Père Lachaise, das ist eine eigene Stadt in Paris, eine Stadt der Toten. Sie hat ihre eigenen engen Gassen und breiten Avenuen, stattliche Bauten neben morbiden verwitternden Häuserzeilen, die Reihenhäusern gleichen.
Als Tourist aus dem Land der vorläufig noch Lebenden gehe ich über den Friedhof wie immer, wenn ich eine mir unbekannte Stadt besuche, indem ich mich einfach treiben lasse. Es ist einsam auf dem Friedhof, nur wenige Menschen sind unterwegs. Ich habe gelesen, dass der Park jährlich von über drei Millionen Menschen besucht wird, aber davon ist nichts zu spüren. Als ich Père Lachaise besuche, sind die Toten die Mehrheit.
Der Morgen ist sonnig und kalt, die Luft klar. Die Kulisse kahler Bäume im März steht in Kontrast zu dem angepflanzten Immergrün. An einem hohen Bäumen gesäumten Weg stehen rechts und links stattliche Grabmäler. Die meisten Familien bevorzugen auf diesem Teil des Friedhofs eine klassizistische Architektur, schlichte fensterlose Wände, ein Eingang mit einem Architrav und ein leicht schräges Dach. Ab und zu ziert ein Säulenpaar das Tor zum Mausoleum, oft ein einfaches Kreuz auf dem Dach, kleine Türmchen lassen maches Grabhaus wie eine Kapelle aussehen.
An einem Nebenweg ruhen die Toten nicht in Häusern, sondern sozusagen auf dem Zeltplatz. Eine Grabplatte gehört der Familie Dubois – in Frankreich ein häufiger Name. Der Name steht in goldenen Lettern auf einem schwarzen Grabstein. Auf der Grabplatte stehen acht Votivtafeln. „a notre Papy“, „a mon Papa“, „a mon neveu“ ist zu lesen. Wer mag Monsieur Dubois gewesen sein?
Auf dem Friedhof ist die Biografie abgeschlossen, aber endgültig ist sie noch nicht. Die Erinnerung der Zeitgenossen, der Lieben und der Nachkommen schreibt weiter daran. Irgendwann aber ist niemand mehr da, der die Person noch gekannt hat, aus Erinnerung wird vielleicht Gedenken, wenn es etwas gibt, was den Verstorbenen auszeichnete. Mancher wird zur Familienlegende, andere sind irgendwann kein Gesprächsthema mehr. Nach einigen Generationen wissen auch die Nachkommen die Vornamen und Geburtstage nicht mehr, dann wird aus dem Gedenken ein Vergessen. Allenfalls interessiert sich einmal ein entfernter Verwandter noch dafür, wo seine Vorfahren gelebt haben und trägt Namen, Vornamen, Geburts- und Sterbedaten in eine genealogische Tafel ein – mehr nicht.
Als Papst Johannes XXIII. im Jahre 1963 begraben wurde, verbrannte ein Diakon vor dem Leichenzug Werg und rief dazu aus „Sic transit gloria mundi“ - so vergeht der Ruhm der Welt. Père Lachaise deckt viel Ruhm der Welt zu. Nur wenige werden bis heute gerühmt – und einige von ihnen ruhen auf diesem Friedhof. Andere waren berühmt als sie starben, aber ihr Ruhm ist verblasst.
Bei René Vinz und seiner Frau erinnert eine Gitarre aus rosa Marmor an einen, der mit Musik andere Menschen erfreut hat. Drei Votivtafeln und frische Blumen zeigen, dass so etwas weiterwirkt, auch wenn ich mit dem Namen kein Lied verbinde.
