
Das Band hält an und die Prozession kommt ins Stocken. Aber Granaten sind geduldig. Die Glocke schrillt und die Frauen gehen in die Pause. Frau G. erkennt ein Gesicht unter den Hunderten und geht darauf zu. Sie spricht die Frau an, doch das Tosen der Maschinen ist zu laut. Die andere bietet ihr eine Zigarette an, doch Frau G. lehnt ab, da sie einer Fremden nicht verpflichtet sein will. Frauen stoßen sie mit den Ellbogen an, um nach draußen zu gelangen. Aber draußen fahren die Lastkraftwagen mit den fertigen Granaten. Weil die Granaten so dringend gebraucht werden, dürfen die Wagen nicht anhalten und überfahren nicht selten Arbeiterinnen, die nicht schnell genug aus dem Weg gehen. Deshalb bleibt Frau G. lieber in der Fabrikhalle und verbringt hier ihre Pause. Wegen des Lärms muss sie hier auch keine Gespräche führen. Es gibt nichts zu reden.
Ein Lautsprecher ertönt wie in jeder Pause: „Frauen, Arbeiterinnen, Patriotinnen, Heldinnen. Das Vaterland blickt auf Euch; Ihr seid die Hoffnung unserer Soldaten. Eure Arbeit…“ Eine der großen Fräsmaschinen im hinteren Teil der Halle übertönt den Lautsprecher. Dann wird es wieder etwas leiser. „…Sieg als einzige Alternative. Es gibt kein Wanken und kein Weichen. Das Überleben unserer Rasse hängt von Eurem Einsatz ab…“ Den Rest verschluckt wiederum der Lärm der großen Maschinen. Aber Frau G. kennt die Lautsprecherdurchsage ohnehin auswendig und hört meist nicht hin. Ausdruckslos sitzt sie auf einer auf der Seite liegenden Granate, die fast so dick ist wie Frau Gs. Hüfte und isst eine Scheibe Weißbrot. Bis zum Abend muss ihr das genügen. Der Sieg verschlingt die Lebensgrundlage.
Frau G. zieht einen zerknitterten Brief mit einem offiziellen Stempel und einem handgeschriebenen Absender aus ihrer Schürzentasche und leist mit ausdruckslosem Gesicht.
Mein Liebling,
Mir geht es gut. Wir haben ausreichend zu Essen. Gerade gestern gab es frisches Brot mit einer langen Wurst und herzhaftem Käse. Jeder Mann in meinem Zug bekam sogar eine Flasche Bier. Die Zeitungen sagen, dass wir gesiegt haben. Ich weiß davon nichts, aber es ist sicher wahr, wenn es die Zeitungen schreiben. Gestern war ein Offizier bei uns im Graben und hat gesagt, wir wären die beste Kompanie der Division. Das hat großen Eindruck auf uns gemacht. Wir werden uns noch mehr ins Zeug legen, um den Feind zu besiegen. Ich hoffe, dass es Euch zuhause auch gut geht. Ich wünschte, ich könnte Euch bald sehen. Doch das wird wohl erst wieder möglich sein, wenn wir gesiegt haben. Es kann nicht mehr lange dauern, sagen die Offiziere. Noch zwei oder drei Offensiven und der Feind ist vernichtet.
In Liebe, Dein G.
Frau G. steckte den Brief achtlos zurück in ihre Schürzentasche und nahm die letzten zwei Bissen Brot. Dann wartete sie regungslos auf ihrer Granate auf das Schrillen der Pausenglocke. Arbeiterinnen zogen an ihr vorüber wie zuvor die Granaten. Für Frau G. war es dasselbe: Arbeiterinnen und Granaten; beide dienten dem Sieg.
