Geschichten aus der Provinz

Die reine Wahrheit:

Aus der Provinz

Draußen brüllt der Verkehr, die Baustelle dröhnt, Abgase und Staub ziehen ins Zimmer herein, woran man merkt, dass endlich Sommer ist: Das Fenster ist offen. Nein, gesund ist das nicht, Die Stadt ist nun mal nicht gesund. Vor dem geistigen Auge erscheint das Reetdach eines Fachwerkhauses mit ungefähr 18o qm Wohnfläche und einem altmodischem Bauerngarten drum herum. Vor dem geistigen Auge scheint die Sonne, es wird niemals Herbst oder Winter, und jemand anders macht sauber. Alle Freunde kommen in des großzügige Anwesen zu Besuch, man hat auf dem ländlichen Markt Unmengen buntes, pralles, gesundes Gemüse gekauft. Alle kochen zusammen, sitzen unter blühenden Obstbäumen beim Essen, und jemand anders wäscht ab. Man hört nur die Grillen zirpen und die Frösche quaken. So soll es ja sein, das Landleben.

Ich döse auf dem Sofa vor mich hin, Die Grillen zirpen, die Obstbäume blühen. Nebenan brüllt ab und zu eine Kuh. Bauer Hempel zur Linken schmeisst seinen Traktor an, was Bauer Dettmers Schäferhunde zur Rechten überhaupt nicht abkönnen, weswegen sie sich in eine hysterische Bellorgie hineinsteigern. Bauer Hempel wirft sein Radio auf dem Traktor an, damit er die Hunde nicht so hört und auch den Traktor nicht so laut. Nun fällt ihm ein, dass er seine Gummistiefel vergessen hat. Er geht zurück ins Haus, aber es lohnt ja nicht, inzwischen den Traktor oder das Radio auszumachen. Drinnen bei Hempels klingelt das Telefon. Draussen auf dem Hof klingelt es auch, damit Hempel es notfalls auf dem Traktor hören kann. Er nimmt aber aus Perfidie nie vor dem zwölften Klingeln ab. Angerufen hat Bauer Hansen vom Nachbarhof. Die freiwillige Feuerwehr Knackendorf will tagen, da muss mal eben einiges fernmündlich besprochen werden in der folgenden Dreiviertelstunde. Normalerweise brüllen sie ihre Gespräche einfach über Zaun und Misthaufen, aber jetzt ist der Traktor so laut, dass man schon mal auf die Segnungen moderner Kommunikation zurückgreifen muss.

Nun werden Hempels 120 Rinder im Stall nervös, weil sie auf die Dauer keine Volksmusik mit zusätzlicher Dieselrhythmusgruppe vertragen können. Sie brüllen ihr psychosomatisches Rinder-Gefängnis-Gebrülle, denn selbst im schönsten Sommer müssen sie im stinkigen, dunklen Stall bleiben, wo sie sich nicht rühren können. Natur ist nicht leise, Rinder sind es auch nicht. Während ich mit der rotlackierten Emaille-Milchkanne zu Hempels rüberlaufe (sie haben auch Kühe), habe ich die Bäuerin Hempel neulich im Supermarkt erwischt, als sie Milch im Tetrapak kaufte. Das hat mir zu denken gegeben.

Drehe ich den Kopf nach rechts, stinkt mich Dettmers Misthaufen an. Links riecht Hempels Silagefutter (für Städter: vergorenes Gras). Immer noch besser als Hansens Schweinestall, der bei ungünstigen Wetterlagen direkt unter meinem Küchenfenster zu liegen scheint. Jetzt aber füllt sich mein Wohnzimmer mit dem Dieselabgas von Hempels Traktor. Ich knalle das Fenster zu und versuche, nicht daran zu denken, dass die Schweine früher in meinem Wohnzimmer lebten. Das war schliesslich noch vor dem Umbau.

Ein echtes altes Bauernhaus kann sich heute nur noch ein Bauunternehmer oder ein arbeitswütiger Handwerker leisten. Oder natürlich ein Bauer, das ist ja klar. Dann aber kann man das Haus nicht mehr erkennen, weil Bauern offenbar in den sechziger Jahren eine Weile lang für ihre Milch, ihr Getreide und ihre Kartoffeln mir Glasziegeln und gelben Riffelglashaustüren bezahlt worden sind. Damit haben sie ihren Häusern bei geringem Aufwand ein vollkommen neues Aussehen verleihen können. Das Fachwerk haben sie oft mit grauen lsolierplarren verkleidet, die sonst nur noch für die Therapie hysterischer Schreikrämpfe verwendet werden (wer beim Anblick dieser Bankrotterklätungen moderner Baukunst nicht augenblicklich verstummt, kann damit immer noch niedergeschlagen werden. Dazu haben sie mit grosser Mühe die unpassendsten modernen Fenster aufgetrieben, die zu finden waren. Vermutlich, weil sie suggestive Modellnamen wie Lugano oder Mallorca trugen. Aus ähnlich dunklen Motiven heraus nennt der sonst im allgemeinen deutschtümelnde Provinzler seine Gören heute gerne Kevin und Dennis. Die Töchter heissen, glaube ich, meist auch Mallorca, der Schäferbund aber immerdar Rex.

