Alltag – Erfahrung – Wissen oder: Warum wir von „Alltag“ im Lagerhaus G sprechen

Von Manuel Bolz

Der nachfolgende Beitrag möchte im Sprechen und Nachdenken über das Lagerhaus G am Dessauer Ufer für den Begriff des „Alltags“ plädieren. Dieser war für die dort untergebrachten KZ-Häftlinge und Kriegsgefangenen unterschiedlicher Herkunft vor allem durch vielfältige Gewaltformen geprägt.

Vom Allgemeinverständnis von „Alltag“ ...

Im allgemeinen und meist uneindeutigen Verständnis wird der Begriff „Alltag“ oftmals als ein Zustand verstanden, in dem Routinen und Handlungen automatisiert und unhinterfragt ablaufen. In diesem Sinne wird „Alltag“ dem Besonderen und Außeralltäglichen gegenübergestellt und abgewertet. Kann der Begriff daher die Gewalterfahrungen in Form von Zwangsarbeit, Krankheit, Hunger und Tod im Lagerhaus G während des NS-Regimes angemessen beschreiben oder versperrt er durch seine scheinbare Neutralität und die Thematisierung des Banalen den Blick auf die Brutalität der Gewaltherrschaft? Kann er der Grausamkeit des NS-Regimes in KZ-Lagern gerecht werden oder wirkt er gar beschönigend?

... hin zur einer historisch-kulturwissenschaftlichen Alltagsperspektive

An dieser Stelle plädieren wir zu einem ethnografischen Perspektivenwechsel – mehr noch –zu einer Perspektivenerweiterung:

Viele qualitative Studien der volkskundlich-orientierten Historischen Anthropologie oder der Empirischen Kulturwissenschaft – auch Alltagskulturwissenschaft genannt – trugen und tragen den Alltagsbegriff im Namen, um nicht nur auf seine Vielschichtigkeit in der Verwendung hinzuweisen, sondern auch um ihn als Analysekategorie zu bestärken und zu schärfen (u.a. Fenske/Lipp 2010; Gyr/Hengartner 2013). Sie bieten damit Gegenerzählungen zum tradierten Allgemeinverständnis von Alltag und zu großen Erzählungen über den Nationalsozialismus an (Jureit 1994; Johnson/Reuband 2005). Dieses Verständnis erkennt die Komplexität von historischen und gegenwärtigen Alltagen an und sieht sie als zentralen Forschungsgegenstand (Bausinger 1994; Davis u.a. 2009; Lauterbach 2014).

Die als selbstverständlich verstandenen Prozesse und Praktiken des Alltags können durch eine kritische Distanz verfremdet werden (Hirschauer 1997; Lindner 2003). Die Auflösung von Nähe bietet dadurch eine ausgewählte Perspektive auf die Eigenlogiken des Lagerhaus G und einen Einblick hinter die Kulissen. In diesem Fall thematisieren wir folgende Lebensbereiche, ambivalente Gefühlswelten und die Wirkung der NS-Gewalt aus akteurszentrierter Perspektive: schlafen, essen, bewegen, zu Arbeit gezwungen werden, sprechen, fühlen, spüren, lieben bzw. sich in Beziehung setzen (u.a. Freund*innen und Familienmitglieder), gefoltert und getötet werden usw. Dies ermöglicht uns, ein differenziertes Bild von Alltag zu entwerfen. Damit geraten insbesondere Überlebens- und Bewältigungsstrategien in den Blick. Aus forschungsethischer Perspektive hat das den Vorteil, den Akteur*innen eine Stimme zu geben. Die Analyse und Kontextualisierung von Erfahrungen schließt auch an die Frage von Repräsentation an, also, wer für wen in welchem Kontext wann und wo sprechen kann und darf (von Plato 1991).

Der Blick auf Alltag thematisiert subjektive Erfahrungen und biografisches Wissen ausgewählter Akteur*innen zu einem konkreten Zeitpunkt und an einem spezifischen Ort (Lipp 2013; Tanner 2011; Schmidt 2018). Der Vorteil des Alltagsbegriffes liegt deshalb darin, abseits der oftmals vorgestellten Täterperspektive Wahrnehmungen und Perspektiven von Zwangsarbeiter*innen sichtbar und damit für weitere Feinstudien anschlussfähig zu machen.

Plädoyer für eine Mikro-Historie des/im Lagerhaus G

Uns ist es ein Anliegen, dass Konflikt- und Spannungsfelder wie der Nationalsozialismus und seine Gewalterfahrungen keine Metapher oder bedeutungslose Worthülsen bleiben. So beziehen wir uns auf spezifische Lebens- und Erfahrungswelten von jüdischen Zwangsarbeiter*innen und KZ-Häftlingen im Lagerhaus G auf dem Kleinen Grasbrook. Wir möchten keine übergreifende Kulturgeschichte oder ausschließlich Makro-Perspektiven auf den Nationalsozialismus (re)produzieren. Daher plädieren und argumentieren wir für eine Mikro-Historie (Ginzburg 1994) und exemplarische Alltagsgeschichte(n). Unserer Ansicht nach sind strukturelle Gewalterfahrungen im NS besonders auf der lebensweltlichen Ebene von Akteur*innen wie den KZ-Häftlingen sichtbar, ohne dabei die gesellschaftspolitischen Kontexte außer Acht zu lassen (Diekwisch 1994; Fenske 2006; Göttsch 2007).