* * *
Herr G. schreckt auf und blickt sich verwundert um. Er weiß nicht, wo er war, noch in welcher Welt er sich befindet. Ist er sich seiner überhaupt bewusst? Er fühlt sich, als sei sein Geist eben erst in diesen Körper gefahren. Es ist dunkel, doch das Dunkel wird in unregelmäßigen Abständen von hellen Blitzen erhellt, die eine ihm völlig fremde Szenerie beleuchten: Rings um ihn türmen sich Wände aus Lehm und Matsch in die Höhe. Er selbst sitzt auf einem kalten, harten Leichnam, der ganz unten in diesem Kessel in einer tiefen Pfütze liegt. In seiner Hand hält Herr G. ein Gewehr mit aufgepflanztem Bajonett. Aber er weiß nicht, was er damit anfangen soll. Und dann dieses Krachen um ihn her. Die Erde scheint zu beben unter dem Ansturm eines wütenden Gottes oder aber eines Heeres von Dämonen und Teufeln. Ist das hier die Welt? Ein Brei aus Matsch und menschlichen Überresten? Aus einer Wand ragt ein Arm, aus einer anderen Wand ein Kopf. Aus der Pfütze am Boden reckt sich ihm eine Hand entgegen, als wolle sie ihn in die Tiefe ziehen. Angewidert wendet er sich ab, um gegen eine andere Wand aus Dreck und verfaulenden Gliedern zu blicken. Wo bin ich?!
Verzweifelt richtet Herr G. seinen Blick nach oben. Da zieht dichter Nebel über die Öffnung dieses jämmerlichen Trichters. Immer wieder blitzt es in diesem Nebel auf, ein Unwetter mit grellen Blitzen und lautem Donnerschlag. Ein Mann wird über den Rand des Trichters gewirbelt und fällt mit einem lauten Platschen in den Sumpf zu Füßen des Herrn G. Dort bleibt er reglos liegen. Kommt man so in diese Welt? Ist er ebenfalls auf diese Weise hierhergelangt? Da entsinnt er sich vage…
Ich bin ein Mensch, ich lebe… oder bin tot. Wer weiß das? Wer kann das sagen? Aber dies ist nicht der Himmel, kann es nicht sein. Also Hölle… wer hätte das gedacht. Immer in die Kirche, immer konservativ gewählt, nur einmal fremdgegangen und sonst ein guter Mensch… und nun, die Hölle. Ist das Deine Gerechtigkeit?!
Herr G. greift nach dem Menschen, der eben erst in diese Welt gekommen ist. Er ist offenbar entseelt. Es wird wohl noch eine Weile dauern, bis dieser Körper, wie sein eigener, mit einer Seele ausgestattet wird. Herr G. stellt sich vor, wie dieser neue Mensch – gerade so wie er selbst vor einigen wenigen Augenblicken – in dieser Hölle erwachen und ihn fragend anblicken wird. Was soll Herr G. ihm sagen? Wieso sind wir hier? – Ich weiß es nicht. Was tun wir? – Wer weiß das schon. Welchen Sinn ergibt das alles? – Das weiß nur… vielleicht noch nicht einmal er. Herr G. starrt wartend auf den neuen Körper, doch der rührt sich noch immer nicht. Langsam wird er ungeduldig und zieht einen zerknitterten Brief aus seiner Uniformjacke hervor.
Mein Liebling,
Uns geht es gut. Wir haben ausreichend zu Essen, da man uns vom Lande immer frisches Brot, Obst und Gemüse in die Stadt schickt. Die Nachbarn helfen sich so gut es geht. Keiner ist allein, denn alle sind Patrioten in dieser Stunde. Wir wissen, dass der Sieg nahe ist und wir vertrauen darauf, dass Ihr den Feind bald vernichtet. Ich bin stolz auf Dich, auf das was Du dort draußen tust. Ich sehe Dich vor mir in Deiner leuchtenden Uniform, das Kinn nach vorn gereckt, den Bart gestutzt, die Mütze verwegen ins Gesicht geschoben, das Gewehr bedrohlich erhoben, bereit zu siegen. Ich sehne mich nach Dir, mein Held! Komme bald, Du strahlender Sieger!