In den siebziger Jahren haben sie dann Balkone und Terrassen an ihre alten Häuser gestückelt und gelbe Klinker an die Aussenwände geworfen; besonders mutige Zeitgenossen haben das Fachwerk im Giebel ausgehöhlt und statt der Ziegelsteine Glasscheiben zwischen die Balken gesetzt. Dahinter könnten sie ihre ländlichen Produkte mir Preisschildern ausstellen. Lieber hängen sie aber sogenannte Fensterbilder an die Scheiben. Alle haben dann noch einen sonderbaren Windfang angebaut; die absurdesten Modelle wurden jedes Jahr beim Schützenfest prämiert. Seit einiger Zeit, wo nun selbst der Städter grobe Möbel im Landhausstil bevorzugt, besinnen sich die Provinzler wieder auf Sprossenfenster. Recht so möchte man rufen, wenn da nicht Erkerchen, Türmchen und postmoderne Fachwerkgartentempelchen mit ins Kraut geschossen wären. Überflüssig zu sagen, dass der urbane Landhaus-Wohntrend in seiner gemachten Einfachheit mit dem Landleben nichts zu tun hat. Möbel aus Roheisen, Korbgeflecht und matt blau gebeiztem Holz, gar Vorhänge aus sanft gestreiftem Nessel kommen dem Ländler nicht in die Türe. Eiche rustikal, monströse Couchgarnituren und Raffgardinen dürfen es schon sein.

Doch ist der Ländler an sich nicht unmodern. Er fährt z.B. gerne Auto. Was hat er vor der Erfindung der Autoreifen, von denen jeder Bauer eine beachtliche Kollektion unterschiedlicher Stücke in verschiedenen Grössen aufbewahrt, eigentlich getan? Womit hat er seine Futtermieten beschwert, was hat er weiss lackiert, mit Stiefmütterchen bepflanzt und dann im Vorgarten dekorativ den unschuldigen Augen seiner Mitmenschen zum Frass vorgeworfen? Was schliesslich mit Benzin übergossen und im Osterfeuer versteckt! Woraus seine Stilleben am Feldrain gebastelt? (Heinrich Hempel: "Trauriger Traktorreifen mit löchrigem Pestizidkanister", Installation aus verschiedenen Materialien, unverkäuflich.)

In meinem früheren Leben besorgte ich Gemüse und Kräuter auf einem idyllischen, städtischen Wochenmarkt. Viele junge Frauen mit dramatisch grossen und betont rustikalen Körben (Marke achtzehntes Jahrhundert oder dritte Welt) kauften dort ein. Sie träumten von grossen Bauernhäusern, in die sie ihre üppig beladenen Körbe schleppen könnten. Das konnte ich an ihrer folkloristischen Kleidung erkennen und an ihren grossen, grossen Körben. Heute fahre ich mit dem Auto fündundzwanzig Kilometer zu einem Supermarkt amerikanischen Ausmasses, um annähernd dieselbe Qualität und Auswahl wie einst auf dem Wochenmarkt anzutreffen. Junge Leute in Jogginganzügen schleppen dort riesige Plastiktüten mit Konserven und Tiefkühlkost heraus. Die Vermutung, dass Gemüse und Kräuter auf dem Land nicht im Laden zu bekommen sind, weil sie ja jeder selbst anpflanze, ist einer der vielen Lügen über das moderne Landleben, die sich hartnäckig behaupten. 1n Wahrheit haben fast nur ehemalige Städter sogenannte Küchengärten. Die Bäuerin bevorzugt eine umstandslose, dosenöffnerorientierte Küche, und das ist sogar verständlich, denn sie hat ziemlich viel anderes zu tun.

