Offener Brief „Zur Verantwortung von Kulturschaffenden während des russischen hybriden Kriegs gegen Europa und die Welt“
Offener Brief „Zur Verantwortung von Kulturschaffenden während des russischen hybriden Kriegs gegen Europa und die Welt“
Bildautor Oleksiy Sai
Sehr geehrte Organisator:innen und Partner:innen des ‚Into The Open‘ Musikfestivals,
als Kulturschaffende, Medienschaffende, Journalist:innen, Wissenschaftler:innen und Aktivist:innen wenden wir uns an Sie im Zusammenhang mit der Aufführung der Oper Russia:Today im Kühlhaus Berlin am 10. Mai 2025.
Wir erkennen das Bestreben an, durch Kunst einen Raum für Reflexion aktueller gesellschaftlicher Themen zu schaffen. Dennoch möchten wir zum Ausdruck bringen, dass wir die geplante Aufführung der Oper Russia:Today ablehnen. Wir fordern die Absage der Oper, da dieses Werk russische Propagandanarrative reproduziert. Vor dem Hintergrund der andauernden militärischen Aggression Russlands gegen die Ukraine und einem laufenden Informationskrieg, in dem russische Propaganda bereits offiziell als eine der Hauptbedrohungen für die nationale Sicherheit Deutschlands anerkannt wurde, stellt die Aufführung eines solchen Projekts eine ernsthafte Bedrohung für die demokratischen Werte und die Sicherheit der europäischen Gemeinschaft dar.
Das Projekt Russia:Today trägt nicht nur den Namen des russischen Propaganda-Fernsehsenders RT (Russia Today), der in Deutschland aufgrund seiner Desinformationspolitik offiziell verboten ist. Es reproduziert zugleich zentrale Desinformationsnarrative des Kremls: über die angeblich „unfaire Haltung gegenüber der russischen Kultur”, die behauptete „historische Einheit der Ukraine, Russlands und Belarus“ und die romantisierende Erzählung von der „historischen Größe und Großzügigkeit des russischen Volkes“. Anstatt den von Russland geführten Informationskrieg zu verurteilen, reduzieren die Autor:innen alles auf die These „gegenseitige[r] politische[r] Vorurteile[…] zwischen Russland und dem Westen“ Sie stellen damit das Ausmaß der russischen Aggression und Russlands Verantwortung für deren Konsequenzen in Frage.
Nach sorgfältiger Prüfung der Projektbeschreibung, der Werbematerialien und des Librettos des Projekts Russia: Today sind wir zu dem Schluss gekommen, dass die Autor:innen Eugene Birman (Komponist), Sergej Morozov (Regisseur), Alexandra Karelina (Visuals) und Scott Dill (Librettist) eine emotionale audiovisuelle Erzählung kreiert haben, die Russland als „leidende Nation“ inszeniert und die imperiale Idee einer besonderen spirituellen Mission aufgreift, ohne die Verantwortung für militärische Aggression, Kolonialismus und Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch nur im Ansatz zu thematisieren. In diesem Narrativ werden Russ:innen nicht als Kompliz:innen der Aggression und der Kolonialpolitik dargestellt, sondern als unschuldige Opfer historischer Umstände. Das Projekt ignoriert die historischen Fakten der von Russland massenhaft begangenen Verbrechen und verzerrt den Kontext des aktuellen Krieges. Gerade vor dem Hintergrund der fortschreitenden militärischen Aggression Russlands und seinem Informationskrieg ist dies besonders gefährlich.
Die Autor:innen von Russia: Today nennen ihr Projekt eine „dokumentarische Oper“, aber diese Formulierung ist grob irreführend. Der Begriff „dokumentarisch“ impliziert Glaubwürdigkeit, Faktentreue und politische und historische Kontextualisierung. Das Projekt Russia: Today wurde erstmals 2019 in der estnischen Stadt Narva gezeigt. Damals hatte die Russische Föderation bereits die Autonome Republik Krym annektiert und die Kontrolle über Teile der ukrainischen Regionen Donezk und Luhansk übernommen, wo sie völkerrechtswidrige Pseudo-Referenden durchsetzte. Sie hatte das Malaysian-Airlines-Flugzeug MH17 abschießen lassen und damit begonnen Oppositionelle im eigenen Land und im Ausland systematisch zu repressieren, vergiften und zu ermorden. Diese Handlungen wurden von zahlreichen Menschenrechtsorganisationen und internationalen Gerichten als Verbrechen eingestuft. Dokumentarische Berichterstattung darf sich nicht auf subjektive Aussagen beschränken, die zum Inhalt haben „wie Russland früher war“, „wie Russland heute ist“ und „wie es einmal sein wird“. Sie darf sich auch nicht hinter Videoaufnahmen von malerischen Naturlandschaften, Gesichtern und Szenen des Alltagslebens verstecken. Die Autor:innen blenden den politischen Kontext völlig aus, was den Prinzipien des Dokumentarfilmgenres widerspricht.
