Das große Glück, ein kleines bisschen anders zu sein

Mitten in der Nacht klingelte jemand Sturm an der Villa der Mancini. Alle schreckten aus dem Schlaf, Familienhund Bruno stellte sich schützend vor das Bett des sechsjährigen Luca.

Adriano wechselten einen besorgten Blick mit Anabelle. „Ich vermute einen Notfall der besonderen Art“, seufzte er, die Taste der Wechselsprechanlage drückend. „Ja bitte!“

„Ich bin’s, Renato.“

Das winzige Display der Überwachungskamera zeigte tatsächlich das gut bekannte Gesicht, eines, ihrer besten Freunde.

Adriano drückte den Öffner vom Hoftor, zog sich, wie auch Anabelle, rasch einen Jogginganzug über und entriegelte gleich noch die Haustür. Am oberen Ende der Treppe zu den Wohnräumen warteten sie auf Renato. Der erschien mit seiner kleinen Tochter Laura auf dem Arm, worauf die Mancini einen wissenden, wenn auch überraschten Blick tauschten.

„Komm rein! Leg die Kleine ins Gästezimmer, damit sie weiterschlafen kann!“, schlug Anabelle vor.

Renato nickte mechanisch, strich mit einer Hand Bruno über den Kopf, deckte sein Töchterchen sorgsam zu, als er es ins Bett gelegt hatte, ließ die Tür offen und folgte seinen Freunden in den Wohnraum. „Warum wundere ich mich eigentlich, dass ihr euch nicht wundert?“, flüsterte er, auf die hellseherische Gabe Adrianos anspielend.

„Genau deswegen“, seufzte Anabelle. „Wir sind nur erstaunt, dass die Situation so schnell eingetreten ist.“

Renato hob hilflos die Hände. „Na, wenigstens muss ich keine ellenlangen Erklärungen geben. Ihr kennt ja den Putzzwang von Bianca. Heute hat Laura versehentlich einen Blumentopf umgeworfen, worauf ein Geschrei einsetzte, als habe uns jemand das Haus überm Kopf angezündet. Nur gut, dass gerade keine Klienten in der Kanzlei waren! Ich hätte mich in Grund und Boden geschämt“, berichtete Renato. „Abends ist die Lage dann regelrecht eskaliert, weil Laura der Löffel aus der Hand gefallen ist. Man hat Bianca sicher drei Grundstücke weiter keifen hören. Als Rechtsanwalt kann ich es mir noch weniger leisten, als andere Leute, wegen solcher Probleme ins Gerede zu kommen. Ich will Bianca auch nicht einfach rauswerfen, weil ich nicht weiß, was dann mit Laura geschieht, ehe ich eingreifen kann. Sie hat die Kleine nicht gewollt, nie wirklich geliebt und lässt es sie nun deutlich spüren. Juristisch weiß ich, was ich tun muss, nur menschlich sehe ich kein Licht am Horizont. Ich brauche dringend Rat und Hilfe, denn ich bin mit meinem Latein am Ende.“

„Auch das hat Adriano vorausgesehen“, gab Anabelle Auskunft. „Wir haben bereits mit Luca gesprochen, er wäre nicht abgeneigt, deiner Kleinen als großer Wahlbruder zur Seite zu stehen.“

„Wirklich?!“ Renatos Augen wurden geradezu riesig. „Ich hatte befürchtet, er würde sich vehement wehren, ein dreijähriges Mädchen permanent um sich zu haben.“

Die Mancini schüttelten die Köpfe. „Du weißt ja, wie sehr er sich ein Geschwisterchen wünscht. Seit wir die Familienchronik studiert haben, sind wir aber der Meinung, dass die Seher in allen Jahrhunderten immer nur ein Kind, nämlich einen Sohn, hatten. Keiner von uns vieren, denn Bruno zählt auch mit, ist ungehalten, wenn du Laura für ein paar Tage oder dauerhaft hier unterbringen möchtest, damit sie völlig unbeschwert aufwachsen kann. Du hast Adriano damals in jeder Weise geholfen, seine Unschuld zu beweisen, sodass es uns eine Freude ist, dir auf diese Art Sorgen abnehmen zu können“, erklärte Anabelle. Adriano nickte heftig zu ihren Worten.