Anders bei dem Grab der Madame Lamboukas. Sie wird bis heute verehrt, ihr Ruhm ist vielfach festgehalten. Seit es Tonaufzeichnungen gibt, erst Schallplatten, dann andere Tonträger, oder heute die Cloud von Youtube, seitdem ist die Stimme des „Spatzen von Paris“ wirklich unsterblich. Auf der Grabplatte mit einem liegenden Kruzifix aus grün angelaufener Bronze steht eine Vase mit frischen Blumen. „EP“ steht darauf. Auf dem Grabstein steht der Künstlername der Madame Lamboukas „dit Edith Piaf“ - genannt Edith Piaf.
Anfang der sechziger Jahre war Edith Piaf in Bremen im Konzertsaal der „Glocke“ aufgetreten. Meine Französischlehrerin Madame Philippe kam am nächsten Tag begeistert in den Unterricht und brachte eine Platte mit Chansons wie „La vie en rose“ oder „Mylord“ mit. Seitdem höre ich diese Stimme immer wieder gerne. Und jetzt stand ich am Grab einer „Unsterblichen“.
Edith Piaf ist im Familienbegräbnis der Familie Gassion-Piaf beigesetzt. Ihr Mädchenname war Edith Giovanna Gassion. Im gleichen Grab liegt auch Theophanis Lamboukas, genannt Theo Sarapo, geboren 1936 und gestorben 1970. Auch er führte also einen Künstlernamen – aber mir sagten Name und Künstlername gleichermaßen nichts. Er wurde nur 34 Jahre alt. War er der Sohn der Piaf? Google weiß alles: Nein, kein Sohn, sie hatte nur eine Tochter, als sie sechzehn war – und die war nach zwei Jahren gestorben. Theo war der zweite angetraute Ehemann von Edith Piaf. Als sie 46 war, heiratete sie 1962 den 21 Jahre jüngeren Herrenfriseur aus einer in Paris lebenden griechischen Familie. Edith Piaf wollte, dass er singt, schrieb Chansons für ihn und ging mit ihm auf Tournee. Doch nur ein Jahr nach der Hochzeit starb Edith Piaf, sieben Jahre später erlag Theo, der seine Sängerkarriere fortsetzte, einem Autounfall.
Unter der Grabplatte lagen gleich mehrere Romane eines Lebens. Jetzt las ich auch mehr über Edith Piaf. Ihre Mutter verließ sie gleich nach der Geburt, ihr Vater Alphonse Gassion, der dritte unter der Grabplatte, arbeitete als Schlangenmensch in einem Wanderzirkus und brachte Edith bei seiner Mutter unter, die in der Normandie ein Bordell betrieb. Als sie zehn war, ließ der Vater sie als Straßensängerin auftreten. Er war Alkoholiker und verprügelte Edith häufig. Auch sie hatte später schwere Probleme mit Alkoholabhängigkeit. Mit 15 sang sie alleine auf der Straße bis sie ein Kabarretbesitzer entdeckte und sie als „Spatz-Göre“ (la môme piaf) auftreten ließ. So bekam sie ihren Künstlernamen unter dem sie erfolgreich wurde. Ihr abenteuerliches Leben besang sie mit „Je ne regrette rien“, Moustaki, Yves Montand und viele andere waren zeitweise ihre Lebensgefährten.
Ich gehe weiter, eine enge Gasse sieht aus wie eine Straße im ausgegrabenen Pompeji, rechts und links Hauseingänge zu mannshohen Beinhäusern, hinter den Eingängen Biografien, die keiner mehr kennt. Auf der Gasse liegt zu kleinen Pyramiden zusammengekehrt das rostbraune Laub vom Vorjahr. Der Frühling ist nahe. Das Laub fiel zu Boden, damit die Bäume mit neuem Leben ausschlagen können. An der nächsten Weggabelung ein Cenotaph, davor die Büste eines Mannes. Daneben ein runder Turm wie ein Taubenschlag für die arme Seele. Zwei Wegweiser mit weißer Schrift auf grünem Grund sehen aus wie die Wegweiser in der Pariser Metro: „Chapelle“ steht auf dem einen, „Crématoire“ auf dem anderen. Beide zeigen in die gleiche Richtung.