In Liebe, Deine G.
Herr G. lässt nachdenklich den Brief sinken. Es gibt dort jemanden, der ihn liebt, der stolz auf ihn ist. Ganz vage erinnert sich Herr G. an ein Gesicht, an einen Duft, an den Klang einer Stimme. Doch dann erscheinen zerfetzte Leiber vor seinem inneren Auge, er riecht vergammeltes Menschenfleisch und Eingeweide, hört Stöhnen und unmenschliches Brüllen, das Krachen und Bersten der Granaten über ihm. Der Brief entgleitet seiner müden Hand und fällt ins schlammige Wasser der Pfütze, wo er sich alsbald vollsaugt. Die Schrift verschwimmt wie die Erinnerung vor Herrn Gs. Auge.
* * *
In der Straßenbahn drängen sich graugekleidete Frauen mit Kopftüchern und stumpfem Blick. Aber Frau G. nimmt das nicht wahr, denn sie blickt niemandem in die Augen. Wie die anderen richtet sie den Blick auf ihre Füße, auf die schmutzigen Stiefel. Es ist kurz nach sieben und sie fährt nach Hause, einmal quer durch die Stadt. Ein Blick durch die trüben und milchigen Scheiben der Bahn und sie sieht graue Gebäude, teilweise zerfallen und zerbombt. Niemand baut sie auf, denn es gilt allein der Sieg. Wenn der Feind erst einmal vernichtet sein wird, werden sie gemeinsam eine neue Heimat aufbauen; doch jetzt gelten Granaten. Mit Brot, Häusern und Schulen gewinnt man keinen Krieg. Niemand spricht, denn man ist müde. Da war einst der Park – heute sind dort Gräber. An einer Wand in roter Schrift: „Der Sieg wartet!“. Frau G. denkt: Der Sieg ist eitel und wartet ungern selbst. Viel lieber lässt er auf sich warten.
Frau G. zwängt sich zum Ausgang und achtet darauf, niemanden anzusehen. Sie hat Angst, sprechen zu müssen. Das Sprechen ist so anstrengend geworden. Sie steigt aus und stolpert über das aufgerissene Pflaster zu ihrem Haus. Es ist grau und groß und beherbergt viele Frauen mit ihren Kindern. Sie kennt einige vom Sehen… aus der Zeit vor dem Krieg. Seither hat sie niemanden mehr angeblickt. Womöglich würde eine die andere nach ihrem Mann fragen, oder nach ihrem Bruder, oder nach ihrem Sohn… Niemand will die Antwort geben und keiner will sie hören. Verstümmelte Helden gelten als unschicklich, tote als Angeberei. Verwandt mit einem Märtyrer des Vaterlandes? Was ist dabei? Das hat doch dieser Tage jeder vorzuweisen, meine Liebe. Das Gesicht zerschossen, das Bein abgerissen, die Arme verloren, das Herz gebrochen… das alles langweilt mich, meine Liebe.
Vor dem Laden wie immer eine lange Schlange. Frau G. stellt sich an, den Blick gesenkt, Furchen im Gesicht, nicht vom Lachen, nicht vom Weinen: vom nicht fühlen. Eine Frau drängelt, sie wird von einigen verprügelt bis sie blutend in der Gosse liegt. Niemand achtet darauf. Es gilt, ein Brot oder eine Kartoffel zu erhaschen. Nach einer Stunde hat Frau G. beinahe die Tür des Ladens erreicht. Das Schaufenster leer und schmutzig. Ein Mann tritt in die Türe, er trägt Schürze und eine weiße Mütze. Während er seinen dicken Bauch reibt ruft er streng: „Weg mit Euch, Ihr gierigen Weiber! Es gibt nichts mehr zu holen. Kommt morgen wieder.“
So geht es jeden Tag. Einige Frauen murren, aber die meisten wissen, dass es keinen Sinn hat. Mit abgezehrten und grauen Gesichtern trotten sie gesenkten Blicks in ihre Löcher, wo sie, wie die Ratten, von Müll und Resten leben, wo ihre Kinder hungern und frieren. Ausdruckslos sind die Gesichter dieser Frauen, denn sie sind müde und haben genug gefühlt. Fühlen bedeutet dieser Tage doch nur Schmerz. Frau G. blickt gen Himmel und hofft. Doch nur eine braune, matte Sonne steht hinter dem Rauch der Fabrikschlöte.