Eine Stunde später fuhr Renato beruhigt nach Hause, seine Kleine in den allerbesten Händen wissend. Er versprach, Kleidung und Spielzeug vorbeizubringen, bis sich die Lage entspanne.

Laura wachte auf, als Anabelle mit Bruno von der morgendlichen Gassirunde kam. Erstaunt schaute sie sich in dem ihr nicht völlig fremden Zimmer um. Sie kletterte aus dem Bett und lugte durch den Türspalt. „Bruno!“, entfuhr es ihr in höchster Freude.

„Wuff!“ Der Vierbeiner wartete, bis ihm Anabelle die regennassen Pfoten und das Fell abgetrocknet hatte, dann beeilte er sich, Laura mit einem Nasenstupser mitten ins Gesicht zu begrüßen.

„Ist Papa auch hier?“, fragte Laura.

Anabelle schüttelte den Kopf. „Er musste wieder nach Hause, weil er viel Arbeit hat.“

„Hmm, ich weiß“, erwiderte Laura sehr ernst. „Darf ich heute hierbleiben?“

„Du bleibst bei uns, bis dich dein Papa irgendwann wieder abholt“, sprudelte Luca heraus, der soeben ins Bad flitzte, um sich tagfein zu machen. Er war gerade in die erste Klasse gekommen und Pünktlichkeitsfanatiker.

„Das muss er von der Mutter geerbt haben“, grinste Adriano stets, die sprichwörtliche deutsche Pünktlichkeit hervorhebend.

Anabelle drehte ihm dann hin und wieder eine lange Nase, wenn es Luca nicht sehen konnte, worüber beide grinsen mussten.

„Die eiserne Lerndisziplin scheint er aber von beiden zu haben“, staunten dann Claudia und Gepetto stets, deren drei Kinder lieber den ganzen Tag mit Hund Benny, Brunos Bruder, herumtrödeln würden. Wobei auch keines der drei gesteigertes Interesse an der Arbeit in der Spedition der Eltern zeigte.

Luca hingegen brannte für alles, was irgendwie mit Naturwissenschaften zu tun hatte und die Mancini nahmen es sehr ernst, wenn er kundtat, auch ein berühmter Arzt, wie sein Papa, werden zu wollen.

„Berühmt?“, hatte Adriano beim ersten Mal irritiert gefragt.

„Ja, berühmt“, gab Luca fest überzeugt zurück. „Immer wenn die Eltern meiner Schulkameraden Schmerzen im Rücken oder den Beinen haben, sagen sie: Ich muss mal zu Doktor Mancini gehen. Und einer hat erzählt, dass sogar in der Zeitung gestanden hat, dass du supergut bist.“

„Er hat recht, das stand tatsächlich in der Zeitung“, bestätigte Anabelle ihrem Sohn, Adriano verschmitzt zublinzelnd.

Beim gemeinsamen Frühstück strahlten Lauras Augen, dass niemand schimpfte, weil ein Krümel herunterfiel. Anabelle sagte schmunzelnd zu ihr: „Wir beide kehren dann ganz einfach auf, was Bruno liegenlässt.“

Das war am Ende nichts und Laura kraulte den großen Hund hoch erfreut. Zu Hause hätte Mama ganz furchtbar gezetert und Papa sofort Kehrblech und Besen holen müssen. Hier blieben alle völlig entspannt sitzen, Bruno spielte Staubsauger und am Ende trugen alle gemeinsam Geschirr und Besteck in die Küche. Tante Anabelle räumte den Spüler ein, verabschiedete mit Onkel Adriano Luca und dann bereiteten sie sich auf ihre Arbeit vor.