„Ici repose Colette 1873-1954“ steht auf einem schwarzen Grabstein hinter einer hellen Marmorplatte. 1954 wurde ihr als erster Frau in Frankreich ein Staatsbegräbnis als Vorsitzende des Prix Goncourt gewährt. Ihre ersten Romane veröffentlichte ihr ungetreuer Ehemann unter Pseudonym, der sich auch die Autorenrechte sicherte. Als Varietékünstlerin hatte sie ein Verhältnis zu einer Frau, was damals einen Skandal auslöste. Sie hatte als Autorin großen Erfolg, wobei sie immer wieder Tabuthemen weiblicher Sexualität ansprach. Auch ihr Grab war mit frischen Blumen geschmückt.
Zwischen den Mausoleen lag eine Idylle: ein Grab wie ein Schrebergarten, mit frischer Bepflanzung, Schaufeln und Harken lagen noch da, mit einer schmalen hölzernen Einfriedung. Eine Familie mit einem kleinen Kind kam die Allee herauf. Das Kind versteckt sich hinter einem grünen Müllcontainer. Das Spiel belebt die Totenstadt. Hier liegen einige Familiengräber kreuz und quer, ein Labyrinth ohne erkennbare Ordnung.
Rechts von mir sehe ich eine Grabplatte aus grauem Diorit, darauf zwei schräg ausgestellte Tafeln. Auf der einen Tafel steht: „À la mémoire de Rose Benarza 1930-1944, Judith Benarza 1931-1944“. Die beiden Mädchen waren gerade 13 und 14 Jahre alt. Die andere Tafel erinnert an die Mutter: „Malaca Benarza 1910-1944“ - hinter jedem Namen steht: „Morte en déportation à Auschwitz“.
Die 34-jährige Mutter und ihre beiden Töchter wurden nach Auschwitz in den Tod deportiert.
Was wären das für Biografien gewesen, die nicht gelebt werden durften, weil der Rassenwahn der Nationalsozialisten seine Mordmaschine in Gang gesetzt hatte. Auf dem Père Lachaise gibt es eine ganze Reihe von Erinnerungen an den Holocaust.
„Buna-Monowitz-Auschwitz III et ses Komandos“ steht auf einem dunklen Steinblock, oben darauf in einfachen eisernen Konturen, die doch dünn und filigran wirken, fünf Figuren, eine mit einer Schubkarre, die den Schmerz der Zwangsarbeiter mit hängenden Köpfen und gebeugten Schultern symbolisieren.
Auf einer hohen Stele ist ein gesichtslose großer Kopf auf einem kleinen Körper herausgearbeitet, die Proportionen sind die eines Kindes. Unten steht nur „Auschwitz“, daneben zwei aus vertikal gestellten Platten zusammengesetze quadratische graue Säulen, in die von oben ein auf der Spitze stehendes dunkelbraunes Dreieck eingepropft ist. Die Aufschrift ist „Dachau“ - einige Stufen führen hinauf. Dort stehen frische Blumen in einer schmalen Vase.
Die Sterne Europas sind auf dem nächsten Denkmal um ein „NN“ angeordnet - links davon steht: „KL Natzweiler-Struthof 1941-1944“, rechts davon „Nacht und Nebel – Nuit et Brouillard“. Davor Rasen, dort eingelassen ein Dreieck mit Steinplatten, das hinten mit einer halbhohen Mauer aus Feldsteinen abschließt. Auf den Platten mit dem Kopf zur Mauer die Figur eines Hungertoten, die Füße übereinander gelegt.
Eine weitere Skulptur zeigt mindestens drei Menschen mit hohlen Augen, sehnig, nur Haut und Knochen, verschlungen miteinander, nicht lebend und nicht tot, wie ein Leichenhaufen, aber noch in verzweifelter Bewegung. Auch dies eine Erinnerung an die vielen Toten, die nicht auf dem Friedhof des Père Lachaise ruhen dürfen, weil sie Opfer nationalsozialistischer Verbrechen wurden, unfassbaren Verbrechen, die von Deutschen und ihren Kollaborateuren begangen wurden.
