2019/2020 jähren sich die Friedliche Revolution und die deutsche Einheit zum 30. Mal. Diese Jahrestage laden dazu ein, sich über die jüngere deutsche und europäische Geschichte neu zu verständigen. Zugleich gilt es, die historisch-politische Bildung zu diesem Themenfeld sowie die damit verbundene Institutionenlandschaft zukunftsfest zu gestalten.
Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sind dabei besonders gefordert. Sie sind zum einen untrennbar mit dieser Geschichte verbunden – als Opfer der kommunistischen Diktatur, die die Sozialdemokratie stets als Hauptfeind betrachtete und als erste politische Kraft nach dem Zweiten Weltkrieg zerschlug. Die Sozialdemokratie eröffnete zum anderen mit ihrer Ost- und Deutschlandpolitik und dem Bemühen um die KSZE Handlungsräume, die 1989 zu ungeahnten Folgen führte. Die Gründung der Sozialdemokratischen Partei in der DDR war eine Initialzündung für die Friedliche Revolution, in der sie an vorderster Stelle zu den treibenden Kräften zählte. Sie nahm als Teil der Großen Koalition an den Verhandlungen zur Deutschen Einheit teil. Seit der Vereinigung waren Sozialdemokraten beständiger Motor des Aufarbeitungsprozesses und der Entwicklung einer gesamtdeutschen Erinnerungskultur, nicht zuletzt bei der Entwicklung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes.
Im Februar 2018 waren ebenso viele Jahre und Tage seit dem Mauerfall vergangen, wie zwischen dem Mauerbau und dem 9. November 1989 lagen. Die deutsche Einheit seit 1990 ist somit zu einem Teil unserer Geschichte geworden. Bislang klammern unsere Erinnerungskultur und historische Bildung die Jahre seit 1990 aus. Seit einigen Jahren ist der Deutungskampf über die Folgen der deutschen Einheit für Ostdeutschland neu entbrannt, da auch diese Zeit für viele noch bis heute nachwirkt. Vor allem Rechtspopulisten nutzen und schüren das Gefühl des Zukurzgekommenseins. Zugleich usurpieren sie nicht nur die Losungen der Friedlichen Revolution, sondern stellen ihren politischen Kampf gegen die demokratische Ordnung der Bundesrepublik dem Widerstand gegen die SED-Diktatur im Jahre 1989 gleich. Insofern bedarf es mehr denn je, einer gesamtgesellschaftlichen Verständigung sowohl über den Charakter der SED-Diktatur und der freiheitlichen Ordnung der Bundesrepublik als auch über die Bedeutung der Friedlichen Revolution für die Freiheits- und Demokratiegeschichte. Ebenso wichtig ist jedoch der Diskurs über die Zeitgeschichte der deutschen Einheit seit 1990, der Erfolge ebenso thematisiert wie Misserfolge und fortbestehende Probleme. Dabei kommt es darauf an, die Jahre 1989/90 nicht mehr als Endpunkt oder Anfangspunkt der historischen Betrachtung zu nehmen. Wer die Entwicklung der deutschen Einheit seit 1990 rekapitulieren und deuten will, muss die Geschichte der deutschen Teilung und beider deutschen Staaten kennen.
Ob es um die Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur in der DDR, die Geschichte der Umbrüche in Osteuropa und in der DDR, den Prozess der Vereinigung Deutschlands und die Transformationsgeschichte seit 1990 geht: Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sind gefordert, uns in die anstehenden zeithistorischen Debatten vernehmlich einzubringen. Diese Debatten werden von eminenter tagespolitischer Relevanz und die Grundlage für einen gesamtdeutschen Aufarbeitungsdialog sein. Unser Fokus sollte dabei auf folgende Thesen gerichtet sein:
Die Rückschau auf die Ausgestaltung der deutschen Einheit seit 1990 wird bis heute von Vorstellungen bestimmt, die sich in den 1990er-Jahren herausgebildet und seitdem konserviert haben. Um das „gefühlte Wissen“ zu hinterfragen und historisch zu grundieren, benötigen wir
Der hier skizzierte Diskurs über die im doppelten Wortsinne geteilte Geschichte Deutschlands vor und seit 1989/90 bedarf einer Neujustierung der Institutionenlandschaft, die sich seit 1990 herausgebildet und bei der Aufarbeitung der Diktaturvergangenheit verdient gemacht hat. Es gilt, diese Institutionen zukunftsfest zu machen, den in Gang gesetzten Generationswechsel ihrer Protagonisten zu begleiten, die hier proklamierte Perspektiverweiterung über das Jahr 1990 hinaus einzuleiten und die Institutionenlandschaft – wo erforderlich – den Zeitläuften sowie den gesellschaftlichen Erfordernissen anzupassen.