Dennoch bleibt Zeit für den vielgerühmten sozialen Zusammenhalt auf dem Dorfe: Willkommen zur freiwilligen Feuerwehr, herein in den Schützenverein, tritt ein in den Fussballverein, die Kegelrunde, Thekenrunde, mach mit bei Kirchenchor und Kaffeeklatsch, Landfrauenverhand und CDU beglücken am Ende auch du. Denn wer nicht mitmacht, ist verloren. Die berühmte Dorfgemeinschaft gilt nur für Alteingesessene, deren Familien seit mindestens 100 Jahren hier leben, möglichst länger, und solchen, die sich anpassen. Man muss sich eben selbst bemühen, sagte mir die Rübenbäuerin ("wir haben Hackfrüchte") vom anderen Dorfende, die aus der Fremde hineingeheiratet hat. Jetzt, nach fünfzehn Jahren, habe sie schon einige Freundinnen gefunden.

Man muss sich eben selbst bemühen, nicht aufzufallen. Wer von aussen kommt und womöglich studiert hat, klassischerweise also Lehrer, Pfarrer, Arzt und Tierarzt, wird mit aufmerksamer, kritischer Distanz verfolgt. Der Tierarzt nach am wenigstens, weil er gebraucht wird. Allerdings nur für Kühe, Pferde und Schweine; Hunde und Katzen wachsen ja notfalls kostenneutral nach. Es wird geklatscht, geratscht und genörgelt. Dabei interessiert sich der Eingeborene nicht wirklich für fremde Lebensstile, will auch nichts hören aus dem Stadtleben. Allenfalls möchte er die Rocklänge der Frau des Tierarztes diskutieren und die Haarlänge ihres halbwüchsigen Sohnes. Ansonsten weiss er ja, wie das geht mit dem Leben, was wäre ihm noch zu erzählen?

Ländliche Lebensalter werden nach Risikoschüben eingeteilt. Die allerersten Jahre zählen nicht, doch bald schon wird mit auf dem Traktor gesessen, wo ein. frühes Ende in der Häckselmaschine droht. Im Schulalter fällt man von der Hofeiche oder ertrinkt in der Kiesgrube. Nach der Schulzeit trennen sich die Wege der Jungen und Mädchen. Die Jungen lernen schnell das Trinken, die Mädchen verschwinden irgendwie ins Unsichtbare oder in die Häckselmaschine. Manchmal werden sie auch Kassiererin bei Aldi. In der Disco treffen sich die Geschlechter wieder, beim Schützenfest oder Feuerwehrball vielleicht auch. Auf dem nächtlichen Rückweg fahren die Jungen sich tot, weil ihnen der Krieg fehlt. Ihre Angehörigen pflanzen Kreuze und Blumen vor die aggressivsten Chausseebäume, damit kommende Generationen gewarnt sein mögen, (Die ländliche Unbekümmertheit im Autoverkehr ist allerdings auch entlastend. Als ich noch ganz frisch in der Provinz war, habe ich nachts beim Abbiegen versehentlich ein Verkehrsschild angefahren; eins von der blauen, sinnlosen Sorte mit dem Pfeil, die auf Verkehrsinseln steht und nur darauf hinweist, dass man das Schild nicht anfahren soll, sondern rechts daran vorbei. Voller Scham habe ich mich davongestohlen, weil das Schild nun ein wenig schief stand, woraufhin ich gegenüber meiner neuen Heimat ein paar Schildschuldgefühle pflegte. Zwei Wochen danach hatte einer meiner neuen Nachbarn ein Einsehen und fuhr das Schild ganz platt. Ich war ein wenig erleichtert. Noch zwei Wochen danach fuhr dann ein Auto beim Abbiegen in die gegenüberliegende Scheune, in der seitdem ein 2 mal 2 Meter grosses Loch klafft. Jetzt war ich so beruhigt, wie man sein kann, wenn man sich in schlechter Gesellschaft schlecht benommen hat. Das mit dem Fussgänger drei Wochen danach hätte dann allerdings nicht auch noch sein müssen, aber der Ländler macht seine Sache ganz oder gar nicht.)

Die jungen Frauen heiraten früh die überlebenden jungen Männer und kriegen rasch mehrere Kinder. Es kann ihnen gar nicht schnell genug gehen damit, obwohl ihr Schicksal für die nächsten fünfzehn bis zwanzig Jahre sofort besiegelt ist, in denen sie durch Kinderkriegen und Schweinebratenessen Jahresringe zulegen, während sich ihre Mundwinkel dem Gesetz der Schwerkraft beugen werden. Das muss bei der Hochzeit natürlich angemessen gefeiert werden, Eine Woche alkoholseligster Kleinfestlichkeiten geht der Feier voraus, für die die Beteiligten seit frühester Jugend Geld und Schnaps sparen.