Ich denke an das Stelenfeld, das in Berlin an die Opfer des Holocaust erinnert. Es ist ein Versuch, das Unfassbare spürbar zu machen. Ich bin nicht sicher, ob das gelingen kann. Dazu braucht es jedenfalls eine Aufnahmebereitschaft für die Reflexion, zu der Denkmäler einladen. Auf dem Père Lachaise wird die Erinnerung eindringlich, weil die Stätten des Leidens genannt werden, sicher nur einige, die aber für viele andere stehen.
Aus einem stilisierten Dornengestrüpp, dessen grün angelaufene Bronze wie pflanzliche Substanz wirkt, steigt eine zwei Meter hohe, dünn aufgereckte menschliche Figur auf, die Hände vom Körper weggestreckt, die Finger gespreizt. Dahinter eine ähnliche Skulptur, aber mit einer Hand auf einem Zahnrad, die andere zur Faust geballt in die Höhe gereckt.
In einem Feld mit flachen Gräbern stoße ich auf das Grab von Paul Eluard 1895-1942. Auf dem Grab liegen Rosen. Seine ersten Gedichte hatte er veröffentlicht, als er 1913 mit Tuberkulose im Sanatorium in Davos war – etwas später der Ort für Thomas Manns „Zauberberg“. Seit 1921 war er mit dem Maler Max Ernst befreundet, 1924 beteiligte er sich am „Surrealistischen Manifest“ von André Breton. Seine erste Frau machte ihm Salvador Dalí abspenstig. 1927 trat er der KP bei, wurde aber 1933 schon wieder ausgeschlossen. Er trat 1942 erneut bei, nachdem er im Zweiten Weltkrieg in der Résistance war und Stalin verehrte. 2007 wurde ein Asteroid nach ihm benannt.
Die Poesie von Eluard habe ich im Schulunterricht kennen gelernt – das war zu früh, um ihren Wert zu erkennen. Als Dichter, Surrealist, Kommunist, Stalinist war Eluard ein Prototyp vieler Intellektueller seiner Generation.
Über einige Gräber hinweg, die wie ein dunkles steinernes Lager zwischen Mausoleen lagen, sah ich auf ein großes graues Kreuz aus Stein, die drei Arme auslaufend in eine Art Lilie. Dahinter konnte ich die Kirche hinter dem Friedhof erkennen, die auf dem Turm genau dieses Kreuz trug.
Ich traf auf einen hässlichen Steinklotz in etwas rosa schimmerndem Grau, auf dem oberen Ende eine Art Raumschiff aus dem eine Hand nach unten langte. Das Grabmal war über und über mit Graffitti und Lippenstift-Malerei beschmiert, Namen waren darauf verewigt, manche mit Sympathieerklärungen für den Toten, den ich hier nicht vermutet hatte: Oscar Wilde, der Dichter des „Dorian Gray“, der 1895 in London wegen seiner Homosexualität zu zwei Jahren Zwangsarbeit verurteilt wurde. Das ruinierte seine Gesundheit. Er verließ Großbritannien für immer. Mit nur 46 Jahren starb er 1900 in Paris. 1909 wurde er auf den Père Lachaise umgebettet.
Inzwischen ist das von Jacob Epstein gebaute Grabmal restauriert und vor weiteren Schmierereien geschützt. Er war zur Ikone gemacht worden, sein Werk kannten die vielen Verehrer vermutlich nur in geringem Umfang. Ich schätze Wildes beiläufig natürliche, klare und eindringliche Sprache.
