Vorwort
Russischsprechende Queers in Berlin vom 17. bis zum 21. Jahrhundert — so gut wie jedes Wort in diesem Titel öffnet eine Pandorabüchse von Fragen. Was verstehen wir unter „russischsprechend“? Was unter „queer“? Und wieviel Zeit muss mensch in Berlin verbracht haben, um in diese Liste zu kommen?
Fangen wir mit „Queers“ an. So definieren wir Menschen, die mit ihrer Gender-Identität und/oder Sexualität von der „Norm“ (Heterosexualität, binären Geschlechtertrennung, patriarchale Modelle) abweichen. Natürlich ist es eine Verallgemeinerung, denn in vergangenen Jahrhunderten gab es solche Konzepte nicht.
Jeder Mensch, der nicht in die heteronormative Dichotomie passte, musste die Frage „wer bin ich?“ selbst beantworten, sich selbst erfinden, eine einzigartige persönliche Identität schaffen und manchmal sogar eine eigene Gender-Theorie entwickeln.
Wir reden von „russischsprechenden“ und nicht etwa von „russischen“ Menschen, da der russische Staat seit dem 16. Jahrhundert und bis heute ein Kolonialreich ist, der sich viele Völker und Länder einverleibt hat. Die russischspraechenden Queers in Berlin gehör(t)en verschiedenen Kulturen an: Es sind Russ*innen und Ukrainer*innen, Jüdinnen und Juden, Deutsche und Aseris, und viele mehr. In ihren Heimatländern war Russisch eine ihrer Sprachen gewesen; in Berlin wurde sie zur Lingua franca. Gerade nachdem Russland einen neuen Krieg entfesselt hatte, wollen wir betonen: Weder die Geschichte Russlands noch die Geschichte der russischsprechenden Diaspora ist auf die Geschichte ethnisch russischer Menschen reduzierbar.
Was verstehen wir nun unter „in Berlin“? Es geht um alle möglichen Aufenthaltsformen. Einige unserer Protagonist*innen kamen als Reisende nach Berlin, andere als Studierende. Sie kamen, um zu arbeiten oder um sich behandeln zu lassen – wegen einer realen Krankheit wie Tuberkulose oder einer imaginären Krankheit wie Homosexualität. Sie kamen, um Krieg und Repression zu entkommen. Heute sehen wir all das wieder. Die Gesellschaft blickt in den Spiegel der Vergangenheit.
In diesem Beitrag wenden wir uns der Geschichte der russischsprechenden Queers in Berlin zu, auf der Suche nach den Wurzeln ihrer Identität, in Bezug nicht nur auf Sexualität und Gender, sondern auch auf das nationale, bürgerliche und soziale Selbstverständnis.
Wer sind wir? Zu wem werden wir in Berlin? Was verbindet und was trennt uns? Was sind unsere Werte? Wie sollen und wollen wir sprechen? In welcher Sprache, mit welchen Worten und worüber? Während diese Fragen nie erschöpfend beantwortet werden können, kommt kein Antwortversuch ohne Bezug auf die Geschichte aus. Wenn wir die früheren Generationen ehren, versuchen wir gleichzeitig, die Herausforderungen von gestern und heute zu begreifen, Lehren zu ziehen, Lösungen und Hoffnungen zu finden.
Die vier Jahrhunderte, die wir uns ansehen, decken viele relevante Themen ab: kulturelle Expansion und Austausch, genderbezogene und nationale Emanzipation, die Konstruktion von Homophobie und das Aufkommen von Menschenrechten, Totalitarismus und Krieg, Migration und Flucht. Die klassische Geschichtswissenschaft hat das Leben von Frauen und queeren Menschen lange ausgeblendet (worunter lesbische Lebensgeschichten doppelt litten). Radikal könnte man alle Frauen als queer definieren, die gegen die starren patriarchalischen Haltungen der Vergangenheit kämpften und die Rolle der „neuen Frau“ erfanden. In unserer Liste haben wir bewusst versucht, ein Gleichgewicht zwischen den Geschlechtern herzustellen, um historische Diskriminierung auszugleichen.
Die Liste der hier aufgeführten queeren Menschen ist natürlich nicht vollständig. Zahllose russischsprachige Queers, die einmal in Berlin gelebt haben, sind uns schlichtweg nicht bekannt. Heute fürchten sich manche, ihren Namen zu nennen oder schämen sich immer noch ihrer Homosexualität – auch nachdem sie schon lange in Berlin gelebt haben. Was Sie jetzt lesen, spiegelt nicht den kompletten Umfang unserer Recherchen wider. Unsere Website wird ständig aktualisiert. Im Zuge der Recherchen haben wir uns auch mit anderen russischsprachigen Queers befasst, die eine Verbindung zu Berlin haben, darunter: Nikolai Gogol, Alexander Iwanow, Andrei Bely, Georgi Adamowitsch, Sascha Schneider, Lou Andreas-Salomé, Tamara de Lempicka, Vaslav Nijinsky, Serge Lifar, Alexandra Kollontai, Sergei Eisenstein, Rudolf Nurejew, Jaroslav Mogutin, Timur Novikov, Sergej Newski, Bulat Barantaev, Andrey Ditzel, Nikolai Iwanow, Karen Shainyan, Vika Biran und Saltanat Shoshanova.