Am Haus zählt sie die anonymen Briefkästen. Vierte Reihe von oben, der neunte Kasten. Wieder ein Brief mit Stempel und der einst vertrauten Schrift. Sie steckt den Brief achtlos in ihre Schütze und geht nach oben in ihr Loch, klettert fünf Treppen hinauf unters Dach. Sie öffnet die Türe und steht in einem dunklen Zimmer mit vier Wänden, einem Tisch, zwei Stühlen, einem Herd ohne Feuer, einem Bottich ohne Wasser und einem Fenster ohne Scheibe. In einer Ecke sitzt das Kind, das arme. Es spielt nicht, es lacht nicht: es sitzt. Es blickt nicht auf, als die Mutter das Zimmer betritt. Die Mutter beachtet es nicht, blickt es nicht an und grüßt es nicht. Sie geht an den Herd und wirft den alten Brief hinein, damit sie ein Feuer machen kann. Dann holt sie zwei faulige Kartoffeln unter dem Herd hervor wirft sie in einen Topf. Ein ist abgefressen. Das Kind hat wieder einmal nicht warten können. Sie wirft ihm eine heiße Kartoffel in den Schoß, setzt sich an den Tisch, beißt selbst in die größer Kartoffel. Dann legt sie die Kartoffel angewidert in den Topf zurück. Wenn man lange nichts mehr isst, vergeht der Hunger. Das Kind isst die Kartoffel ohne aufzublicken, sagt kein Wort.
Frau G. holt den neuen Brief aus ihrer Schürze, legt ihn vor sich auf den Tisch und wartet lange. Sie starrt die grau Wand an und denkt… an nichts. Dann öffnet sie den Brief und liest.
Mein Liebling,
Ich wünschte, Du könntest uns hier sehen. Es gibt einige Siege zu feiern. Es kann nicht mehr lange dauern, bis der Feind vernichtet ist. Wahrscheinlich sind wir an Weihnachten wieder zuhause bei Euch. Mein Herz zerspringt mir, wenn ich daran denke, Dich wieder in meine Arme zu schließen, unser Kind zu herzen und in die Luft zu werfen. Du hast mir noch nicht beschrieben wie es aussieht, meine Liebe. Oh, wenn ich doch nur nicht so bald in den Krieg hätte ziehen müssen. Es ist schon hart, sein Kind nicht zu kennen. Aber bald, wenn der Sieg errungen ist, werde ich es sehen. Es muss bereits laufen und sprechen, mein Kind. Hat es schon nach seinem Vater gefragt? Am liebsten würde ich sofort aufbrechen und zu Euch kommen. Aber ich könnte nie meinen Posten verlassen, meine Kameraden im Stich lassen. Ich will dabei sein, wenn wir den Feind vernichten und der Sieg unser ist.
In Liebe, Dein G.
Das Feuer im Ofen war erloschen. Briefe wärmen nur kurz, von innen länger als von außen. Und auch der Neue fiel in den Ofen, um Frau und Kind zu wärmen.
* * *
„Wach auf!“
Herr G. wacht auf in einem Grab, das er mit anderen Toten teilt. Fünf erheben sich von ihren Särgen und taumeln aus dem Unterstand hinaus in den dunklen Morgen. Er kennt die andern vier vom Sehen, doch keiner sagt ein Wort. Man sucht keine Freunde unter den Toten. Zu viele Abschiede hat man bereits genommen. Atem dampft in der kalten Morgenluft. Wenigstens die belebt ein wenig. Aber der Gestank von totem Fleisch verdirbt den Appetit. Gut so, denn es gibt ohnehin kein Frühstück.
