Lagerhäuser G und F. Foto: Jonas Jakubowski
Italienische Militärinternierte am Dessauer Ufer
Von Jonas Jakubowski
Schon bevor das KZ-Außenlager Dessauer Ufer im Juli 1944 eingerichtet wurde, befanden sich dort Kriegsgefangene und andere Zwangsarbeiter_innen. Die größte Gruppe waren tausende italienische Militärinternierte, die ab Herbst 1943 in den Lagerhäusern G und F untergebracht waren (1). Als italienische Militärinternierte (kurz: IMI) bezeichneten die Nationalsozialisten italienische Soldaten, die deutsche Truppen in der Folge des Waffenstillstands Italiens mit den Alliierten am 8. September 1943 gefangen genommen hatten. Sie wurden vor die Wahl gestellt, den Kampf auf deutscher Seite fortzusetzen oder in Gefangenschaft zu gehen. 650.000 italienische Soldaten, die sich geweigert hatten, wurden nach Deutschland und die besetzten Gebiete zur Zwangsarbeit verschleppt.
In der rassistischen Hierarchie der Kriegsgefangenen in deutschem Gewahrsam standen unter den IMI nur noch die sowjetischen Kriegsgefangenen. Zehntausende italienische Soldaten kamen während der Gefangennahme und aufgrund der teils KZ-ähnlichen Haft- und Arbeitsbedingungen ums Leben. Mehr als 12.500 italienische Militärinternierte (2) wurden über die Kriegsgefangenenlager Sandbostel und Schleswig nach Hamburg gebracht (3). Sie lebten unter schlechten Bedingungen in Lagern. Als Zwangsarbeiter wurden sie völkerrechtswidrig in Rüstungsbetrieben eingesetzt. In Hamburg mussten sie außerdem in hunderten weiteren Unternehmen arbeiten, im öffentlichen Auftrag Trümmer räumen oder Behelfswohnungen bauen. Bei den Arbeitseinsätzen sowie auf den Wegen dorthin waren die Italiener ebenso wie andere Gruppen von Zwangsarbeiter_innen, für die Hamburger Zivilbevölkerung deutlich sichtbar. Ehemalige IMI, die überlebten, sind bis heute nicht entschädigt worden (4).
Am Dessauer Ufer und im Hafen hatten die IMI Kontakte mit KZ-Häftlingen. Eine dieser Begegnungen war die des Militärinternierten Gino Signori und der als Jüdin verfolgten Hana Tomešová.
Gino Signori, 1967. Foto: Yad Vashem
Gino Signori wurde am 19.04.1912 in Barga in der toskanischen Provinz Lucca geboren (5). Vor dem Zweiten Weltkrieg heiratete er, wurde Vater und fand Arbeit in der Textilindustrie. 1941 wurde er zur italienischen Armee eingezogen und als Sanitäter ausgebildet. Nach dem Waffenstillstand Italiens mit den Alliierten nahmen deutsche Truppen Gino Signori gefangen. Er wurde in das Kriegsgefangenenlager Sandbostel bei Bremervörde verschleppt. Von hier kam er in verschiedene Arbeitskommandos nach Hamburg. Er arbeite als Krankenpfleger und hatte stets eine tragbare Apotheke dabei. Da er Deutsch gelernt hatte, war er außerdem Dolmetscher. Vermutlich im Juni 1944 wurde er in das IMI-Lager am Dessauer Ufer überstellt (6).
Vor dem Lagerhaus G (Haus 8). Foto: Jonas Jakubowski
Hana Tomešová, geborene Ehrlichová, wurde am 25. Juli 1922 in Prag geboren. Nachdem sie eine Ausbildung abgeschlossen hatte, begann sie als Sekretärin zu arbeiten. Ein einschneidendes Ereignis, das ihr Leben veränderte, war der Einmarsch deutscher Truppen in die Tschechoslowakei im März 1939. Die Nationalsozialisten schufen das Protektorat Böhmen und Mähren. Sofort begannen die Entrechtung und Verfolgung der jüdischen Bevölkerung. Hana Tomešová konnte ihre Arbeit daraufhin nicht mehr ausüben. Ende 1941 wurden sie und ein Großteil ihrer Familie in das Ghetto Theresienstadt, 1943 in das sogenannte Theresienstädter Familienlager in Auschwitz-Birkenau deportiert. Die meisten der hier Inhaftierten ermordete die SS. Hana Tomešová gehörte zu den Wenigen, die die Zeit in Auschwitz überlebten, da sie zur Zwangsarbeit in Deutschland selektiert wurde. Mitte Juli 1944 kam sie in das Außenlager Dessauer Ufer des KZ Neuengamme (7).