Durch eine Mausoleen-Siedlung, manche Bauten wie fensterlose Eremitenklausen, andere wie verkleinerte, aber immer noch zu große Triumphbögen, komme ich an eine Stele mit Motiven und Schriften der Mayakultur. Es ist das Grab von Miguel Angel Astúrias, geboren 1898 in Guatemala, gestorben 1976 in Madrid. Eine Tafel am Fuß der Stele listet die vielen Literaturpreise und Ehrungen auf, die Astúrias zu Lebzeiten erhalten hatte. Ich bin befremdet über die Unbescheidenheit des Autors von „El Señor Presidente“. Der Autor, der 1967 den Literatur-Nobelpreis erhielt, ist heute dem Vergessen nahe, da helfen auch die Ehren nicht: „Sic transit gloria mundi“.
Keine Liste der Verdienste brauchte der Tote des nächsten Grabes, der unsterbliche Frederic Chopin. Eine trauernde Muse mit gebrochener Laute thront über dem Grabmal, auf dem Sockel ein schlichtes Relief mit dem Porträt des Komponisten. Auf dem Grab steht ein kleines Kruzifix. An dem Eisengitter, das die Grabstelle einfasst, hängen bunte Bänder und Schleifen, die von Verehrern, nicht zuletzt aus Chopins polnischer Heimat, angebracht werden.
Ein großer Komponist gibt der Menschheit auf die Dauer mehr Reichtum als mancher, der zu Lebzeiten mit Macht und Reichtum ausgestattet war – jetzt aber als Unbekannter auf dem Père Lachaise vermodert. Chopin wird jedesmal, wenn seine Musik erklingt wieder lebendig. Eine Familie will ihre kleine Tochter vor dem Denkmal fotografieren, ihr kleiner Kopf mit bunter Mütze ragt als Stück neues Leben in den Haufen toter Steine hinein.
Wie lange der Ruhm für Filmregisseure bleibt, ist vielleicht noch zu früh zu sagen. Aber Claude Chabrol, 1930 geboren und 2010 gestorben, hat gute Aussichten, sich in Bild und Ton verewigt zu haben. Sein Schüler Volker Schlöndorff hat ihm mit „Damals in Marienbad“ ein sympathisches Denkmal gesetzt. Sein Grab auf dem Père Lachaise ist schlicht, sein filmisches Erbe großartig.
Noch einem Star laufe ich über den Weg: „Ton public ne t‘oublie pas“ - Dein Publikum vergisst Dich nicht. Das gilt Gilbert Becaud 1927-2001. Auf dem Grab liegen außer einigen Votivtafeln einige CD-Hüllen mit Chansons, die Becaud berühmt gemacht haben. Ihn hat das Publikum bisher nicht vergessen, obwohl bald zwanzig Jahre seit seinem Tod vergangen sind. Tonträger sind eben doch ein Element der Unvergänglichkeit.
Steinerne Monumente grau und gelblich, schwarze Spuren von Pilzen darauf, bröckelndes Gestein, markieren Grabstellen, die keiner mehr pflegt. Eines hat ein Dach wie eine Stufenpyramide, manche Dächer zeigen Risse, auf denen Gras sprießt, die Front der Häuser verwittert zusehend. Dann treffe ich auf zwei fast neu wirkende Tore zu einer Klause, die eine Allee zur Sackgasse macht.
Am südöstlichen Ende des Père Lachaise ist die Kommunisten-Ecke. Ich weiß nicht, ob die Parti Communiste Francais schon frühzeitig große Flächen auf dem Père Lachaise reserviert hat, um die Helden der damals offenbar kurz bevorstehenden kommunistischen Revolution angemessen zu ehren.
Ein großer schwarzer Block trägt viele Namen und an der Seite die Aufschrift „Comité Central du Parti Communiste Francais“. Ist das etwa ein Massengrab für alle Mitglieder des kommunistischen Zentralkommitees? Welche Ironie, wenn man bedenkt, dass von dem sowjetischen ZK der Zeit Lenins nur sehr wenige den Stalin-Terror überlebt haben.