Die 2011 in Berlin gegründete LGBTQ*-Organisation Quarteera (auf der diese Initiative basiert) wächst und gedeiht dank russischsprachiger queerer Menschen aus Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Estland, Georgien, Deutschland, Israel, Kasachstan, Kirgisistan, Lettland, Litauen, Moldawien, Russland, Tadschikistan, Turkmenistan, der Ukraine und Usbekistan. Mitbegründet wurde sie von Zlata Bossina und Artyom Uspensky.
Für die Hilfe bei der Vorbereitung dieses Projekts danken wir Dmitry Volchek, Olga Horoschilowa, Irina Roldugina, Mahide Lein, Grigory Arosew, Konstantin Kropotkin, Andrey Ditzel, Alexandra Berlina, Nadia Plungian, Olgerta Haritonova, Maria Beketova, Fjodor Sofronow, Ksenia Alexandrova, Lina Hesse und Andreas Strohfeldt.
Diese Initiative wurde mit Unterstützung des Senats von Berlin realisiert. Auf Papier existiert sie als Album-Broschüre auf Russisch:
Woskresensky-Stekanow, Peter; Gutmacher, Tata; Kilber, Wanja. Russkojasytschnyje Kwiry w Berline w XVII-XXI ww. / herausgegeben von Ksenia Aleksandrova, ill. Galya Pantschenko. Berlin: Quarteera, 2023. - 36 S. - 1000 Exemplare.
Die Broschüre ist im Quarteera Community-Zentrum in Berlin erhältlich.
Wenn Sie neue Protagonist*innen vorschlagen möchten, wenden Sie sich bitte an wanja@quarteera.de.
Peter Voskresensky-Stekanov
Tata Gutmacher
Wanja Kilber
Übersetzt von Alexandra Berlina
2024, Berlin
Verzeichnis:
Die Recherche wurde durchgeführt von: Peter Voskresensky-Stekanov, Tata Gutmacher, Wanja Kilber
Gefördert von der Landesstelle für die Gleichbehandlung - gegen Diskriminierung (LADS)
Herausgegeben von Quarteera e.V.
Porträt von Peter I. Künstler Pieter van der Werf. 1697
Diplomatisches Geschenk Berlins an Alexander II. Eremitage.
Der erste Imperator Russlands, ein reformorientierter Zar, der die Entwicklung des Staates für die nächsten Jahrhunderte bestimmte.
Nachdem er in seiner Jugend deutsche Kolonisten kennengelernt hatte, wurde Peter ein glühender Verfechter pro-europäischer Reformen. Dazu gehörte zum Beispiel die obligatorische Rasur von Bärten, die in der russischen Gesellschaft auf Widerstand stieß, da sie traditionell mit passiver Rolle bei Homosexualität assoziiert wurde.
1706 reformierte Peter mit Hilfe des Berliner Gelehrten Heinrich von Huyssen das Militärstatut nach dem deutschen Recht. Darin wurden gleichgeschlechtliche Beziehungen unter Strafe gestellt. Damit wurde Homosexualität in Russland zum ersten Mal kriminalisiert.
Gleichzeitig war Peter selbst äußerst expressiv und wild, auch in Bezug auf die Sexualität. Es ist bekannt, dass er zahlreiche Beziehungen zu Frauen hatte. Zugleich gibt es viele indirekte Hinweise auf Beziehungen zu Männern. Zu seinen wahrscheinlichen Liebhabern gehören Alexander Menschikow und Pavel Yaguzhinski.
1697 besuchte Peter im Rahmen der Großen Gesandtschaft erstens Berlin, weitere Besuche folgten – 1717, zum Beispiel. Bei diesem Besuch war er von einer phallischen Skulptur aus der Sammlung des preußischen Königs so begeistert, dass er seine Frau dazu brachte, sie in aller Öffentlichkeit zu küssen. Er bat, ihm die Statue zu schenken. Im selben Jahr erwarb er eine Skulptur des Schlafenden Hermaphroditen, die er sehr schätzte – eine Kopie der antiken Statue, die zu allen Zeiten als Symbol für Geschlechtsnonkonformität galt.
Porträt von Ekaterina Dashkova. Unbekannter französischer Künstler. Ca. 1780. Privatsammlung
Philosophin, Vertraute Katharina der Großen, Leiterin der Russischen Akademie der Wissenschaften.
Die Fürstin Ekaterina Daschkowa, geborene Woronzowa, war auch als „Katharina die Kleinere“ (im Vergleich zu Katharina der Großen) bekannt. Als Staatsfrau, Schriftstellerin, Erzieherin, Gelehrte und Sammlerin war diese emanzipierte Frau im Russland des 18. Jahrhunderts eine der schillerndsten Figuren ihrer Zeit.
Aufgewachsen im Haus ihres Onkels, wurde sie auf ein Dorf weggeschickt, als sie an Masern erkrankte. Dort wurde das Lesen zu ihrer lebenslangen Liebe.
