Lutz Büge: Der Fall Edwin Drood

Drood und schwul? Dabei fügt sich in Büges Komplementär-Erzählung Der Fall Edwin Drood sprachlich und inhaltlich erstaunlich glatt gestrickt aus Originalvorlage und Ergänzung, nur zusammen, was doch irgendwie zusammen gehört. Dickens Männerpersonal nähme sich fraglos auf jeder CSD-Parade prächtig aus. Sie sind ja nicht nur überwiegend ausnehmend hübsch, die braven Männer aus Cloisterham um den sanften Hilfskanonikus Septimus Crisparkle, sie pflegen obendrein ausnehmend herzliche, ja vertrauliche Umgangsformen.

Wolfgang Hettfleisch über die Originalausgabe in der Frankfurter Rundschau

Ein viktorianisches Geheimnis

Ein verschlafenes Nest im England des 19. Jahrhunderts: ein sportlicher Vikar, der bei seiner Mutter wohnt, ein exotisch-schönes Geschwisterpaar aus den Kolonien, ein opiumsüchtiger Kantor und sein reizender Neffe. Wie in Filmen von Alfred Hitchcock scheint die Welt in Ordnung zu sein, aber dann geschieht das Undenkbare: Edwin Drood, der Neffe des Kantors, verschwindet spurlos. Die Bewohner des Städtchens geraten in Aufruhr ... und der Autor Dickens stirbt, ohne seinen letzten Roman vollendet zu haben.

Lutz Büge präsentiert einen Schluss, wie ihn Dickens nicht besser hätte schreiben können: Die Guten werden glücklich, die Bösen werden bestraft, die Liebenden finden zueinander, und die Seelen der untoten Romanfiguren werden endlich erlöst!

„Was geschah dann?“

„Dann kam Edwin Drood herein.“

„Sie meinen den heiligen Drood?“

„Keine Ahnung, ob er heilig war oder was sonst. Ich gebe allerdings zu, dass er ein bisschen gespenstisch aussah, und sein Auftritt war etwas ungewöhnlich. Er kam nämlich durch die Tür.“

„Sie meinen dieselbe Tür, die Mr. Datchery vorher verschlossen hatte?“

„Ja. Er versuchte uns davon zu überzeugen, dass er eine Romanfigur sei.“

„Was Sie ihm auch sofort glaubten, wie jeder vernünftige Mensch.“

„Natürlich nicht!“

„Der heilige Drood beharrte indessen?“

„So ist es. Er behauptete allen Ernstes, die Hauptfigur eines Romans von Charles Dickens zu sein – und zwar eine UNERLÖSTE Hauptfigur. Stellen Sie sich das mal vor! Der Typ flehte uns an, seinen Fall endlich zu lösen, damit er Ruhe fände.“

„Hielten Sie das für eine plausible These?“

„Quatsch. Frank und ich lachten natürlich. Frank fand die Idee hübsch, sich als Widergänger auszugeben. Er hat ein gewisses pubertäres Faible für Gespenstergeschichten. Ich dagegen musste lachen, weil ich dahinter einen dummen, leicht durchschaubaren Jokus des Reiseveranstalters vermutete.“

Es lässt den Schriftstellern keine Ruhe, dieses Werk. Das unvollendete, das letzte des großen Charles Dickens. Und dann auch noch ein Krimi, manche sagen gar: der Prototyp der Detektivgeschichte. Obwohl es im Geheimnis des Edwin Drood doch einen Detektiv im professionellen Sinn gar nicht gibt, allenfalls dilettierende Informationsbeschaffer als Randfiguren. Wie auch immer, jedenfalls nahm Dickens das Geheimnis um Droods Verschwinden scheibchenweise als Fortsetzungsgeschichte für Zeitungsleser konzipiert wie zwei Jahrzehnte später die Holmes-Abenteuer Conan Doyles - mit ins Grab, als er im Juni 1870 starb.

Das machte die in der philologischen Rückschau als eher mittelprächtig geltende Krimi-Novelle samt ihrem Personal unsterblich. Dabei muss nach Lage der Dinge im Textfragment und nach Aussage aller befragten Geheimnisträger aus Dickens' Umfeld ein dringender, ja nahezu gerichtsfester Verdacht geäußert werden: Der junge, ein wenig leichtlebige Beau Drood wurde von seinem Onkel John Jasper gemeuchelt. Und Dickens blieb nicht die Zeit, den Schurken zu entlarven, der vor der kleinstädtisch-bürgerlichen Wohlanständigkeit seiner Umwelt ein dunkles Geheimnis verbirgt: seine Opiumsucht.

So weit, so schlecht. Denn wie in jedem guten Krimi fehlt ohne das Ende der Geschichte der handfeste Beweis. Mehr als vage Andeutungen hat Dickens nie gemacht. Was der Welt die Detektiv-Gattung der Drood-Interpreten bescherte, die seitdem hingebungsvoll, nicht selten verbissen um des Rätsels Lösung streiten. Dabei, so lehrt uns nun Lutz Büge, liege die doch auf der Hand: Drood hatte an jenem stürmischen Weihnachtsabend, da er im beschaulichen Städtchen Cloisterham verschwand, sein Coming out. Man hört förmlich den entrüsteten Aufschrei auf der Polizeiwache der lauteren Dickensianer. Drood und schwul? Dabei fügt sich in Büges Komplementär-Erzählung Der Fall Edwin Drood, sprachlich und inhaltlich erstaunlich glatt gestrickt aus Originalvorlage und Ergänzung, nur zusammen, was doch irgendwie zusammen gehört. Dickens' Männerpersonal nähme sich fraglos auf jeder CSD-Parade prächtig aus. Sie sind ja nicht nur überwiegend ausnehmend hübsch, die braven Mannen aus Cloisterham um den sanften Hilfskanonikus Septimus Crisparkle, sie pflegen obendrein noch ausnehmend herzliche, ja vertrauliche Umgangsformen.

Nun mag der ambitionierte Literaturfreund tapfer einwenden, Dickens sei als verkannter Erfinder des schwulen viktorianischen Schlüsselromans denkbar ungeeignet. Der Mann hat immerhin zehn Kinder gezeugt. Büge und seinem Hamburger Verleger wird dieser Einwand allenfalls ein wissendes Lächeln abgewinnen.

Wenngleich Dickens' Vorlage hier und da schon ein wenig gebogen werden muss. Dass der wilde John Jasper hinter Droods Versprochener Rosa Bud her ist (Dickens hatte ein mitunter bedenkliches Faible für Namens-Wortspiele) wie der Teufel hinter der Großmutter, galt es in einem Schlüsseldialog ein bisschen zu entschärfen. Schließlich treibt Jasper bei Büge ja nicht zuletzt die Eifersucht wegen seines Neffens - und die zarte Rosenknospe soll später auch nicht allzu zerzaust in die Arme ihrer Helena sinken.

Ob das homoerotische Literatur ist, ob es eine solche Gattung überhaupt gibt, mögen andere entscheiden. Hauptsache, Büges an Anspielungen und Ironie reich verziertes Spiel mit Dickens' unvollendetem Spätwerk verkümmert nicht im rosafarbenen Elfenbeinturm der Schwulen-Buchläden.

Frankfurter Rundschau