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Die wunderbare Kollegin Kathrin Brömse hatte mich gebeten, zu ihrer Ausstellung "Vertraute Fremde" in der Galerie in den Gerichten eine Einführung zu machen. Eine Bitte, der ich gerne nachgekommen bin, da ich sie und ihre Arbeiten sehr schätze.
Die Einführung bestand aus folgenden vier Häppchen:
Faszination/Huch, was ist das denn?
Der Philosoph Henning Tegtmeyer schreibt in seinem Buch "Kunst" einen einfachen Satz, der sich mir sofort eingeprägt hat: "Kunstwerke sind faszinierende Gegenstände." Als ich das las, hatte ich das Gefühl, dass damit im Grunde alles gesagt ist.
Kunst fasziniert. Die Bilder von Kathrin Brömse faszinieren.
Eigentlich ist jedes weitere Wort zu viel – machen wir trotzdem noch ein wenig weiter.
Was heißt eigentlich Faszination? Manchmal lohnt es sich, den Ursprüngen eines Wortes nachzugehen. Faszination stammt vom lateinischen fascinatio, was ursprünglich „Behexung“ oder „Beschreiung“ bedeutete. Später wurde daraus „starke Anziehungskraft, Unwiderstehlichkeit“. Besonders dieser alte Ausdruck „Behexung“ gefällt mir. Man kann ihn fast wörtlich nehmen: "Kunst ist Magie", heißt es bei Adorno in einer bekannten Sentenz*. Das stimmt. Kunst hat oft etwas Magisches an sich. Das bedeutet, dass beim Betrachten von Kunst etwas mit uns geschieht, das sich weder völlig verstehen noch völlig kontrollieren lässt – etwas, dem wir uns aber auch nicht entziehen können, wenn die Bilder uns einmal angesprochen haben.
Zu Tegtmeyers Bemerkung hab ich mir folgendes notiert: Faszinierende Kunstwerke fesseln, ziehen uns in den Bann, üben eine eigentümliche Macht aus. Faszinierend sind oft gerade jene Werke, die das Vertraute als etwas Fremdes zeigen und es als Rätsel lebendig halten.
Zur Erinnerung: Die Ausstellung von Kathrin Brömse trägt den Titel "Vertraute Fremde". Wie kann einem das Vertraute fremd sein? Wie das Fremde vertraut?
Denken wir an unseren Alltag. Tatsache ist: Jeder einzelne Augenblick, den wir erleben, ist neu, noch nie dagewesen. Aber wir sind alle Meister im Verweilen in den vertrauten Mustern. Vielleicht eine Form der Entlastung, fast alles erscheint uns im Alltag gewöhnlich, obwohl es so noch nie dagewesen ist. Und dann gibt es immer wieder Augenblicke, in denen uns etwas plötzlich fasziniert.
Foto: Kai Frommann
So beschreibt es Kathrin in einem Interview über ihre Arbeit für ein Buch mit der Psychologin Gertraud Butzke-Bogner: "Ich sitze dann meistens am Schreibtisch mit einem Skizzenbuch oder mit einem Block und kritzle so vor mich hin. Ich kritzle und kritzle. Das kann tagelang so gehen oder auch wochenlang, bis dann plötzlich irgendetwas »daherkommt« und ich denke: "Huch! Was ist das denn?"
Ich glaube, in ihren Bildern geht es oft um diese "Huch! Was ist das denn?"- Momente.
*„Kunst ist Magie, befreit von der Lüge, Wahrheit zu sein.“ (Adorno)
Against Interpretation / Lob der Form
Wir kommen jetzt zu der berühmt-berüchtigten Frage: Was will uns die Künstlerin eigentlich damit sagen?
1964 schreibt Susan Sontag einen kurzen Essay mit dem Titel "Against Interpretation". Sie meint darin, dass die früheste Erfahrung von Kunst vermutlich eine beschwörende, magische war – Kunst diente vermutlich als Instrument des Rituals.
Stellen wir uns also vor, wie vor fast 50.000 Jahren ein früher Homo sapiens eine Höhlenmalerei betrachtet … und nach ihrem "tieferen Sinn" fragt: "Was wollte mir die Höhlenmalerin damit sagen?" Nun gut, 50.000 Jahre später sehen wir die Dinge vielleicht mit anderen Augen.
Zurück zu Susan Sontag: Interpretation, schreibt sie, "zähmt das Kunstwerk. Interpretation macht Kunst handhabbar, komfortabel." Sontag ist natürlich nicht gegen jede Art der Interpretation, aber nach meinem Verständnis empfiehlt sie, nicht zwanghaft nach einer tieferen Bedeutung zu suchen. Stattdessen fordert sie: "Wir müssen lernen, mehr zu sehen, mehr zu hören, mehr zu fühlen." Sie plädiert für eine "Erotik der Kunst" – eine sinnlich-genussvolle, auch körpergebundene ästhetische Erfahrung, die die Kunst in ihrer ganzen Fülle erfasst.
Faszinieren kann nicht nur das "Was", sondern auch das "Wie". Mich beeindruckt an Kathrins Arbeit besonders ihre Virtuosität und ihre Schönheit.
Kathrin kennt die Frage "Was will uns die Künstlerin eigentlich damit sagen?" natürlich auch. In dem Gespräch, aus dem ich bereits zitiert habe, erläutert sie, wie sie damit umgeht: "[Diese Frage] zu beantworten, bereitet mir immer mittelschwere Probleme, weil ich nicht wirklich etwas dazu sagen kann. Je nach Tagesform sage ich manchmal: »Weiß ich auch nicht!« Was ich damit sagen will: Wenn ich es in Sprache übersetzen könnte, hätte ich einen Essay geschrieben. Also: Es geht um das Bild und es geht darum, wie man mit einem Bild eine Irritation erzeugen kann. Es ist gar nicht mal so, dass ich eine bestimmte Aussage habe, die ich transportieren möchte, und dass ich jetzt erklären könnte: Dieses Bild bedeutet das und das."