Eines Tages ließ die künftige Zarin Katharina ihren Fächer fallen; die junge Fürstin hob ihn auf – und eine komplizierte Freundschaft nahm ihren lauf. Über das Ausmaß der Beteiligung der Fürstin am Staatsstreich von 1762 zugunsten von Katharina II. lässt sich streiten, sie selbst aber fand die eigene Rolle darin groß. Übrigens verkleidete sie sich zu dieser einmal als Mann – und niemand erkannte die Fürstin in ihrer Preobraschenski-Uniform und mit Säbel in der Hand!
Danach lief es nicht einfach: Eifersucht, komplizierte Beziehungen zu den Günstlingen Katharinas II wie Graf Orlow, Entfremdung von der gekrönten Freundin, ein Leben fern vom Zarenhof…
Daschkowa besuchte Berlin, reiste durch Europa und traf berühmte Persönlichkeiten wie Diderot. Später leitete sie die Russische Akademie für Literatur und arbeitete am ersten russischen Definitionswörterbuch mit. Ihre wissenschaftlichen Verdienste wurden auch in Deutschland anerkannt: 1789 wurde sie als erste Frau (!) in die Deutsche Akademie der Naturforscher „Leopoldina“ (heute: Nationale Akademie der Wissenschaften) aufgenommen.
In Spa, Belgien, lernt sie Lady Catherine Hamilton, Tochter des Erzbischofs von Tuam, kennen und kommt ihr näher. Zwanzig Jahre später, als Hamiltons Nichte Mary Wilmot die Fürstin Daschkowa auf dem Lande besucht, trägt diese den Schal, den Catherine Hamilton ihr damals geschenkt hatte.
Sie verliebt sich nun leidenschaftlich in Mary, und schenkt ihr, schreibt Alexander Herzen, die „Zuneigung einer Mutter, Schwester und Geliebten“. Ihr widmete „Katharina die Kleinere“ ihre Aufzeichnungen, die das schillernde 18. Jahrhundert und seine Rolle darin spiegeln.
Porträt von 1816 von Orest Kiprensky. Tretjakow-Galerie
Präsident der Akademie der Wissenschaften, Gründer der St. Petersburger Universität, Bildungsminister
1815 gründete Sergej Uwarow den literarischen Klub „Arzamas“, der mehrere queere Mitglieder hatte, wie zum Beispiel Philip „Ivikov“ Vigel, Wasili „Swetlana“ Zhukovsky und Sergei Rumyantsev. Uwarow selbst trug in dieser Gruppe den Spitznamen „die alte Dame“.
Uwarow besuchte Berlin mehrmals. Als Staatsmann führte er Reformen nach dem Vorbild der Berliner Königlichen Akademie durch. Uwarow er korrespondierte mit den Brüdern Humboldt und Goethe. Als Leiter der Russischen Akademie stellte er 1833 in Opposition zum französischen Revolutionsmotto „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ sein eigenes Motto vor: „Orthodoxie, Autokratie, Nationalität“. Diese Losung bildete die Grundlage einer neuen Staatsideologie, die sich unter deutschem Einfluss herausbildete und die europäischen Monarchien in der „Heiligen Allianz“ vereinigte. So wurden bereits 1835 nach deutschem Vorbild gleichgeschlechtliche Beziehungen zum Straftatbestand erklärt.
Uwarow selbst hatte aber, trotz Gattin und Kinder, eine lange Affäre mit dem Fürsten Mikhail Dondukov-Korsakov. Er übertrug ihm sogar den Posten des Vizepräsidenten der Akademie. Diese Ernennung wurde von Alexander Puschkin verspottet, der ein bissiges Epigramm schrieb. Das Epigramm verbreitete sich in ganz St. Petersburg, aber seine Helden wurden nicht für den Verstoß gegen das neue Gesetz bestraft.
Einer der meistgespielten Komponisten der Welt
Die erste Biographie, die von seinem Bruder Modest verfasst wurde, klammert das Thema der gleichgeschlechtlichen Liebe völlig aus. Im offiziellen Kontext war die Leidenschaft, die Tschaikowskis Leben mit Qualen erfüllte, lange Zeit tabu. Doch in der Korrespondenz des Komponisten finden sich alle Details.
Einmal unternahm Tschaikowski zwar den Versuch, eine Frau zu heiraten, aus ihm wurde aber nicht. Dafür war er oft verliebt – stets in Männer. Seine erste Liebe war der Klassenkamerad Sergei Kireyev; gleichzeitig begann auch die Freundschaft mit Apukhtin, genannt Ljolja. Er hatte zärtliche Gefühle für den jungen Geiger Joseph Kotek und war sehr eifersüchtig auf ihn, auch auf seine Beziehungen zu Frauen.
In Tiflis duellierte sich seinetwegen der junge Offizier Wanja Werinowski; ein gewisser Eduard Zak beging Selbstmord. Zudem gab es in seinem Leben den Bademeister Timoscha, den Diener Sascha Legoschin und mehrere Dorfbekanntschaften…. Einer seiner Liebhaber war sein Diener Alexej Sofronow. Tschaikowsky kümmerte sich um seine Bildung und Kleidung, schrieb ihm zärtliche Briefe, als er bei eingezogen wurde. Alexej wurde sein Erbe, ebenso wie seine letzte Liebe, sein Neffe Wladimir Dawydow.