„Heute schöpfen wir.“
Herr G. schöpft mit seinem Helm stinkendes Wasser aus Granattrichtern. Er fragt sich nicht, warum? Es gibt Befehle, die befolgt man. Nur so kann man siegen.
„Jetzt begraben wir die Toten.“
Auch das tut Herr G. – wie jeden Tag. Immer am Nachmittag, wenn das Kämpfen geendet hat, kommt Herr G. und viele mit ihm. Man gräbt mit Schaufeln tiefe Löcher und wirft alles hinein, was von den Menschen noch übrig ist, die heute gesiegt haben: Ein paar Arme, Beine, mal ein Kopf. Seltener ein ganzer Körper.
„Wir haben bald keinen Platz mehr zum Verscharren.“ Irgendeiner lacht. Herr G. versteht es nicht.
„Jetzt schießen wir.“
Herr G. lädt große Granaten in ein Geschütz, acht in einer Minute, drei Stunden lang. Er sieht nicht, wo sie niedergehen oder was sie ausrichten. Aber es heißt, es geht gegen den Feind. Das ist nötig für den Sieg.
„Das reicht. Morgen schießen wir wieder.“
Herr G. trottet den anderen nach zurück ins Grab unter der Erde. Jeder legt sich in seinen Sarg bis es wieder heißt „Wach auf!“. Dann beginnt der Tag von vorn: Schöpfen, Graben, Schießen… Sterben vielleicht oder auch Siegen. Es ist egal. Befiehl zu sterben – ich folge! So haben wir es gelernt.
Ein Kerzenstummel gibt genug Licht für die Lektüre eines Briefes. Jeden Tag bringt ein Soldat die Post. Jede Nacht liest Herr G. einen Brief aus einer andere Welt. Eigentlich glaubt er schon nicht mehr daran, dass diese Welt außerhalb seiner Welt wirklich existiert. Wahrscheinlich schreibt ein blöder Hund bei der Division jeden Tag diese Briefe, um die Männer bei Verstand zu halten.
Mein Liebling,
Gestern war ich mit unserem Kind im Park. Du weißt doch noch, wie wir uns dort zum ersten Mal geküsst haben. Es scheint so weit weg und so lange her. Abends hatten wir Gäste hier. Sie alle wollten unser Kind bestaunen und brachten ihm Geschenke. Die Nachbarn sind begeistert von ihm. Wenn Du es doch nur sehen könntest – Du wärst so stolz. Es ist klug und schön und wohlerzogen. Und es ist ein guter Esser, ganz wie sein Vater. Morgen wollen wir mit dem Boot aufs Land fahren. Wir haben schon einen großen Picknickkorb gerichtet. Vielleicht begleiten ein paar Freunde uns dabei. Vielleicht können wir bald schon den Sieg feiern. Die Zeitungen sagen, der Feind sei fast vernichtet. Komm heim, mein Sieger!
* * *
Herr und Frau G. sitzen in ihrer Wohnung. Es fehlt immer noch die Scheibe im Fenster und der Ofen ist aus. Das Kind sitzt in seiner Ecke, denn es gibt nur zwei Stühle. Es spricht noch immer nicht. Herr und Frau G. starren ich an und blicken in das Gesicht eines Fremden. Es gibt nichts zu sagen. Draußen künden Lautsprecher von der neuen Weltordnung; aber diese neue Welt ist furchtbar, sie ist kalt und fremd. Sie ist nicht für Menschen gemacht. Der Sieg hat den Menschen um seine Menschlichkeit gebracht. Das Zeitalter der Menschen ist vorbei. Hoffnung, Glaube, Liebe… längst vergessen. Nun beginnt das Zeitalter einer neuen Rasse: der neue Herrenmensch ist da. Eine schöne neue Welt.