Magnus Klaue

Lyrik nach Adorno. Zur Halluzinationsgeschichte eines Tabus

Theodor W. Adornos 1951 in dem Essay »Kulturkritik und Gesellschaft« veröffentlichte Sentenz »Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch« verfügt mittlerweile über einen eigenen Wikipedia-Eintrag. Von Nachbetern wie Gegnern zum kategorischen Imperativ avancierter Dichtung stilisiert, hat sich um sie ein Filz aus halbverdautem Bildungswissen, Pseudokritik und Kulturräsonnement angelagert, der es schwierig macht, den Erkenntnisgehalt des Gedankens und seine Geltungskraft zu beurteilen. Adorno ist durch solche Rezeption unfreiwillig zum Oberlehrer der Nation geworden, der eine selbstbezügliche Poesie an ihre historisch-moralische Bestimmung erinnert habe, über dessen dialektisches Gebrabbel die heutige Poetik aber hinauskommen müsse. Wann immer Leute beanspruchen, etwas »nach Adorno« zu tun, schwingt beides mit: die Berufung auf eine Tradition kritischen Denkens und die Anmaßung, diese hinter sich zu lassen. Vielleicht liest sich zeitgenössische Lyrik auch deshalb wie Lyrik vor Adorno, weil sie Adornos Gedanken einer unhintergehbaren Verbindung von historischem Erfahrungsgehalt und ästhetischer Form nicht nachvollziehen kann. Inwiefern die Prominenz von Adornos »Diktum« jene Formamnesie befördert hat, soll der Vortrag zeigen.

Sa, 22.06., 16:30–17:15

Vierte Welt