Aber es gab auch eine Frau, die in Tschaikowskis Schicksal eine wichtige und positive Rolle gespielt hatte. Nadeschda von Meck zahlte Tchaikovsky 14 Jahre lang eine Art Stipendium, damit er sich auf das Komponieren konzentrieren kann, ohne unterrichten zu müssen. Sie haben sich nie getroffen, nur Briefe geschrieben. Ihr widmete er seine vierte Symphonie, ohne den Namen zu nennen: „Meiner besten Freundin“.
Ab 1861 war Tschaikowski sehr oft in Berlin, von 1868 bis 1893 fast jährlich, entweder auf Konzertreise oder privat. Seine Kompositionen wurden zu seinen Lebzeiten hier gedruckt und aufgeführt; einige wurden hier geschrieben.
Ukrainische Dichterin und Schriftstellerin, Aktivistin der revolutionären, nationalen und feministischen Bewegungen.
In ihrer Kindheit wurde Lesya stark von ihrer Familie beeinflusst, vor allem von ihrer Mutter und ihrer Tante, die beide politisch aktiv und emanzipatorisch tätig waren.
Lesja wurde zu einer wichtigen ukrainischen Literatin. Die Ideen der Befreiung von der Tyrannei, der nationalen und geschlechtlichen Selbstbestimmung sind in ihrem Werk entscheidend.
An Tuberkulose erkrankt, wurde Lesya mehrmals im Ausland behandelt. 1891, in Wien, liest sie die Erzählung „Die Zarewna“ der ukrainischen Kultliteratin und Frauenrechtlerin Olga Kobylianska – und war zutiefst beeindruckt von der ausdrucksstarken weiblichen Subjektivität des Werks. 1899, während einer Behandlung in Berlin, beginnt Lesya, der Autorin zu schreiben, bald kommt es zu einem persönlichen Treffen.
1901, nachdem ihr Freund und Geliebter an Tuberkulose stirbt, fährt Lesya zu Olga. Während dieses Besuchs kommen sich die beiden sehr nahe. Ihr Briefwechsel wird immer intensiver und offener. Dabei benutzten sie einen Code, sowohl um ihre Beziehung zu verschleiern, als auch um ein neues Verständnis von Geschlecht und Beziehung zu konstruieren. Sie wechseln zwischen ukrainischen und deutschen Wörtern, verwenden unpersönliche Pronomen. Diese Korrespondenz wird von der Forschung als ein wichtiges Denkmal lesbischer Sinnlichkeit angesehen. Diese Motive finden sich auch in Lesyas Werken wie „Waldlied“ und „Der Blinde“ wieder. In einem ihrer letzten Briefe an Olga schrieb sie, halb auf ukrainisch halb auf Deutsch: „weil jemand und jemand anders, die gehören zusammen. Man muss jemanden lieben“.
Revolutionär, Diplomat, Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten der Sowjetunion
Georgi Tschischerin war seit seiner Schulzeit ein enger Freund des Dichters Mikhail Kuzmin und hatte großen Einfluss auf ihn. Neben der Homosexualität verband die beiden ihre Liebe zur Musik.
1898 begann Tschischerin im Außenministerium zu arbeiten. Im Jahr 1904 zog er nach Berlin. Es wird vermutet, dass er dort versuchte, sich von seiner Homosexualität zu „heilen“. In Berlin betätigte sich Tschischerin aktiv in der linken politischen Szene, wurde aber 1907 verhaftet und ins Exil geschickt.
Nach der Oktoberrevolution in Russland wurde Tschicherin Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten der Sowjetunion, also faktisch Außenminister. In diesem Amt legte er den Grundstein für die diplomatischen Beziehungen mit anderen Ländern. Gleichzeitig holte er sich Menschen seines Vertrauens ins Ministerium. Viele von ihnen waren homosexuell.
1928, ebenfalls nach einem Konflikt mit der OGPU, ging Tschicherin unter dem Vorwand einer medizinischen Behandlung nach Berlin. 1930 kehrte er jedoch auf Anweisung Stalins zurück. Nach seinem Rücktritt lebte er bis 1936 zurückgezogen. Einige Forscher*innen vermuten, dass er vergiftet wurde.
Die Verabschiedung des Anti-Homosexualitätsgesetzes durch Stalin 1933 richtete sich nach Ansicht einiger Historiker*innen speziell gegen Tschitscherins verbliebene Mitarbeiter im Außenministerium. 1934 kam es zur „Florinski-Affäre“, in deren Folge viele Diplomaten unter dem formalen Vorwurf der Homosexualität verfolgt wurden.
Schauspielerin, erster Broadway- und Hollywoodstar aus Russland
Alla (Marem-Ides) wurde in Jalta in eine wohlhabende jüdische Familie, die Leventons, hineingeboren. Eine nahezu mutterlose und zutiefst traumatische Kindheit mit gewalttätigem Vater und sexuellem Missbrauch durch einen Verwandten. Musikunterricht. Ihr Vater wollte nicht, dass sein Name bei einem Kinderkonzert genannt wird, daher das Bühnenpseudonym: Der Nachname kommt aus einem Buch, den Vornamen Alle hatte ihre Mutter gemocht. Ihre Vergangenheit verheimlichte sie anschließend sorgfältig.