Die Jahre 2019 und 2020 müssen zum Ausgangspunkt einer neuen gesamtdeutschen Selbstverständigung über die gemeinsame Geschichte und Gegenwart werden, die auch ohne die 30. Jahrestage der Friedlichen Revolution und der deutschen Einheit dringend erforderlich wäre. Dieses innerdeutsche Gespräch muss zu unseren europäischen Nachbarn geöffnet werden, die auf jeweils eigene Weise vor der Herausforderung stehen, ihren „Contrat Social“ zu erhalten und zu erneuern.
Die hier angemahnte öffentliche Debatte wird die aktuelle Legitimationskrise unserer Demokratie nicht allein lösen. Es bedarf zugleich und im Besonderen einer Wirtschafts- und Sozialpolitik, die die Kluft zwischen den Gewinnern der Globalisierung und jenen schließt, die zu deren Verlierern gehören. Die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in Ostdeutschland bleibt eine Herausforderung. Für eine solche Politik kann der hier umrissene Diskurs den kulturellen Boden bereiten. Auf allen diesen Feldern sehen wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten uns in der Verantwortung.
Packen wir es an!
Berlin, 18. Januar 2019
Iris Gleicke, Staatssekretärin und MdB a.D.; Arne Grimm, ehemaliger Vorsitzender der „Jungen Sozialdemokraten in der DDR“ 1989/90; Dr. Ulrich Mählert, Historiker; Markus Meckel, Außenminister und MdB, a.D.; Dr. Clara West, MdA Berlin, stellv. Fraktionsvorsitzende der SPD; Prof. Dr. Martin Aust, Historiker; Katrin Budde, MdB, Minister a.D., Vorsitzende des Kulturausschusses des Bundestages
Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin a.D.
Dr. Nikolas Doerr, Historiker
Martin Dulig, MdL Sachsen, Minister, Ostbeauftragter der SPD
Siegmund Ehrmann, MdB a.D.
Klara Geywitz, MdL Brandenburg
Martin Gutzeit, Mitinitiator der SDP 1989
Hans-Joachim Hacker, MdB a.D.
Anke Hackethal, Historikerin
Dr. Dieter Heidtmann, Pfarrer (Kandidat für Europawahl) ´
Priv. Doz. Dr. Siegfried Heimann, Historiker
Stephan Hilsberg, Staatssekretär und MdB a.D.
Dr. Eva Högl, MdB, stellv. Vors. der SPD-Bundestagsfraktion
Prof. Dr. Christoph Kähler, Theologe
Hanka Kliese, MdL Sachsen, stellv. Fraktionsvorsitzende
Dr. Michael Körner, Theologe und Politiker
Arne Lietz, MdEP
Christoph Matschie, MdB, Minister a.D.
Michael Naumann, Staatsminister a.D.
Jürgen Neffe, Schriftsteller
Dietmar Nietan, MdB und Bundesschatzmeister der SPD
Steffen Reiche, Minister und MdB a.d.
Dr. Bernd Rother, Historiker
Erik Stohn, MdL und SPD-Generalsekretär Brandenburg
Dr. h.c. Wolfgang Thierse, Bundestagspräsident a.D.
Wolfgang Tiefensee, MdL Thüringen, Minister, Vorsitz Forum Ostdeutschland der SPD und SPD Thüringen
Dr. Gottfried Timm, Minister a.D.
Dr. Rolf Wernstedt, Minister a.D.