Insbesondere im Kontext von sowjetischer Besatzung, Deportationen und Russifizierung zeugt die Darstellung der baltischen Staaten als Kulisse für die russische Selbstfindung von Ignoranz gegenüber der Geschichte dieser Länder. Sie funktioniert als Reproduktion imperialer Narrative. Nach der Unterzeichnung des Molotow-Ribbentrop-Pakts im Jahr 1939 und der anschließenden sowjetischen Besetzung Litauens, Lettlands und Estlands im Jahr 1940 wurden zwischen 1941 und 1953 unterschiedlichen Schätzungen nach mehr als 130.000 Menschen aus Litauen, mehr als 57.000 aus Lettland und mehr als 35.000 aus Estland deportiert. Im Juni 1941 fand die erste große Deportation als Folge der sowjetischen Annexion statt. Später, nach der Wiederbesetzung der baltischen Staaten in den Jahren 1944-1945, kam es erneut zu Deportationen: während der Operation „Vesna” im Mai 1948 vor allem in Litauen, und der Operation „Priboi” im März 1949, die alle drei baltischen Staaten betraf.
Das russische Imperium und später die UdSSR verfolgten aktiv eine Poltik der Unterdrückung und Verdrängung lokaler Kulturen, insbesondere durch die systematische Durchsetzung der russischen Sprache in allen Lebensbereichen – von der Bildung über die Verwaltung bis zu den Medien. Vor diesem Hintergrund erscheint die Einbeziehung sogenannter „russischsprachiger Menschen“ in das Projekt, die versuchen ihre russische Identität auf dem Territorium souveräner Staaten wie Lettland, Estland und Finnland zu ergründen, besonders problematisch. Diese Problematik verschärft sich angesichts der Beziehungen Russlands zu den baltischen Staaten, die in diesem Werk vollständig ignoriert werden. Die Komponist:innen der Oper reproduzieren eine koloniale Optik, indem sie diese Länder (in den Worten der Autor:innen selbst) zur „Peripherie“ oder zum „Grenzland“ Russlands machen, anstatt sie als eigenständige Subjekte mit eigener nationaler Identität zu betrachten.
Wir erkennen die Offenheit künstlerischer Werke für Interpretationen an. Allerdings halten wir es für unerlässlich, diese Werke unter Berücksichtigung ihrer Kontexte, künstlerischen Techniken und Formen professionell zu lesen und zu analysieren. Der Rückgriff auf das Format des Requiems – konkret eine Panachyda, einen Ritus des östlichen Christentums – als musikalische Form in der Oper erzeugt den Eindruck eines frommen Gedenkens an ein ‚russisches Opfer‘. Der religiöse Kontext der Panachyda impliziert zudem, dass die Gläubigen während dieses Rituals um die Vergebung der Sünden und die Gewährung des ewigen Friedens für die Verstorbenen bitten. Die Verwendung dieser Form des Rituals in dem Werk ohne Erwähnung der tatsächlichen Opfer, zu denen Ukrainer:innen, Syrer:innen, Kartvelianer:innen, Itschkerianer:innen und andere indigene Völker gehören, die von der russischen Armee getötet wurden,verfälscht die eigentliche Bedeutung des Rituals. Das Leid der Russen wird dargestellt, ohne zwischen Henkern und Opfern zu unterscheiden. Eine solche Inszenierung negiert Verantwortung, entwertet die Bedeutung des religiösen Rituals und reduziert es auf ein Instrument symbolischer Selbstrechtfertigung der Russ:innen.
Das Werk bedient sich zahlreicher metaphorischer Bilder, etwa des „schlafenden Bären“, der „guten Mutter“, „des beleidigten Jungen“, der „faulen Tomaten“, der „zerbrochenen Leiche“, des „Landes des Leidens“, der „Opfer“. Damit wird die politische Verantwortung in einem Nebel von Psychologisierungen und Allegorien aufgelöst. Russland erscheint hier nicht als Aggressor, sondern als traumatisiertes Wesen, dem Verständnis, Vergebung und Mitleid entgegengebracht werden oder das man zumindest überleben muss. Krieg, Unterdrückung und imperiale Politik verschwinden in dieser symbolischen Landschaft, in der „ein Bär einfach auf dem Globus schläft“, „eine gute Mutter alles opfert“ und „ein Junge vor Groll explodiert“. Diese Dramatisierung erschwert es dem Publikum, sich einen Russen vorzustellen, der einen Vertrag mit der russischen Armee unterzeichnet, eine Rakete auf ein Kinderkrebskrankenhaus oder ein Wohnhaus abfeuert oder Kriegsgefangene foltert. Genauso schwer vorstellbar sind unter diesen Bedingungen Russen, die all dies schweigend beobachten und sich hinter einer distanzierten Reflexion über den „Verlust der Heimat“ verstecken. Diese Darstellungsweise ist keine bloße Metapher, sie fungiert als Instrument der Rechtfertigung, das Gewalt als natürliche Reaktion auf Schmerz und nicht als Ausdruck bewusster politischer Entscheidungen darstellt.