Es gelang ihr, bei Stanislawski höchstpersönlich Schauspiel zu lernen. Um die Jahrhundertwende begann sie zu spielen. Sie heiratete Sergei Golovin, einen Schauspielerkollegen, es war aber eher eine Scheinehe.
Sie begann, in der Provinz zu spielen, lernte Pavel Orlenev kennen, einen erfolgreichen Schauspieler mit abenteuerlichem Charakter. Er spielte eine große Rolle in ihrem Schicksal und ihrer künstlerischen Laufbahn; er brachte sie nach Europa und dann nach Amerika.
Ihre Weltkarriere beginnt am 5. Dezember 1904 in Berlin, wo Orlenevs Truppe – die St. Petersburger Schauspielgesellschaft – das Stück „Die Juden“ von Tschirikow aufführt, nach den Pogromen von 1903 verfasst.
In New York lernt sie schnell die Sprache und begeistert das Broadway-Publikum mit Interpretationen von Ibsens Stücken „Hedda Gabler“ und „Das Puppenhaus“, was vielleicht auf die Stanislawski-Schule zurückzuführen ist. Sie lernt Charles Bryant kennen, der ihr Lebensgefährte und Kollege für viele Jahre werden sollte.
Ihr erster Film ist „War Brides“. Sie schließt einen Vertrag mit Lewis Selznick über 30.000 Dollar mit großem Bonus ab. Als sie 1917 einen 5-Jahres-Vertrag mit den Metro Studios für 13.000 Dollar pro Woche unterzeichnet, wird sie zur bestbezahlten Schauspielerin. Sie kann nun wählen, was und mit wem sie spielt.
1918 kauft sie eine Villa am 8080 Sunset Blvd. und richtet einen paradiesischen Garten mit Swimmingpool ein. Dort versammelt sich die Elite der Hollywood-Gesellschaft. Man nannte den Ort scherzhaft „Garden of Allah“ – der Garten Alla(h)s.
Ihre Bisexualität verheimlichte sie nie. Zu ihren Geliebten zählten Tallulah Bankhead, Jean Ecker, Maud Adams, Eva Le Gallienne und die Dichterin Mercedes de Acosta. Angeblich ließ sich Charlie Chaplin wegen ihr von seiner ersten Frau scheiden.
Film und Theater begleiteten sie für den Rest ihres Lebens, auch nach Brustkrebs und einer Mastektomie. Sie hat einen Stern auf Hollywoods Walk of Fame.
Die erste Drag-Ballerina der Welt
Seine Eltern wollten, dass Nikolai Barabanov Jura studierte, aber er war fasziniert von der Revolution, dem Theater – und dem Sammeln von Fächern. Er fühlte sein Anderssein. Der Auftritt von Isadora Duncan im Jahr 1908 verblüffte ihn und veranlasste ihn zu einer persönlichen Revolution: Er_sie wurde zu Ikarus – einer Drag-Ballerina. Sein Pseudonym wurde wahrscheinlich durch Michail Kusmins zwei Jahre zuvor veröffentlichtes Queer-Manifest „Die Flügel“ inspiriert.
Von Amateuraufführungen kam es bald zu der großen Bühne des Theaters „Krivoje zerkalo“ – „Der Zerrspiegel“. Obwohl es ihn verletzte, als komischer Künstler gesehen zu werden, fand er Trost in der großen Popularität und der Möglichkeit, seiner Identität näher zu sein. Es sind zahlreiche Fotos von ihm erhalten geblieben. Ikarus spielte auch in Filmen mit.
1917 verließ Nikolai-Ikarus Russland und reiste viel in Europa, fand aber kein Zuhause. Eine Zeit lang lebte er in Berlin, wo er das russische Jugendtheater leitete. Eine enge Freundschaft verband ihn nur mit Marina Zwetajewa. Er kooperierte mit den sowjetischen Behörden, was ihm 1947 die Rückkehr in die Sowjetunion ermöglichte. Ab 1952 lebte der Tänzer im „Haus der Bühnenveteranen“, wo er zwei Jahrzehnte später starb.
Eine der ersten und wichtigsten Stimmen der queeren Emanzipation in Russland
Nika Poljakow wurde in einer Bauernfamilie in der Provinz Irkutsk geboren. Mit 19 wurde er von seinen Eltern zur Heirat gezwungen. Die Ehe fruchtete nicht, da er sich nicht zu Frauen hingezogen fühlte. Nika war sehr besorgt um seine Frau, die er ebenfalls als Opfer der Zwangsehe betrachtete.
1907 lernte er Stepan Minin kennen und verliebte sich. Ein Jahr später begannen sie, als Familie zu leben – und setzten sogar einen improvisierten Ehevertrag auf.
Obwohl Stepan ebenfalls aus bäuerlichen Verhältnissen stammte, inspirierte er Nika dazu, eine Ausbildung zu machen. Zu diesem Zweck zogen sie nach Moskau, lernten Deutsch und gingen 1914 nach Berlin, wo sie die deutsche Kultur kennenlernten. Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurden sie verhaftet. 1918 kehrten sie nach Russland zurück und nahmen auf der Seite der Roten am Bürgerkrieg teil.