Nun beginnt ein geruhsames Lebensalter, in dem ausser dem Jagdunfall nur wenig Todesarten dräuen. Die Geschlechter gehen aber trotz Verehelichung weiterhin getrennte Wege. Auf ländlichen Feierlichkeiten bilden sich Gesprächsgruppen, die nach dem Kriterium des kleinen Unterschieds zusammengestellt bzw. getrennt aufgestellt werden. In so einem Grüppchen mit Frauen dreht sich das Gespräch um Kinder und Avonkosmetik, allenfalls noch um die Ehemänner. Das sind die, die von den Feiern meistens später und blauer nach Hause kommen. Das sind aber auch die, wegen deren eventueller Bedenken ein Kegelclub gestandener Dreissigerinnen gleich im vorauseilenden Gehorsam eine geplante Radtour mir Zelten in der "Wildnis" (etwa zwei Kilometer entfernt vom Dorf) abbläst. Es könnte ja sein, dass "unsere Männer" das komisch finden. Ja, das könnte sein. Es könnte aber auch sein, dass sie ein bisschen komisch sind. Wenn jemand zum Beispiel "abblasen" sagt, stossen sie sich an und kichern verschämt. "Blasen - hahaha", sagt dann der eine, "pass man auf, dass sie dir nichts abbläst - huhuhu", lacht der andere zurück, damit man sieht, dass er auch Humor hat.

Die Männer interessieren sich für Fussball, Bier und Autos (und für Abblasen, natürlich), Wenn sie älter werden, auch für sonderbare politische Verschwörungstheorien. Am Ende sitzen sie dann nur noch vor dem Fernseher, während die Frauen in der Familie aufgehen. Das letzte Risiko, der Tod durch Langeweile. So schliesst sich der ländliche Lebenskreis.

Natürlich wäre noch die Arbeit zu nennen. Überhaupt wird nämlich auf dem Land von morgens bis abends von allen Generationen geschuftet für kargen Lohn, da klagt der Bauer zu Recht. Es lohne sich nicht mehr, auch, weil die Söhne (und Töchter) für die Landwirtschaft nicht mehr zu gewinnen sind und in die Städte fliehen. Statt ihrer ziehen Ex-Städter in den ehemaligen Schweinestall ein, die von nichts eine Ahnung haben, aber meckern, wenn abends um halb elf die Pumpe noch läuft oder wieder Agent Orange auf die Felder gesprüht wird, um das Kartoffelkraut flachzulegen. Nein, die Städter kriegen ja Geld dafür, dass sie den ganzen Tag mit dem Arsch auf dem Bürostuhl sitzen; wenn so einer "Hühner-KZ" zum Stolz des Hofes sagt, kann man das nicht ernst nehmen. Zwischen die Augen kann er aber gerne haben, das braucht er nur zu sagen, da sind wir nicht kleinlich.

Selbstbewusst ist er nämlich, unser Bauer, bis der Tag kommt, wo ihm die Raiffeisenkasse sagt, dass es so nicht mehr weiterläuft. Oft geht es dann nur noch darum, den richtigen Zeitpunkt für die Aufgabe zu erwischen, die Maschinen günstig zu verkaufen und ein paar Stillegungssubventionen mitzunehmen. Eine Weile kann das so passieren - die Kleinen geben auf, verpachten und verkaufen an die Grossen oder treiben nach ein bisschen Landwirtschaft im Nebenberuf. Dann jedoch wird der Strukturwandel auf dem Land auch dem unbewaffneten Städter-Auge sichtbar werden. Eine fremde, archaische Kultur geht zu Grunde, und die Landschaft wird mitgehen - denn was soll aus den Brachflächen werden? Golfplätze für Städter vielleicht, mir Parkplätzen, Spielplätzen, Bauplätzen und Picknickplätzen drumherum. Wahrscheinlich auch mit Guck-mal-da-ein-Mähdrescher-Plätzen, Landluft-Einatme-Plätzen und Hier-soll-es-früher-mal-ganz-schön-gewesen-sein-Plätzen. Ich ziehe dann aber an einen der daraufhin wieder attraktiven Wie-unwirtlich-sind-doch-unsere-Grossstädte-Plätze und erzähle meinen Enkeln, wie ich einst aus meinem Schlafzimmerfenster den Storch sehen konnte und auf meinem Abendspaziergang einmal die einzige Zeugin war, als Fuchs und Hase sich gute Nacht sagten.

aus:

S u s a n n e F i s c h e r,

K a u f t k e i n e F r a u e n a u s B o d e n h a l t u n g

 


(axelf.de / axelh.de)