Dies schließt auch an historiografische und methodologische Fragen an. Zum Beispiel, was historische Quellen aus der NS-Zeit überhaupt für Forschende leisten können, welche Fragen sich damals gestellt haben oder wir heute rückblickend an das Material stellen und in die Zeit projizieren. Daran knüpft auch ein Reflexionsmodus und die Frage an, wo vielleicht Grenzen und Leerstellen in der Interpretation im Sinne einer historischen Kulturanalyse liegen (Vorländer 1990). Wir wollen uns auch nicht anmaßen, das Lagerhaus G und seine Gewaltformen zu erklären oder gar endgültig verstehen zu wollen. Auch wird es nicht möglich sein, die Geschehnisse jemals erfahrbar oder spürbar zu machen. Die vorgestellte Perspektive kann jedoch unser Problembewusstsein schärfen, die Relevanz des dynamischen und differenzierten Alltagsbegriff betonen und in der historisch-kulturwissenschaftlichen Wissensvermittlung fruchtbar sein (Lange 2002).

Denn erst mit diesem können wir das deutlich machen und konkretisieren, was das NS-Regime in den Alltag- und Lebenswelten von Akteur*innen war: Ein politischer Staatsapparat, der Millionen von Menschen gefangen nahm, folterte und ermordete und darüber hinaus ihre Existenz ausradieren wollte. Wir erhoffen uns damit, in diesem sensiblen Forschungsfeld Denkanstöße zu geben.


Quellen und Literatur

Bausinger, Hermann: Zwischen Mythos und Alltag. Volkskunde und Geschichte. In: Kowalczuk, Ilko-Sascha (Hrsg.): Paradigmen deutscher Geschichtswissenschaft. Berlin: GSFP 1994, S. 106-119.

Davis, Belinda Joy/Lüdtke, Alf/Lindenberger Thomas/Wildt, Michael (Hrsg.): Alltag, Erfahrung, Eigensinn: historisch-anthropologische Erkundungen. Frankfurt am Main: Campus 2009.

Diekwisch, Heike (Hrsg.): Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte: zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte (= Berliner Geschichtswerkstatt). Münster: Westfäl. Dampfboot 1994.

Fenske, Michaela/Lipp, Carola (Hrsg.): Alltags als Politik – Politik im Alltag: Dimensionen des Politischen in Vergangenheit und Gegenwart. Berlin u.a.: LIT 2010.

Fenske, Michaela: Mikro, Makro, Agency. Historische Ethnografie als kulturanthropologische Praxis. In: Zeitschrift für Volkskunde 102/1 (2006), S. 151-177.

Ginzburg, Carolo: Mikro-Historie. Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß. In: Medick, Hans (Hrsg.): Mikro-Historie. Neue Pfade in die Sozialgeschichte. Frankfurt am Main: Fischer 1994.

Göttsch Silke: Archivalische Quellen und die Möglichkeiten ihrer Auswertung. In: Dies./Lehmann, Albrecht (Hrsg.): Methoden der Volkskunde. Positionen, Quellen, Arbeitsweisen der Europäischen Ethnologie, 2. überarbeitete und erweiterte Auflage. Berlin: Reimer 2007, S. 15-32.

Gyr, Ueli/Hengartner, Thomas (Hrsg.): Schnittstelle Alltag: Studien zur lebensweltlichen Kulturforschung: ausgewählte Aufsätze. Münster u.a.: Waxmann 2013.

Vorländer, Herwart (Hrsg.): Oral History. Mündlich erfragte Geschichte. Göttingen: V&R 1990.

Hirschauer, Stefan/Aman, Klaus (Hrsg.): Die Befremdung der eigenen Kultur: zur ethnographischen Herausforderung soziologischer Empirie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997.

Johnson, Eric Arthur/Reuband, Karl-Heinz (Hrsg.): What we know: terror, mass murder, and everyday life in Nazi Germany: an oral history. Cambridge, MA: Basic Books 2005.

Jureit, Ulrike: Verletzungen: lebensgeschichtliche Verarbeitung von Kriegserfahrungen. Hamburg: Dölling und Galitz 1994.

Lange, Dirk: Die Alltagsgeschichte in der historisch-politischen Didaktik: zur politischen Relevanz alltagsorientierten Lernens. Berlin: Universitypress 2002.

Lauterbach, Burkhart R. (Hrsg.): Alltag, Kultur, Wissenschaft: Beiträge zur Europäischen Ethnologie. Würzburg: Königshausen & Neumann 2014.

Lindner, Rolf: Zum Wesen der Kulturanalyse. In: Zeitschrift für Volkskunde 99/1 (2003), S. 177-188.

Lipp, Carola: Perspektiven der historischen Forschung und Probleme der kulturhistorischen Hermeneutik. In: Hess, Sabine/Moser, Johannes/Schwertl, Maria (Hrsg.): Europäisch-ethnologisches Forschen. Neue Methoden und Konzepte. Berlin: Reimer 2013, S. 205-246.

Schmidt, Andreas E.: Befragung des Alltags. Göttingen: Eric Cuvillier 2018.

Von Plato, Alexander: Oral History als Erfahrungswissenschaft. Zum Stand der mündlichen Geschichte in Deutschland. In: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung (= Oral History und Lebensverlaufsanalysen) 4/1 (1991), S. 97-119.

Tanner, Jakob: Historische Anthropologie, Version 1.0. In: Docupeia-Zeitgeschichte, 3.1. (2012), URL: https://docupedia.de/zg/Historische_Anthropologie (08/02/2021).