Hana Tomešová im Kreis ihrer Familie. Foto: Yad Vashem
Hana Tomešová erinnert sich, dass Gino Signori ihr das erste Mal in der Raffinerie des Mineralölunternehmens Rhenania-Ossag auf dem Kleinen Grasbrook begegnete. Sie hatte sich bei der Arbeit schwer verletzt und ihr war bewusst, dass sie dringend Hilfe brauchte. KZ-Häftlinge, die in den Augen der SS nicht mehr arbeitsfähig waren, konnten ermordet werden . An diesem Tag war auch Gino Signori in der Raffinerie und leistete sofort Erste Hilfe. Seine Unterstützung bedeutete Hana Tomešová sehr viel und half ihr zu überleben, denn sie konnte in der folgenden Zeit genesen. Zwischen den beiden entstand eine Freundschaft. Auch in den folgenden Monaten half Signori ihr und anderen Frauen, die am Dessauer Ufer interniert waren.
Im August und September 1944 wurden die italienischen Militärinternierten in den Status von Zivilarbeitern überführt. Das brachte ihnen mehr Freiheiten, zudem profitierten einige von einer besseren Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern. Signori gelang es daher, Hana Tomešová weiterhin mit Lebensmitteln zu versorgen, selbst als sie in andere Hamburger Außenlager überstellt wurde. Im Frühjahr 1945 brach ihr Kontakt ab. Tomešová wurde in das KZ Bergen-Belsen verlegt und erlebte dort die Befreiung durch die Briten. Beide begannen nach der Befreiung ein neues Leben.
Gino Signori und Hana Tomešová bei ihrem ersten Treffen nach fast 20 Jahren, Foto: Yad Vashem
Gino Signori kehrte nach Kriegsende zu seiner Familie zurück, die in Prato bei Florenz lebte. Er wurde in den kommenden Jahren zu einem bekannten Maler. Hana Tomešová, die fast ihre gesamte Familie verloren hatte, kehrte nach Prag zurück, heiratete erneut und begann in einem Hotel zu arbeiten. Sie hatte ihren Retter nicht vergessen und fragte italienische Gäste nach einem Gino Signori aus Florenz und ob sie ihn suchen könnten. Ein italienischer Lastwagenfahrer machte sich dies zur Aufgabe und konnte Gino Signori schließlich wie durch ein Wunder aufspüren. Nach fast 20 Jahren hatten sie sich wiedergefunden. Sie begannen einen Briefwechsel und Hana Tomešová besuchte ihn 1962 in Italien.
1984 schließlich wurde Gino Signori für seine Hilfeleistungen von der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem als einziger ehemaliger italienischer Militärinternierte als „Gerechter unter den Völkern“ ausgezeichnet (8). Als Gerechte werden nicht-jüdische Personen geehrt, die während der Zeit des Nationalsozialismus ihr Leben einsetzten, um verfolgten Jüdinnen und Juden das Leben zu retten.
Quellen und Literatur
(1) StAH 322-3_B 22. Lager für Arbeitskräfte, in- und ausländische Arbeiter und Kriegsgefangene, Stand 31. Oktober 1943 und 30. November 1943.
(2) Vgl. Friederike Littmann: Ausländische Zwangsarbeiter in der Hamburger Kriegswirtschaft 1939-1945, Hamburg/München 2006, S. 578-587, besonders: S. 580f.
(3) Jens Binner: Vom Verbündeten zum „Verräter“. Italienische Kriegsgefangenen im Stalag X B Sandbostel, in: Andreas Ehresmann (Hg.): Das Stalag X B Sandbostel. Geschichte und Nachgeschichte eines Kriegsgefangenenlagers, Hamburg/München 2015, S. 137-140.
(4) Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit der Stiftung Topographie des Terrors (Hg.): Zwischen allen Stühlen: Die Geschichte der italienischen Militärinternierten 1943-1945 = Tra più fuochi: la storia degli internati militari italiani 1943-1945, 2. Aufl., Berlin 2017, S. 286-290.
(5) Biografische Daten Gino Signori, aus: „Gino Signori und Hana Ehrlich – die Geschichte einer außergewöhnlichen Rettung“, Vortrag von Enrico Iozelli am 4. Februar 2019, Übers. Susanne Wald [unveröffentlicht], in: ANg, PGS Hermannová, S. 4-9.
(6) Vgl. auch Hausmeldekartei Lagerhaus F in: StAH 332-8_A 51/1.
(7) Biografische Daten Hana Tomešová, aus: Iozzelli 2019, S. 1-4 [unveröffentlicht].
(8) The Righteous Among the Nations Database: https://tinyurl.com/y558vz4t [zuletzt 18.01.2021].