1925 schrieb Nika, der damals in Odessa lebte, einen Brief an den Psychiater und Wissenschaftler Wladimir Bechterew. Darin formulierte er eine Art Gender-Theorie, kritisierte das Patriarchat, reflektierte über die individuelle und gruppenbezogene queere Identität und forderte die Anerkennung der queeren Bürgerrechte.
1933 gehörten Nika und ihr Mann zu den ersten Opfern der politischen Repressionen Stalins gegen Homosexuelle. Die OGPU verhaftete sie in Leningrad, und der Sonderrat verurteilte sie wegen „konterrevolutionärer Tätigkeit“ – womit ihre Homosexualität gemeint war – zu einer Gefängnisstrafe. An dieser Stelle endet die Geschichte von Nika und Stepan.
Im Jahr 2021 schuf der offen schwul in Berlin lebende Komponist Sergei Nevsky eine Doku-Oper, die auf dem Leben von Nika und seinem Ehemann basiert: „Die Einfachen“.
Dichterin und Schriftstellerin
Marina Zwetajewa war eine der führenden Persönlichkeiten der russischen Moderne. Ihr Leben und Werk waren unter anderem von Bisexualität und Androgynie geprägt. Gleichzeitig verteidigte Marina vehement das Recht, Dichter und nicht Dichterin genannt zu werden.
1911 lernte sie den Schriftsteller Sergej Efron kennen. Aus der Ehe gingen bald zwei Töchter hervor. Obwohl die Beziehung des Paares bis zu ihrem Tod dauerte, war sie nicht exklusiv. Im Jahr 1914 begann Marina eine Affäre mit der Dichterin Sofia Parnok. Die Frucht dieser rücksichtslosen Liebe war Zwetajewas lyrischer Zyklus „Freundin“. DIhre Beziehung, die in der Öffentlichkeit großes Aufsehen erregte, endete mit einem schwierigen Bruch. 1918 lernte Marina die Schauspielerin Sophia Golliday kennen. „Das Märchen von Sonechka“ und der Zyklus „Gedichte an Sonechka“ sind dieser zweiten Beziehung gewidmet, die etwa ein Jahr dauerte.
In den Hungerjahren während der Revolution und des Bürgerkriegs starb Marinas jüngste Tochter. 1922 folgten Zwetajewa und ihre älteste Tochter Ariadna ihrem Mann ins Exil. Sie wurden in Berlin wieder vereint. Ein Sohn, George, wurde im Exil geboren. Dann zog die Familie nach Paris. Dort ließ sich Marina von der literarischen Kultfigur und offenen Lesbe Natalie Barney inspirieren. Ihr Bild wurde zum Prototyp für den Adressaten von Zwetajews „Brief an die Amazone“.
In Paris begann Sergej Efron mit den sowjetischen Geheimdiensten zusammenzuarbeiten. 1939 kehrte Marina zusammen mit ihrem Mann und ihrer Tochter in die UdSSR zurück und lebte in der NKWD-Datscha in Bolschewo. Doch schon bald verhafteten die Sicherheitsbeamten nacheinander ihre Tochter und ihren Ehemann. Am 31. August 1941 beging Marina vor dem Hintergrund des „Zusammenbruchs der Welt“ und wahrscheinlich der Provokation der Geheimpolizei Selbstmord. Ihr Mann wurde anderthalb Monate später erschossen. Der Sohn starb im Krieg. Die Tochter überlebte. Aber ihre Gedichte erwiesen sich als unsterblich.
Soldatin/Offizierin im Ersten Weltkrieg und im Russischen Bürgerkriegs, die als Mann kämpfte
Maria Borch stammte aus einer alten Grafenfamilie. Schon in ihrer Jugend, als sie im Laientheater spielte, wählte sie männliche Rollen. Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde Borch Krankenschwester. 1916 meldete sie sich als Wladimir Borch in einem Männeranzug als Freiwillige*r beim lettischen Schützenbataillon. Ein Augenzeuge schrieb später: „Ich muss sagen, dass es unmöglich war, zu erkennen, dass sich unter der Uniform, der männlichen Frisur, der schlanken Figur und den maskulinen Manieren eine Frau verbarg. Sie sprach von sich ohne Fehler im männlichen Geschlecht. All das hat sich im Laufe der Zeit herausgebildet und war völlig natürlich“. Für die Kämpfe bei Riga wurde Borch mit einer Medaille ausgezeichnet.
Nach einer schweren Verwundung wurde Borch hinter die Front geschickt. Nach seiner Genesung trat er/sie in die Militärfliegerschule in Gatschina ein, wo er/sie an Trainingsflügen teilnahm.
Während des Bürgerkriegs wurde Borch im Rang eines höheren Unteroffiziers in die Nordwestarmee eingezogen und mehrmals als Geheimkurier nach Finnland und Lettland eingesetzt. Borch ließ sich auch zum Panzersoldaten ausbilden. 1919 nahm er als Mitglied des Panzerstreikbataillons am Angriff auf Petrograd teil. Nach dem Amtsantritt von General Peter von Glasenap, dem Oberbefehlshaber der Armee, bat Borch, in der Armee bleiben zu dürfen. Da sie mehrere Sprachen beherrschte, wurde sie zu*m Sekretär*in des Generals.