Auf dem Père Lachaise sind zwei KPF-Generalsekretäre begraben, die das Schicksal der französischen KP für 42 Jahre eng an die Sowjetunion gebunden haben. Maurice Thorez, geboren 1900, wurde schon 1930 mit Unterstützung Stalins Generalsekretär, nach seinem Exil in Moskau leitete er die KPF erneut bis 1964, sein Nachfolger Waldeck-Rochet, Generalsekretär von 1964-1972, ist 1905 geboren und blieb der sowjetischen Linie verbunden.
Der nächste Generalsekretär, George Marchais, blieb von 1972-1994 im Amt. Er liegt nicht auf dem Père Lachaise, sondern ist in seinem Wahlkreis an der Marne begraben. Auf der großen Grabplatte für das Zentralkommittee wird George Marchais mit einer Plakette geehrt.
Ein Ehrengrab hat auch Jacques Duclos, der1969 als Präsidentschaftskandidat mit über 21% das beste Ergebnis aller Zeiten für die KPF erzielt hatte – auf seinem Gedenkstein wird als „eminenter Parteiführer“ bezeichnet. Heute - im Jahre 2010 - steht die Partei bei 2,5%, weit hinter neuen linken Bewegungen.
Die Ehefrauen der kommunistischen Parteiführer sind gemeinsam mit ihren Partnern bestattet, die Frau von Maurice Thorez, Jeanette Thorez-Vermeersch, lebte noch bis 2001 in Paris.
Ein Gedenkstein in der kommunistischen Abteilung (in der Friedhofseinteilung die Division 70) ist den französischen Freiwilligen in den Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg gewidmet. Unter den fünf Votivtafeln fiel mir eine auf: Boris Guimpel. 1911-1979 war er Oberstleutnant im Generalstab der Forces francaises de l‘Interieur und in Spanien Chef des Generalstabs der 35.Division der spanischen republikanischen Armee.
Ein Pariser Stadtpräfekt hat sich gleich zweimal prominent verewigt. Nicht eine eigene Leistung macht ihn prominent, sondern er setzt sich in Szene, indem er auf den steinernen Särgen des Dichters La Fontaine und des Dramatikers Molière in einer pompösen lateinischen Inschrift erwähnt, dass er es war, der die Knochen der beiden großen Franzosen auf den Père Lachaise verlegt hat. La Fontaine ist in einer Art großen weißen Wanne, Molière in einem auf vier Säulen stehenden Kasten gegenwärtig. Beide Gräber sind nicht schön. Dafür leben die Toten weiter, wenn wir uns an den Fabeln La Fontaines und an den Komödien Molières erfreuen.
Das Denkmal des Malers Ingres (Jean-Auguste-Dominique war sein Vorname, den ich nicht wusste) ist seines strengen Stils würdig. Klassizistisch einfach, ein Ölzweig auf der Frontseite, schaut der Meister aus einem Fenster. Auf einer Schale vor dem Grab lag eine frische Orange, so wie Ingres sie gemalt hat.
Zum Abschluss gehe ich zu dem tragischen Liebespaar des Mittelalters, Abélard und Heloise. „Les restes d‘Héloise et d‘Abélard sont reunis dans ce tombe“ - die Überreste von Heloise und Abaelard sind in diesem Grab vereint, steht auf dem Sarkophag, auf dem in Lebensgröße liegend Statuen das betende Paar darstellen, Heloise mit strenger Haube, Abaelard mit der Tonsur eines Mönchs.
Das Grab ist prominent, es kommen viele Besucher. Einige blicken verstört, andere prüfend, analysierend, interessiert, neugierig, aufgeweckt und betrachtend versunken. Abaelards Briefe an Heloise sind nach über 900 Jahren bekannter als seine philosophischen Werke.
Der Besuch an ihrem Grabe ist ein Anlass, beides zu lesen. Die Werke sind frei zugänglich - zurück vom Totenreich des Père Lachaise in der virtuellen Welt des World Wide Web.