„Du kommst mit in mein Büro“, versprach Anabelle Laura, wobei sie einen großen Beutel Spielzeug und Malstifte einpackte.

Adriano holte Lucas alten kleinen Tisch mit Stühlchen aus der Bodenkammer. „Damit du richtig sitzen kannst“, blinzelte er Laura zu.

Laura beschäftigte sich still mit all den schönen Sachen, freute sich, wenn die Patienten auch ihr einen guten Tag wünschten, und meldete sich nur, als sie auf die Toilette musste. Anabelle hatte ihr einen Teller mit Obststücken und einen Becher Saft auf den Tisch gestellt, woran sich Laura nach Herzenslust bedienen durfte, wie es auch immer Luca gemacht hatte.

In der Mittagspause kam Renato, um eine große Tasche Kleidung zu übergeben, und weil er keine Ruhe hatte, ohne zu wissen, ob alles reibungslos lief.

„Setz dich!“, bat Anabelle. „In wenigen Augenblicken wird das Essen gebracht. Du bist fest im Plan. Luca wird ebenfalls gleich aufkreuzen.“

Laura lachte fröhlich, weil Papa völlig verdattert schaute.

„Warst du schön brav?“, fragte er sie.

„Ja. Und alle sind ganz lieb zu mir“, fügte sie im Brustton der Überzeugung hinzu.

„Wirst du dann fein Mittagsschlaf halten?“, wollte er wissen.

Laura nickte. „Bruno passt da auf mich auf und Luca.“

Renato schmunzelte über so viel Enthusiasmus. Seine Kleine genoss Liebe und Ruhe, die sie hier umgaben. „Ich komme heute Abend noch mal vorbei“, versprach er. „Bis dahin habe ich bestimmt einige Grundsätze des Gesamtproblems geklärt.“ Er brachte Laura zum Mittagsschlummer ins Bett.

Eine viertel Stunde später war sie ganz fest eingeschlafen. Die Tür war offengeblieben, Laura wusste, dass Bruno immer wieder hereinschauen werde und dass Luca seine Zimmertür auch nicht schloss. Er hatte seine beiden Räume genau gegenüber und werde ganz sicher sofort kommen, wenn sie Hilfe bräuchte.

Sie mochte Luca am liebsten von allen Kindern des Freundeskreises ihrer Eltern. Nicht nur, weil er der Jüngste, nach ihr war. Wenn er auf den Treffen mit allen Freunden versprochen hatte, mit ihr zu spielen, dann machte er das, egal welch tolle Sachen die Größeren gerade ausheckten. Er baute für sie im Sandkasten Burgen, steckte ihr heimlich Schokolade zu, damit ihre Mama nicht schimpfte, weil man sich vielleicht beschmieren konnte. Er hatte einmal sogar einen Fleck aus ihrem T-Shirt geschrubbt, damit Tante Bianca nicht schon wieder böse auf Laura war. Gepetto und Claudia hatten es gesehen und achtungsvolle Blicke miteinander gewechselt.

„Er scheint zu spüren, dass es Laura mit ihrer Mama schwer hat“, seufzte Gepetto, als er mit Adriano die Abendrunde mit den Hunden ging.

„Nicht nur das! Er hat schon gefragt, warum Bianca die Kleine ständig wegen fast nichts anraunzt und immer so grimmig guckt“, verriet Adriano.

Also wunderte sich Gepetto, von klein auf Adrianos allerbester Freund, nicht, als dieser ihm auf der heutigen Runde kundtat, dass Laura vorerst bei ihnen wohne. „Das hat Renato richtig gemacht“, lobte er kurz. „Und auch, dass er Bianca nicht geheiratet hat“, fügte er im nächsten Augenblick hinzu.