1920 wurde Borch auf die Krim evakuiert und emigrierte von dort nach Deutschland. 1921 heiratete sie in Berlin den Generalen von Glasenap. 1925 bekam sie eine Tochter. Borch gilt als Begründerin der Mode à la garçon in den 1920er Jahren, der sie bis an ihr Lebensende treu blieb. Kurz vor Borchs Tod wurden ihre Memoiren veröffentlicht.
Dandy, Schöngeist, Dichter
Nabokov wurde am 12. März 1900 in St. Petersburg geboren – das zweite von fünf Kindern in der Familie, der jüngere Bruder des Schriftstellers Vladimir Nabokov.
1915 fand Vladimir sein intimes Tagebuch. Die Erkenntnisse erreichten seinen Vater, woraufhin Sergej von der Tenischewski-Schule auf ein anderes Gymnasium versetzt wurde. Wir kennen die Einzelheiten nicht, aber dieser Konflikt lastete schwer au der Beziehung zwischen den beiden Brüdern, und auch für den Rest der Familie wurde Sergej damit zu einem schwarzen Schaf.
Sergej Nabokov floh 1919 mit seiner Familie aus Russland und studierte anschließend Literatur in Oxford und Cambridge. Nach dem Tod seines Vaters ging er nach Paris und lernte dort 1924 Joseph Czapski kennen, wegen dem er zum Katholizismus konvertierte. Ihre Affäre dauerte bis zum Sommer 1926.
Spätestens im Frühjahr 1932 lernte er Hermann Thieme kennen, einen wohlhabenden, zehn Jahre älteren Mann. Das Liebespaar lebte in Paris sowie im Schloss von Matrai, wo sie 1941 vier Monate lang verhaftet wurden. Nach ihrer Freilassung wurde Thieme an die Front geschickt, und Sergej ging nach Berlin, weil er nirgendwo anders hin konnte. Er arbeitete in einem Propagandabüro und stand ständig unter Beobachtung. Nicht einmal die deutsche Kriminalpolizei wusste von irgendwelchen Verbindungen nach seiner Trennung von Thieme. Er blieb seinem Geliebten bis zum Schluss treu. Ende 1943 wurde er erneut verhaftet.
Sergej Nabokov (Häftling 28631) starb am 10. Januar 1945 im Konzentrationslager Neuengamme, nur ein paar Monate vor der Befreiung des Lagers.
Musiker und Künstler. Mitglied der Band Kino, ein Rave-Pionier Russlands, Mitglied der künstlerischen Neuen Akademie
1982 lernte Georgi Gurjanow, ein aufstrebender Musiker, Viktor Tsoi kennen. Zwei Jahre später begann er in der Band Kino als Schlagzeuger und Backgroundsänger zu spielen. Das wohl berühmteste Album der Band, „Gruppa krowi“ (Blutgruppe), wurde in Gurjanows Wohnung aufgenommen. Der Rocker wirkte auch in der Band Pop Mechanika von Sergei Kuryokhin und in anderen Musikprojekten mit.
Zusammen mit dem Modedesigner Konstantin Gontscharow beeinflusste Gurjanow, der ein großer Dandy war, den Kleidungsstil der Musiker und das Image der Band Kino.
1979 lernte Gurjanow Timur Novikov kennen – den Anführer des Leningrader künstlerischen Untergrunds. Er wurde Mitglied seiner Vereinigungen „Neue Künstler“ und „Neue Komponisten“. Nach dem Tod von Tsoi beteiligte sich Gurjanow an Novikovs Kunstprojekt „Neue Akademie“.
Gurjanows Gemälde, die oft Sportler, Seeleute, Ringer und klassische Skulpturen darstellen, sind von homoerotischen Motiven durchdrungen. Er wurde zu einem Pionier der spätsowjetischen schwulen Kunst und zu einem der teuersten russischen Künstler.
Mitte der 1980er Jahre lernten Gurjanow und Novikov den in Berlin lebenden DJ WestBam kennen. Nach einem Besuch in Berlin organisierten sie 1989 in Leningrad den ersten Rave Russlands, der zugleich die erste öffentliche Schwulenparty war.
Später besuchte Gurjanow noch oft Berlin und nahm am musikalischen und künstlerischen Leben der Stadt teil, unter anderem an der Berliner Biennale, wo er den Beinamen „der neue Velasquez“ ergatterte.
In seinen letzten Lebensjahren war Gurjanow schwer erkrankt und ließ sich in Deutschland behandeln. Er starb fast unmittelbar nach der Aufnahme von „Ataman“ – dem letzten Song der Band Kino.