Das neoimperiale Konzept der „russischen Welt“ wird seit langem vom Kreml durch Medien, Bildung und Kultur gefördert, um andere nationale Identitäten zu marginalisieren und die Anerkennung nationaler Tragödien unter dem Vorwand der kulturellen Präsenz der „russischsprachigen Bevölkerung“ zu verhindern. Diese Taktik ist auch Ukrainer:innen, Moldawier:innen, Rumän:innen, Kartwelier:innen und vielen weiteren Gesellschaften bekannt. Durch gezielte Einmischung in die Innenpolitik dieser Staaten konstruiert Russland Szenarien von angeblicher “Unterdrückung der russischsprachigen Bevölkerung” und behauptet dann unter dem Vorwand der Redefreiheit, dass diese „geschützt“ werden müsse.
Rede- und Meinungsfreiheit ist ein Grundwert, den wir als Gundlage einer demokratischen Gesellschaft ausdrücklich respektieren. Redefreiheit beinhaltet jedoch nicht das Recht, nachweislich begangene Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu ignorieren oder zu vertuschen. In den Begleittexten, Interviews und Werbematerialien von Russia: Today fehlt jede direkte und klare Verurteilung der Handlungen der russischen Regierung und Armee durch die Autor:innen des Projekts. Dies ist kein Ausdruck von Meinungsfreiheit – es ist Schweigen. So bezeichnen Sergej Morozov und Eugene Birman in ihren Interviews den Krieg Russlands in der Ukraine als „bekannte Geschehnisse“ und „all das, was passiert“. Der Librettist Scott Dill schlägt gar vor, die Russen als „dramatic proxy for all of us“ zu betrachten – während Tausende Russen einen bewaffneten Terror gegen die Zivilbevölkerung der Ukraine ausüben, Massaker, Deportationen, Kindesentführungen, Vergewaltigungen, Folter, Zwangsrussifizierung und zahlreiche Umweltkatastrophen begehen. Dies widerspricht grundlegend dem Prinzip der Meinungsfreiheit, das keine Gleichgültigkeit gegenüber systematischer Gewalt und Unrecht duldet.
Vor diesem Hintergrund fordern wir die Absage der Aufführung der Oper Russia: Today am 10. Mai in Berlin : Solange keine direkte Verurteilung der Handlungen der russischen Regierung und Armee durch die Autor:innen von Russia: Today erfolgt und das Werk weder in einen kritischen noch in einen historischen oder politischen Kontext eingeordnet wird, ist es ein Werkzeug der russischen Propaganda, das die Handlungen der Regierung und der Armee der Russischen Föderation normalisiert und rechtfertigt.
Die Behauptung „Kultur sei nicht politisch, entstammt der Ideologie des russischen Diktators Putin. Wir rufen deutsche und internationale Kulturschaffende auf, dieser Ideologie nicht zu folgen. In einer Zeit, in der Massenverbrechen begangen und grundlegende Menschenrechte verletzt werden und die Kunst zu einem Werkzeug wird, um die imperiale Politik Russlands zu rechtfertigen, darf Kultur weder schweigen noch neutral sein.
Wir laden Vertreter:innen der Berliner Kulturgemeinschaft ein, sich an einem offenen und konstruktiven öffentlichen Dialog über die Verantwortung von Kulturschaffenden in Zeiten des Hybriden Krieges Russlands in Europa und weltweit zu beteiligen.
Stand vom 11. Mai 2025: Dieses Schreiben wurde von 776 Personen unterzeichnet — Vertreterinnen der Zivilgesellschaft aus der Ukraine, Deutschland und anderen Ländern weltweit. Unter den Unterzeichnenden sind Künstlerinnen, Kulturwissenschaftlerinnen, Journalistinnen, Schriftstellerinnen, Medienschaffende, Musikerinnen, Pädagog*innen und Studierende.
Wenn Sie als Journalistin oder Medienschaffender tätig sind, über diese Aktion in den Medien berichten möchten oder zur russischen Propaganda forschen, kontaktieren Sie uns bitte – unser Team informiert Sie gerne über den Verlauf und die Ergebnisse der Kampagne: brln.cultresist@gmail.com