Adriano wusste, dass Renato Bianca auf einer Ausstellung exotischer Pflanzen kennengelernt hatte. Beide begeisterten sich für dasselbe Hobby. So hatte Renato Bianca zu sich eingeladen, um ihr seinen Wintergarten und die beiden Gewächshäuser zu zeigen. Mit der Zeit war mehr daraus geworden, ohne die ganz große Liebe zu sein. Kinder hatten nie auf dem Plan gestanden, eben weil Bianca psychische Probleme hatte. Laura war praktisch ein, eigentlich nicht möglicher, Verkehrsunfall gewesen. Und so wurde sie von ihrer Mutter behandelt.

Papa Renato kümmerte sich hingegen in jeder freien Minute um sein Töchterchen, das er innig liebte. Er hatte sogar vorgeschlagen, ein Kindermädchen einzustellen. Nur wehrte sich Bianca gegen dieses Ansinnen vehement, weil eine fremde Person noch mehr Schmutz ins Haus bringen und Unordnung stiften werde. Die Mancini waren zu guter Letzt Renatos einzige Hoffnung.

Und er kam mit interessanten Neuigkeiten zum gemeinsamen Abendessen. „Ich habe Bianca erklärt, ihr das Sorgerecht entziehen zu lassen. Sie hat regelrecht erfreut darauf reagiert. Jetzt werde ich ihr eine Wohnung kaufen und dann ganz dicke Schlussstriche ziehen.“

„Mach dir für danach keinen Kopf“, riet Adriano. „Laura bleibt tagsüber hier, bis sie in die Schule geht. Dann ist sie alt genug, bei dir zu Hause zurechtzukommen, wenn du unten in der Kanzlei arbeitest.“

„Nachmittags sind Luca, Bruno und Gepettos Mario für sie da, der ja auch mehr bei uns als zu Hause ist“, lachte Anabelle. „Auf die drei kann man sich felsenfest verlassen.“

Beim nächsten Treffen der Freunde auf dem Anwesen von Zahnarzt Giovanni und Frau Angelina waren die Veränderungen sofort offensichtlich, denn Renato kam allein, Adrianos Familie brachte Laura mit. Das Warum musste nicht diskutiert werden, aber alle freuten sich, wie Laura in den wenigen Tagen aufgelebt war. Selbst hier, wo so viele Erwachsene auf Laura aufpassen konnten, schaute Luca immer wieder nach, ob sie sich auch nicht langweile.

„Ein Bild tiefster Verehrung, wie sie ihn anlächelt“, schmunzelte Vincenzo.

Die stolzen Väter grinsten vergnügt.

„Wirst du dir jetzt einen Hund anschaffen, wie du es dir immer gewünscht hast?“, fragte Marco Renato.

„Nein. Ich denke nicht. Ich verwöhne lieber weiter Bruno mit Leckerli“, antwortete Renato nach kurzem Nachdenken.

„Du hast nur keine Lust, bei Wind und Wetter Gassi zu gehen!“, stichelte Antonio.

„Musst du alles ausplaudern!“, rief Renato in gespielt komischer Verzweiflung, worauf die Freunde herzlich lachten. „Zudem vergleicht Laura jetzt immer alle Hunde mit Bruno – da kommt wohl keiner gleich gut weg. Sie wäre sicher enttäuscht. Da soll sie lieber ihn als besten Spielgefährten auf vier Pfoten in Erinnerung behalten. Sie ist doch völlig hin und weg, wenn sie ihn an der Leine führen darf.“

„Das kann ich bestätigen“, warf Claudia ein. „Mir sind bald die Augen rausgefallen, als sie mir zum ersten Mal mit Bruno an der Etsch entgegenkam. Anabelle lacht sicher heute noch deswegen. Wenn Laura am anderen Ende der Leine hängt, nimmt Bruno keinerlei Spielofferten von Benny an. Er weiß vermutlich genau, was passiert, wenn er losspurten würde.“