Bürgerrechtlerin und LGBTQ*-Aktivistin, Co-Organisatorin des LGBTQ*-Filmfestivals Side by Side
Gulja studierte Germanistik in St. Petersburg und arbeitete lange Zeit als Übersetzerin. Von 2005 bis 2010 organisierte sie Auslandsreisen im Rahmen des Deutsch-Russischen Austauschs (einer NGO, die ihren Ursprung in Berlin hat): Schüler*innen aus Russland und Deutschland lebten jeweils ein Jahr lang in Gastfamilien im anderen Land, wo sie auch zur Schule gingen.
Gulja war selbst mehrmals in Berlin, wo sie die zivilgesellschaftliche Bewegung kennenlernte.
2008 begründete Gulja die LGBTQ*-Gruppe Vychod (Coming Out/Lösung/Ausgang) mit, deren regelmäßige Treffen zunächst im Büro des Deutsch-Russischen Austauschs stattfanden. Vychod etablierte sich schnell als eine führende Kraft in der St. Petersburger Menschenrechtsbewegung.
Selbes Jahr wurde Gulja zu einem sehr aktiven Teil des Teams des neuen internationalen LGBTQ*-Filmfestivals Bok o Bok (Seite an Seite, international als Side by Side bekannt), von Manny de Guerre ins Leben gerufen. Sie arbeiteten eng mit den Berliner Filmfestspielen zusammen, dessen Kurator*innen zu Teilnehmenden und Juror*innen des Wettbewerbs in St. Petersburg wurden.
2010 wurde Gulja Mitglied der Berlinale-Jury. Side by Side erhielt zwei Jahre in Folge den Teddy Award für seinen Beitrag zur Entwicklung der LGBTQ*-Kultur. Das Prinzip von Side by Side bestand darin, nicht nur mit dem LGBTQ*-Publikum zu arbeiten, sondern mit der Gesellschaft als Ganzes. Schon bald wurden die Veranstaltungen nicht nur in St. Petersburg durchgeführt, sondern auch in Moskau, Nowosibirsk, Archangelsk, Tomsk, Kemerowo und Perm. Damit erreichten sie Hunderttausende von Menschen.
Im März 2022 emigrierte Gulja zusammen mit Manny de Guerre, ihrer Partnerin und Mitorganisatorin, nach Estland – sowohl aus Protest gegen den Angriffskrieg gegen die Ukraine als auch weil ihr persönlich Verfolgung drohte. Dort riefen sie das Projekt „Q-Space“ ins Leben, mit dem Ziel, die queere Kultur und die Sichtbarkeit queerer Menschen in Estland zu fördern.
Journalistin und LGBTQ*-Aktivistin
Ein Schlüsseleindruck in Jelenas Jugend waren die Artikel der berühmten russischen Journalistin Anna Politkowskaja (2006 ermordet). Ihrem Beispiel folgend wurde sie 2005 Korrespondentin der Nowaja Gaseta. Dort veröffentlichte Jelena vielbeachtete Artikel über organisiertes Verbrechen, sterbende Dörfer, obdachlose Jugendliche, Drogenabhängige, vom Verschwinden bedrohte „kleine Völker“, die Brutalität der Polizei, den Terroranschlag in Beslan und die nachfolgenden Ereignisse sowie die Opfer des russischen Systems von Psychoneurologischen Internaten.
2011 entschied sich Jelena für ein öffentliches Coming Out mit dem Manifest „Warum ich heute zur Gay Pride gehe“, einer der stärksten Schriften gegen die Diskriminierung von LGBTQ*-Menschen in Russland. Als sie anschließend zur Demonstration kam, wurde sie von homophoben Angreifern brutal zusammengeschlagen. Der Slogan, den sie damals auf eine Regenbogenfahne schrieb – „Liebe ist stärker“ – wurde in jenem Jahr zum Motto der Quarteera-Plattform auf der Pride in Berlin.
Trotz ihrer Verletzungen und Traumata setzte sich Jelena weiterhin öffentlich für die Menschenrechte ein. So organisierte sie während der Verabschiedung von homophoben Gesetzen „Kusstage“ vor der Staatsduma in Moskau.
Ab 2014 schrieb Jelena Reportagen über den russisch-ukrainischen Krieg. 2022 veröffentlichte sie eine Reihe von ergreifenden Berichten aus Odessa, Mykolaiv und dem besetzten Cherson. Dies erregte die Aufmerksamkeit der russischen Sicherheitsdienste, die sie zu töten versuchten. Deshalb verließ Jelena am 2. April die Ukraine und floh nach Berlin. Ihre Partnerin, die Journalistin und Behindertenrechte-Aktivistin Yana Kuchina, kam mit.
Im Herbst wurde in Deutschland ein zweiter Anschlag auf Kostjutschenko verübt – diesmal eine Vergiftung. Sie überlebte, war aber gezwungen, Berlin zu verlassen und unterzutauchen. 2023 erschien in Berlin ihr Buch Das Land, das ich liebe, auf Russisch und Deutsch. Dort beschreibt sie die Geschichte des Faschismus in Russland durch das Prisma ihrer persönlichen und beruflichen Erfahrungen.
Russische und ukrainische Quellen werden nach dem akademischen Standard (ALA-CL) transliteriert.
Zu Peter dem Großen:
* Healy, Dan. Homosexual Desire in Revolutionary Russia: The Regulation of Sexual and Gender Dissent. Chicago UP 2001.
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