Was will uns die Künstlerin sagen? Die Künstlerin weiß es also auch nicht. Das erinnert mich an einen meiner Lieblingstitel für Ausstellungen. Er stammt von Roger Buergel, dem Kurator der documenta 12, und lautet: "Dinge, die wir nicht verstehen!"
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Das Bild übernimmt die Regie!
Kathrin: „Beim Zeichnen habe ich oft eine »halbe Idee« oder ein halbes Bild vor Augen. Ich fange an, und dann übernimmt das Bild die Regie und wird zum Selbstläufer. Es passiert etwas, das ich so gar nicht geplant hatte. […] Manchmal kommen […] ganz überraschende Dinge dabei heraus, und ich bin selbst ganz verwundert und weiß nicht, wo das herkommt.“
Unter demselben Motto – das Bild übernimmt die Regie – sagt sie an anderer Stelle: „Manchmal müssen die Sachen eine Weile rumstehen — dann platzt ein Knoten und man weiß jetzt: Ja genau, so muss es sein.“
Ich spreche hier als Künstler-Kollege. Kathrins Erfahrungen kenne ich genau so – manches davon würde ich sogar ganz ähnlich ausdrücken. Ich denke, viele andere Künstlerinnen und Künstler erleben das ähnlich. Die Vorstellung, dass das Bild die Regie übernimmt, nenne ich seine Autonomie.
Ein Bild braucht natürlich den Betrachter, um überhaupt zu existieren – jemanden, der es performt. Und die erste Betrachterin ist die Künstlerin selbst. Sie bietet, nach meinem Verständnis, die Bühne für das autonome Werk. Unser Körper und Geist sind bildlich gesprochen die Hardware, ohne die das ästhetische Programm nicht laufen kann. Doch wenn das Werk die Regie übernommen hat, sind die Künstlerinnen und Künstler in glücklichen Momenten nurmehr Beobachter der Entstehung – durch ihre eigene Aktivität. Und dann geschieht es, dass man selbst staunend vor dem Bild steht und sich fragt: Wo kommt das eigentlich her?
„Um sich selbst zu verwirklichen, ergreift das Kunstwerk Besitz vom Geist des Künstlers“, schreibt Markus Gabriel in "Die Macht der Kunst". Das klingt ziemlich martialisch und wird sicher nicht jeden überzeugen. Sigmar Polke hat diese Vorstellung vermutlich augenzwinkernd aufs Korn genommen mit seinem Bild: „Höhere Wesen befahlen: rechte obere Ecke schwarz malen!“ Doch es sind keine „höheren Wesen“, die hier die Macht übernehmen – es ist die innere Logik der Kunst und jedes einzelnen Kunstwerks selbst, also seine Autonomie.
Ich will noch einmal auf die Höhlenmalerinnen (oder waren es Maler?) zurückkommen. Pablo Picasso soll beim Anblick der Höhlenmalereien von Lascaux ausgerufen haben: „Wir haben nichts dazugelernt!“
Wie kommt das? Meine Vermutung: Damals wie heute gilt – wer sich auf die Kunst einlässt, kann erleben, wie sie manchmal die Regie übernimmt. Übrigens manchmal auch beim Betrachten! Das macht einen großen Teil ihrer Faszination aus!
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Das seltsame Tier, das sich ein Bild von sich macht
Für die, die nachzählen – ich sage es gleich: Auf den Bildern sind mehr Männer als Frauen zu sehen. Warum ist das so?
Kathrin Brömse sagt dazu: „Ich denke, es ist Zufall. [Georg Mertin] hat einmal einen schönen Einführungstext zu einer meiner Ausstellungen geschrieben, in dem es heißt: ›Die dargestellten Leute sind geschlechtslos, alterslos, sie sind weder in einem bestimmten Raum noch in einer bestimmten Zeit angesiedelt.‹ Das finde ich ganz zutreffend, meint Kathrin, weil ich mir nicht überlege: Ich möchte jetzt einen Mann malen oder Männer malen oder Frauen malen. Das spielt für mich überhaupt keine Rolle. Es geht um Menschen.“
Tegtmeyer, den ich eingangs zitiert habe, geht noch weiter: In der Kunst geht es immer um den Menschen. Nebenbei bemerkt: Kunst und Philosophie haben also dasselbe Thema – die eine nähert sich ihm diskursiv, die andere intuitiv. In Kathrins Arbeit wird das besonders augenscheinlich.
Die Conditio humana wird in ihren Bildern in exemplarischen Szenen durchgespielt. Das Alltägliche und Vertraute wird dabei ein wenig verfremdet, sodass uns bewusst werden kann, wie eigentümlich wir alle sind. Man vergisst das ja leicht. Wir alle gehören zu diesen sonderbaren Figuren, die auf den Bildern zu sehen sind. Nur wir können verstehen, was da geschieht – oder eben nicht verstehen und uns irritieren lassen. Dass wir uns manchmal selbst rätselhaft sind, ist letztlich auch eine Art Wunder – nur fällt uns das oft gar nicht mehr auf.
Ich finde, Kathrin wirft in ihren Bildern einen zärtlichen Blick auf diese fremdartige Spezies. Kunst ist, wenn man trotzdem lächelt.
Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Staunen.
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